Blutfährte - Thriller

von: Silvia Stolzenburg

Gmeiner-Verlag, 2017

ISBN: 9783839253748 , 343 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 10,99 EUR

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Blutfährte - Thriller


 

Kapitel 1


Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, 19. Mai 2016

Es war eine dieser Nächte, in denen es Sanitätshauptfeldwebel Tim Baumann schwerfiel, nicht im Dienst einzuschlafen. Seit Stunden kämpfte er mit Kaffee gegen die Müdigkeit an und schwor sich, das nächste Mal deutlichere Worte für seine übergewichtige Nachbarin zu finden. Stundenlang war ihr verzogener Sohnemann wieder mit seinem verdammten Bobby Car vor Tims Schlafzimmerfenster auf und ab geholpert und hatte aus vollem Hals »Wiuwiuwiuwiu« gebrüllt. Einerseits war es bemerkenswert, was für eine Ausdauer der Dreikäsehoch an den Tag legte, andererseits machte das Geschrei Tim immer aggressiver, weil es ihm den Schlaf raubte.

»Ist doch nicht mein Problem, dass Sie nachts arbeiten«, hatte die dicke Mutti beim letzten Mal patzig erwidert, als er sie gebeten hatte, mit dem Bengel auf den Spielplatz zu gehen. »Sie sind wohl auch so ein Kinderfeind?«

Eigentlich war er das nicht, dachte Tim, als er sich im Pausenraum gegenüber des Schockraums einen weiteren Kaffee eingoss. Aber wenn der kleine Hosenscheißer nicht bald etwas anderes fand, mit dem er sich beschäftigen konnte, würde Tim ihm den Hals umdrehen! Er ließ sich auf einen der grauen Stühle fallen und stützte die Ellenbogen auf die gelbe Plastiktischdecke mit der Aufschrift »Break«. Irgendein guter Geist hatte eine Dose Haribo Schlümpfe, eine Prinzenrolle und einen Teller voller Äpfel auf den Tisch gestellt. Allerdings war Tim im Moment eher nach etwas Herzhaftem. Daher schob er sich einen Fünf-Minuten-Terrine Gulaschtopf in die Mikrowelle und löffelte wenig später die dampfende Suppe in sich hinein. Seine beiden Kollegen und der diensthabende Oberfeldarzt waren in dessen Büro verschwunden – vermutlich, um noch einmal kurz über den Patienten zu reden, der vor einigen Stunden eingeliefert worden war. Ein Autounfall. Tim fluchte, als er sich an der heißen Suppe den Gaumen verbrannte. Während er hastig einen Schluck Mineralwasser nahm, wanderte sein Blick zum nebenan gelegenen Schockraum. Nichts erinnerte mehr an das Chaos, das dort kurz nach der Einlieferung geherrscht hatte. Zusammen mit den beiden Chirurgen, dem Anästhesisten, dem Radiologen und einem Röntgenassistenten hatten sie den Verunfallten nach dem ATLS – dem Advanced Trauma Life Support – versorgt. Tim fragte sich, ob der Junge sein Bein behalten würde. Es hatte übel ausgesehen, und die Blicke zwischen dem Oberfeldarzt und einem der Chirurgen hatten Bände gesprochen. Aber das war nicht sein Problem. Er schob den Gedanken beiseite und pustete in seine Gulaschsuppe. Hätte der Junge besser aufgepasst, wäre er sicher nicht mit überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen. Er starrte aus dem Fenster, vor dem sich tagsüber die Bagger durch den Dreck wühlten. Allerdings blickte ihm, dank der Dunkelheit, nur sein eigenes Spiegelbild entgegen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, die in alle Himmelsrichtungen abstanden. Dann schielte er auf seine Uhr. Kurz nach drei. Er unterdrückte ein Stöhnen. Ob die Nacht jemals zu Ende gehen würde? Nachdem er seine Suppe ausgelöffelt hatte, spülte er den Plastikbehälter aus und warf ihn in den gelben Sack. Dann griff er nach einer Autozeitschrift und blätterte lustlos darin herum.

»Baumann, kommen Sie mal in mein Büro«, riss ihn eine halbe Stunde später die Stimme des diensthabenden Arztes aus der dösenden Betrachtung eines Sportwagens.

Bevor Tim etwas erwidern konnte, war sein Chef schon wieder verschwunden, weshalb er ihm zum Bereitschaftsraum hinterher trottete. Von seinen beiden Kollegen war weit und breit keine Spur mehr zu entdecken.

»Kommen Sie schon«, sagte der Notarzt schroff. Er saß auf einem Drehstuhl an seinem grünen Schreibtisch und sah einen Stapel Akten durch. Irgendwie wirkte er angespannt – etwas, das Tim in letzter Zeit schon öfter aufgefallen war. »Der Autounfall von vorhin ist auf die Intensivstation verlegt worden«, informierte er Tim. »Bringen Sie ihm die Patiententüte hoch.«

Tim nickte. Wenn es weiter nichts war. »Wie geht es ihm?«, fragte er.

»Wird durchkommen«, brummte der Oberfeldarzt.

»Sonst noch was?«, erkundigte sich Tim.

Sein Chef schüttelte den Kopf. Er schien mit den Gedanken bereits wieder woanders zu sein, da er nervös aus dem Fenster sah und mit dem Telefon auf seinem Schreibtisch spielte.

Tim zuckte die Achseln, kehrte dem Raum den Rücken und holte die persönlichen Gegenstände des Patienten aus dem Schockraum. Vieles davon war blutig und würde nicht mehr zu gebrauchen sein. Aber oft spendete der Anblick der vertrauten Sachen den Verletzten wenigstens ein bisschen Trost, wenn sie aus der Narkose aufwachten und begriffen, was passiert war. Er versicherte sich, dass sie nichts vergessen hatten, ehe er sich auf den Weg zum Personaleingang machte. Die langen Gänge mit dem grauen PVC-Boden waren vollkommen verwaist. Wie immer war es – nach Tims Ansicht – viel zu warm, weshalb er froh war, als er den kühleren Bereich außerhalb der Notaufnahme erreichte. Er wandte sich nach rechts, wo sich neben der »Anmeldung Kardiologie« der schwarze Würfel befand, in dem die Lifte untergebracht waren. Zusammen mit einem grantigen Opa im Morgenmantel, der seinen Tropf neben sich herschob, fuhr er in den zweiten Stock hinauf zur Intensivstation. Dort erledigte er seinen Auftrag und machte sich etwa zehn Minuten später wieder auf den Weg nach unten. Da der Zutritt zur Notaufnahme nur Befugten gestattet war, benötigte Tim beim Personaleingang seinen Transponder, um die Tür zu bedienen, die sich mit einem Summen öffnete. Augenblicklich spürte er, dass etwas anders war als vorhin. Ein merkwürdiger Geruch lag in der Luft, und auf dem Weg zurück zum Pausenraum wäre er um ein Haar mit seinen beiden Kollegen zusammengestoßen. Diese schoben eine Bahre mit einem bewegungslosen zugedeckten Körper darauf und schienen zu erschrecken, als sie Tim sahen.

»Was ist denn hier los?«, fragte er verdutzt. Sein Blick wanderte von der Bahre zu den beiden Pflegern und zurück. »Wo kommt der denn her?« Er war doch kaum zehn Minuten fort gewesen!

Einen Augenblick lang herrschte angespanntes Schweigen. Dann antwortete der Mann am Kopfende der Trage knapp: »Der kam rein, als du oben warst.« Er hob bedauernd die Schultern. »War nichts mehr zu machen.«

Tim wollte etwas erwidern, doch die beiden drängten sich hastig an ihm vorbei.

»Er muss in die Pathologie«, sagte der Pfleger am Fußende der Bahre überflüssigerweise. »Du weißt ja, wie es ist …« Sein Lächeln war eher steif als entschuldigend.

Tim öffnete den Mund, um ihnen eine Frage hinterherzuschicken, aber sie hatten es mehr als eilig. »Seltsam«, murmelte er und lehnte sich mit dem Rücken an die kühle Wand, während er ihnen nachblickte. Wurde er langsam paranoid? Oder waren es wirklich zu viele Zufälle in letzter Zeit? Dieser Vorfall war bereits der dritte innerhalb der vergangenen zwei Monate, und allmählich kam ihm die Sache spanisch vor. Konnte es tatsächlich höhere Gewalt sein, dass ausgerechnet er drei Mal abwesend war, wenn Unfallpatienten eingeliefert wurden, die bereits im Rettungswagen verstorben waren? Und war es nicht merkwürdig, dass ihn sein Chef jedes Mal fortgeschickt hatte, um etwas ins Labor oder auf die Intensivstation zu bringen? Er rieb sich das Kinn. Allmählich fragte er sich, ob er zu viele schlechte Filme sah, oder ob der unbestimmte Verdacht, der sich irgendwo tief in ihm einnisten wollte, berechtigt war.

Während er vor sich hin grübelte, stürmte plötzlich der Arzt an ihm vorbei, einige Papiere in der Hand, die Wangen hektisch gerötet. Als er Tim sah, trat ein beinahe feindseliger Ausdruck in seinen Blick. »Halten Sie hier die Stellung«, befahl er barsch. »Ich bin in der Pathologie.« Kein überflüssiges Wort, keine weitere Erklärung.

Tim nickte, aber sein Chef war bereits weitergehastet. »Sicher«, murmelte er. »Zu Befehl.« Er kniff die Augen zusammen, wartete, bis er eine Tür ins Schloss fallen hörte, und fasste einen Entschluss. Was auch immer hier faul war, er würde es herausfinden! Nachdem er kurz in die Stille gelauscht hatte, bog er in einen Korridor ein, passierte den Noteingriffsraum, die Notfallkabinen und den Funkraum und betrat wenig später das Bereitschaftszimmer seines Chefs. Auf dem Schreibtisch lagen mehrere Akten übereinander. Aus einer davon lugte ein Leichenschauschein. Tim schlug den Aktendeckel auf und überflog den Schein. »Todesart: natürlich«, las er. Außerdem fand sich ein Vermerk in dem Dienstbuch, dass kein anderer Arzt zum Schockraum hinzugezogen worden war, weil der Patient bei Ankunft angeblich bereits verstorben war. Tim spürte ein Prickeln über seine Kopfhaut kriechen. Sein Verdacht verstärkte sich. Konnte es wirklich sein, dass er sich so in seinen Kollegen und seinem Vorgesetzten getäuscht hatte? War es möglich, dass ausgerechnet in seiner Schicht so etwas passierte? Bevor er darüber nachdenken konnte, was für Folgen sein Tun haben würde, schnappte er sich die Akte und lief damit in den Computerraum. Dort befand sich auch ein Kopierer. Mit zitternden Händen schob er den Stapel Papier in den automatischen Einzug. »Mach schon, mach schon, mach schon«, drängte er. In dem kleinen Kabuff schien es immer heißer zu werden. Als der Kopierer endlich die letzte Seite ausspuckte, stopfte er die Papiere in seinen Hosenbund und verstaute die Originale wieder zwischen den Aktendeckeln. Dann flitzte er zurück zum Büro seines Chefs. Doch bevor er es betreten und das Dienstbuch zurück auf den Schreibtisch legen konnte, bogen der Arzt und die beiden...