Stefano - Shadows Band 1 - Roman

von: Christine Feehan

Heyne, 2017

ISBN: 9783641204914 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Stefano - Shadows Band 1 - Roman


 

1

Stefano Ferraro streifte seine Autofahrerhandschuhe aus weichem Leder über und sah sich mit seinen dunkelblauen Augen gründlich im Viertel um. Sein Viertel. Seine Familie wusste über alles Bescheid, was hier vor sich ging. Es war eine gute Wohngegend, die Menschen hier waren loyal und bildeten eine enge Gemeinschaft. Sie waren hier sicher, weil seine Familie für diese Sicherheit sorgte. Frauen konnten abends allein auf die Straße gehen, und Kinder konnten draußen spielen, ohne dass sich ihre Eltern Sorgen machen mussten.

Stefano kannte hier jeden Ladenbesitzer und jeden Anwohner persönlich mit Namen. Das Territorium der Familie Ferraro begann gleich hinter der Grenze von Little Italy. Auch Little Italy kannte er wie seine Westentasche, und alle Menschen, die dort wohnten und arbeiteten, kannten ihn und seine Familie. Am Rand des Ferraro-Gebiets hörten sämtliche Straftaten auf. Selbst die hartgesottensten Verbrecher kannten diese unsichtbare Grenze, und keiner wagte es, sie zu übertreten, denn die Vergeltung folgte stets schnell und brutal.

Er sah auf die Uhr; er hatte nicht mehr viel Zeit. Der Jet war aufgetankt und wartete auf ihn. Er musste in seinen Wagen steigen und verdammt fix am Flughafen sein, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Was es auch war, es war beunruhigend. Ein starker Drang hierzubleiben. Jeder Ferraro wusste, dass eine solche Vorahnung Ärger bedeutete. Vorsichtig und sehr leise schloss er die Tür zu seinem Maserati, ging um die Motorhaube herum und trat auf den Gehweg.

Diese Art von Vorahnung betraf immer seine Arbeit, und den Geschäften der Ferraros durfte nichts in die Quere kommen. Absolut nichts. In der Freizeit konnte er schon mal wilde Partys feiern, aber seine Arbeit war wichtig und gefährlich, und sobald es ums Geschäft ging, war er mit Haut und Haaren dabei. Er musste seinen Hintern in Bewegung setzen und zum Flughafen fahren, doch trotz seiner jahrelangen Disziplin konnte er sich nicht dazu überwinden. Der innere Drang war so stark, dass ihm keine andere Wahl blieb, als ihm nachzugeben.

Über die üblichen Straßengeräusche hinweg drang eine Stimme an sein Ohr. Flüchtig. Geheimnisvoll. Melodisch. Als er den Kopf wandte, bogen am Rande seines Territoriums zwei Frauen um die Ecke und liefen in seine Richtung. Joanna Masci erkannte er sofort. Ihr Onkel, Pietro Masci, wohnte schon seit vielen Jahren im Ferraro-Gebiet, er war hier geboren und aufgewachsen. Ihm gehörte der Feinkostladen im Viertel, bei dem viele der Einheimischen ihr Obst, Gemüse und Fleisch kauften. Ein guter Mann. Jeder mochte und respektierte Pietro, der Joanna nach dem Tod seines Bruders bei sich aufgenommen hatte.

Doch es war nicht Joanna, die sein Interesse weckte. Die Frau neben ihr war für dieses Wetter völlig unangemessen gekleidet. Ohne Mantel, ohne Pullover. Die Jeans, die sich reizend an ihre Figur schmiegte, war zerrissen. Aber was für eine Figur! Sie war nicht so dünn, wie es die meisten Mädchen bevorzugten, sondern hatte richtige Kurven. Ihre Haare waren wild und dicht und glänzend. Einen Teil davon trug sie zu einem dicken, komplizierten Zopf geflochten, aber der Rest fiel ihr in offenen Wellen auf den Rücken. Ein sattes, glänzendes Tiefschwarz. Ihre Augen konnte er aus der Entfernung nicht sehen, aber sie zitterte bei den niedrigen Temperaturen hier in Chicago, und aus irgendeinem Grund packte ihn wegen dieses Zitterns eine zutiefst primitive Reaktion. Seine Eingeweide zogen sich zusammen, und in seinem Bauch erwachte schwelender Zorn.

Es war nicht ihr Aussehen, das sein Interesse fesselte und ihn regungslos stehen bleiben ließ, sondern ihr Schatten. Die Sonne stand perfekt für volle, lange Schatten, und aus dem der Frau flossen lange, dünne Tentakel. Als wollten sie nach den anderen Schatten in ihrer Umgebung greifen. Wo immer ein Schatten war, suchte ihrer mit langen Fühlern – oder Tunneln – eine Verbindung zu ihm. Ihm stockte der Atem. Seine Lunge versagte ihm den Dienst.

Sie war das Letze, womit er je gerechnet hatte, weil … Frauen wie sie einfach so selten waren. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, aber plötzlich gab es nichts mehr, das wichtiger gewesen wäre, nicht mal die Geschäfte der Ferraros.

Er nahm sein Handy und wählte, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. »Franco, ich brauche heute Morgen den Heli. Hab hier noch was zu erledigen, bevor ich wegkann. Halbe Stunde. Ja. Bis dann.« Ohne die beiden Frauen und den seltsamen Schatten der Fremden aus den Augen zu lassen, legte er auf und wählte die nächste Nummer. »Henry, ich brauche den Wagen doch nicht. Fahr ihn bitte wieder in die Garage.« Die Ferraros besaßen eine temperierte Garage mit einem Fuhrpark aus zahlreichen Autos und Motorrädern. Sie alle liebten die Geschwindigkeit. Henry kümmerte sich um die Fahrzeuge und sorgte dafür, dass sie immer einsatzbereit und in Topzustand waren.

Stefano klappte das Handy zu und ging auf die andere Straßenseite. Gebieterisch hob er die Hand, und natürlich hielten die Autos für ihn an. Alles hielt an, wenn er es verlangte.

Francesca Capello betete darum, nicht in Ohnmacht zu fallen, während sie mit Joanna auf dem Weg zum Feinkostladen war. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so schwach gefühlt. Sie hatte Hunger. Zuletzt hatte sie sich aus Ketchup und Wasser eine Tomatensuppe gemacht, aber mehr hatte sie in den vergangenen zwei Tagen nicht gegessen. Wenn sie diesen Job nicht bekam, war sie zu einer Verzweiflungstat gezwungen – zum Beispiel, die obdachlose Frau, der sie ihren Mantel geschenkt hatte, nach der nächsten Suppenküche zu fragen.

Vielleicht war es doch keine so tolle Idee gewesen, den Mantel wegzugeben. Ihre Kleidung war nicht gerade ideal für ein Vorstellungsgespräch, aber es war alles, was sie hatte. Sie brauchte den Job, sah in ihrer verwaschenen, sehr weichen Vintage-Jeans allerdings nicht gerade professionell aus, auch wenn die Hose perfekt saß, was im Secondhandladen schwer zu finden war. Sie hatte Löcher an den Knien und noch ein kleines am Oberschenkel, aber auch einige moderne Designerjeans hatten solche Risse. Nur kamen sie bei ihr eben wirklich vom Tragen.

»Wow, das Deli ist ja brechend voll«, bemerkte Joanna, als sie vor der Glastür stehen blieb. Sie riss die Tür auf und schob Francesca in den Laden.

Francesca glaubte, von den vielen Essensgerüchen ohnmächtig zu werden. Sie presste die Hand auf ihren laut knurrenden Magen. In mehreren Reihen standen die Kunden vor der Theke, die kleinen Tische waren alle belegt.

»Gut besucht«, sagte sie, denn irgendetwas musste sie schließlich sagen. Die meiste Zeit hatte sie Joanna das Reden überlassen, weil … na ja, weil sie einfach nicht sprechen konnte. Nach allem, was Joanna für sie getan hatte, würde Francesca nicht vor den Augen ihrer Freundin in Tränen ausbrechen.

»Hab ich dir doch gesagt.« Joanna ließ ein Lächeln aufblitzen, fasste ihre Freundin am Arm und zog sie durch die Menge zum Fenster am anderen Ende des Raums. »Hier können wir warten, bis Zio Pietro ein paar Minuten Zeit hat.«

Francesca hatte nicht den Eindruck, dass das in absehbarer Zeit der Fall sein würde. In ihrer Nase vermischten sich die vielen Gerüche miteinander, und ihr wurde übel. Hoffentlich würde sie sich nicht mitten im Deli übergeben müssen. Dann würde sie den Job wohl kaum kriegen. Aber ihr Magen war so leer.

Während sie darauf wartete, dass Joannas Onkel etwas Zeit für das Vorstellungsgespräch erübrigen konnte, hielt sie die Luft an, bis ihre Lunge brannte. Joanna hatte ihr den Job versprochen. Ihr Geld – das sie sich von Joanna geliehen hatte – war fast bis auf den letzten Cent dafür draufgegangen, nach Chicago zu kommen und das winzige Apartment am Rand von Little Italy zu mieten. Für Essen oder Kleidung war nichts mehr übrig. Sie musste diesen Job bekommen. Wenn sie sehr, sehr sparsam war, würde sie noch eine Woche durchhalten, aber viel länger nicht mehr. Sie würde auf der Straße leben, zusammen mit Dina, der obdachlosen Frau. Das hatte sie schon mal gemacht, und es war kein Vergnügen gewesen. Insgeheim war sie sich nicht hundertprozentig sicher, ob ihr Apartment wirklich besser war als die Straße, aber wenigstens hatte es ein Dach.

So sehr sie sich auch bemühte, Francesca konnte einfach nicht aufhören zu zittern. Die beißende Kälte drang ihr bis in die Knochen. Dass nach dem großen Unwetter alles voller Pfützen war, denen sie unmöglich hatte ausweichen können, und ihre Schuhe und Strümpfe triefnass waren, machte es auch nicht besser. Durch die dünnen Sohlen war das Wasser leicht in die Schuhe eingedrungen, und jetzt waren zu allem Überfluss ihre Zehen taub gefroren.

Trotzdem war hier der perfekte Ort für sie, wenn sie den Job bekam. Es war ein kleines Viertel, alles war zu Fuß erreichbar. Ein Auto oder einen anderen fahrbaren Untersatz besaß sie nicht. Sie fing ganz neu an und musste wie Phönix aus der Asche auferstehen, aber wenn sich Pietro nicht beeilte, würde sie bald einfach umfallen.

Hätte sie nicht so dringend Wärme und etwas zu essen gebraucht, hätte sie sich darüber gefreut, dass dieser Feinkost- und Sandwichladen so beliebt war. Es war nicht zu übersehen, dass Pietro eine Aushilfe brauchte. Mit einer Registrierkasse konnte sie umgehen, kein Problem. Sandwiches machen konnte sie auch. Sie hatte sich das College mit der Arbeit in einem solchen Deli finanziert und war sicher, dass das hier ein Kinderspiel werden würde.

Die Tür ging auf, ein Schwall kalter Luft wehte in den Laden, und Francesca fror noch mehr. Sie wandte den Kopf und erstarrte. Noch nie hatte sie einen attraktiveren oder...