Hier treffen sich fünf Flüsse - Roman

von: Barney Norris

DUMONT Buchverlag, 2017

ISBN: 9783832189457 , 360 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Hier treffen sich fünf Flüsse - Roman


 

Ein Turm
wie ein brennender Pfeil

Lange bevor der im Tal vor sich hinplätschernde Ärmelkanal anschwoll und aus England eine Insel machte, bevor die ersten Siedler eintrafen und begannen das umliegende Land in Besitz zu nehmen, von Höhenweg zu Berg zu Hügel Baumstämme verlegten, um Pfade in die Sumpflandschaft zu schlagen, ereignete sich im grünen Süden Wiltshires etwas höchst Merkwürdiges. Durch eine listige Eigenart des Geländes fanden die Flüsse, die heute unter den Namen Wylye, Ebble, Nadder und Bourne bekannt sind und durch ebendiesen Landstrich flossen, alle ihren Weg durch denselben Abschnitt des zur Überflutung neigenden Gebiets in den Avon, fielen aufgrund des hinterhältigen Gefälles jener Auen übereinander her, die sich heute Abend vor mir erstrecken. Es trafen sich also fünf Flüsse in einem bewaldeten Flachland, und unter der Last der Wassermassen passierte etwas absolut Außergewöhnliches. Die Welt schreckte auf, von diesem Zusammenfluss der Wasserläufe tief erschüttert, erhob die Stimme und entließ helle Töne in den blauen Himmel. Ein mächtiger Akkord erklang tief im Herzen Englands, und durch die Wasseroberfläche brach sich ein Gefühl Bahn wie ein Lichtstrahl, der Wolken durchstößt. Die Erde war erwacht und lebendig und staunte angesichts all der Sinneswahrnehmungen, die sie überkamen.

Jahrhunderte vergingen und die Menschen entdeckten dieses Wunder im grünen Süden der Insel, entweder wenn sie zufällig vorbeikamen oder durch den Klang angezogen wurden; diesen einmaligen Zusammenfluss von Wassern, der den Gesang der Erde erklingen ließ. Jedenfalls kamen die Menschen und es ist belegt, dass sie ihn vernahmen. Ein ums andere Mal versuchten sie, ihn zu beschreiben und ihm eine Gestalt zu geben.

Der erste Versuch war Woodhenge. Man kann es noch immer besichtigen. Dort sind die Überreste eines hölzernen Kreises zu sehen, den jemand inmitten einer Lichtung ausgelegt hat, dem Ruf folgend, seinem Bedürfnis nach Anbetung nachgebend. Der Ort ist von Bäumen und Hügeln umgeben. Steinkreise kreuzen den aus Holz. Es gibt eine Teestube für Besucher. Die Nachkommen der frühen Siedler zogen in den nächsten Jahrtausenden weiter, sie wollten dem Gefühl, das die Landschaft in ihnen auslöste, einen dauerhafteren Ausdruck verleihen, als das mit Holz möglich war.

Als Nächstes bauten sie Stonehenge, einige Kilometer weiter südlich. Ein Monument von ägyptischen Proportionen. Riesige Felsbrocken, aus den Tiefen der walisischen Hügel herausgebrochen und bei Dauerregen durchs halbe Land herangeschleppt, um dann opak im Nirgendwo zu stehen, einsam wie die Osterinsel, gestrandet auf dem weichen grünen Brötchen von einem Hügel. Alle Welt fragt sich, wozu es wohl genutzt wurde. Das Mysteriöse muss Teil des Konzepts von Stonehenge gewesen sein. Die Krux bei Stein ist ja, dass man nicht zum Kern vordringen kann. Er starrt einfach vor sich hin, während sein Geheimnis unangetastet und unantastbar bleibt. Dieses Steingebilde rief Millionen von wie zufällig miteinander verbundenen Geschichten ins Leben, die heute rund um den Ort noch immer aus dem Boden sprudeln. Es ließ ein ganzes Universum an Fantasien, freien Assoziationen und Ritualen entstehen. Aber die Geschichten und Sonnenwendfeiern, die Teil des Stonehenge-Mythos sind, sind lediglich Partikel des großen Gesamtphänomens. Nurmehr neue Liedverse jenes Gesangs, der in den Flüssen geboren wurde, stets neue Wege sucht und sich schließlich ganz anders materialisiert, jetzt vielleicht in Geschichten seinen Ausdruck findet, sich aber noch immer wie ein Fluss verhält, den Weg des geringsten Widerstands verfolgt und so schließlich in aller Munde landet.

Die nächste steinerne Wiederkehr des Gesangs war eine Kathedrale, erbaut in der Mitte einer auf einem Hügel gelegenen Festungsanlage. Die Männer und Frauen, die Stonehenge gehuldigt hatten, waren längst verblichen, als dieses Bauwerk ein paar Kilometer weiter südlich errichtet wurde. Jemand anders musste den Flüssen gelauscht und begriffen haben, dass hier ein Leben zu leben war, und hatte den Grundstein gelegt. Old Sarum, die erste Stadt, die hier aus diesem Impuls heraus errichtet wurde, war eine Garnisonsfestung, deren Mauern eine Gruppe von Männern einschlossen sowie die Betten, in denen sie schliefen, die Feuer, die sie am Leben hielten, und die Kathedrale in der Mitte. Wie bereits zuvor, war es auch hier die Andachtsstätte, die dem Gesang in der Luft und dem konsonanten menschlichen Verlangen, den Blick emporzurichten, sich in größere Zusammenhänge hineinzuimaginieren, die Unermesslichkeit der Welt um sich herum sowie die in der Natur verborgenen Konzepte zu erkennen, die treffendste Gestalt verlieh. Daher organisierte sich diese noch neue Gesellschaft mit den ihr eigenen Konflikten auch rund um diesen hochaufragenden Turm herum.

Die erste Kathedrale stürzte ein und wurde durch eine zweite ersetzt, die aus einem Großteil der alten Steine am selben Ort errichtet wurde. Aber Klerus und Militär passen im Allgemeinen nicht recht zusammen, und so dauerte es nicht lange, bis die Kirche sich mit den Soldaten entzweite. Die Spannungen wuchsen, das Zusammenleben auf dem Hügel wurde untragbar, und also entschieden, die Kirche solle umziehen. Und an diesem Punkt erreicht die Abfolge von Strophe auf Strophe, die ich beschrieben habe, ihren Gipfel in der Schlusszeile. Das Ausschlagen von Spross um Spross entlang dieser Ranke in jedem Frühling, das Annehmen immer neuer Gestalt, so wie Kohle sich beim Brennen permanent verändert – dass also Woodhenge, Stonehenge und die Kathedralen von Old Sarum versucht hatten, der Musik der Landschaft eine Gestalt zu geben –, führt uns nun zum Höhepunkt unserer Geschichte, wo die Kathedrale von Salisbury aus den Myriaden verworfener Entwürfe auftaucht und als die beste Versinnbildlichung der sie umgebenden Welt schließlich in die Höhe schießt.

Die Protokolle, die das Treffen dokumentierten, bei dem die Entscheidung gefällt wurde, die Kathedrale zu versetzen, sind verloren, aber irgendjemand, der ihr Fehlen als Leerstelle der Geschichtsschreibung erkannt hat, hat eine Legende erdacht, die nun ihren Platz füllt. Danach soll der Bischof der zweiten Kathedrale von Old Sarum am Tag dieser Entscheidung Pfeil und Bogen zur Hand genommen, dagestanden und ins Land hinab geschaut haben. Dann habe er verkündet, er werde nun schießen und dort, wo der Pfeil lande, werde man das neue Monument errichten. Er war natürlich von der gleichen Großspurigkeit befallen, welche die meisten Männer lähmt. Als er den Pfeil abschoss, schob sich, wie um ihn daran zu erinnern, dass nicht er über die Welt zu seinen Füßen zu bestimmen habe, nie hatte und auch nie haben werde, ein weißer Hirsch zwischen Pfeilspitze und Boden, und der Bischof beobachtete, vielleicht geknickt, sicherlich aber gebannt, wie der Pfeil in dessen Lende eindrang. Das entsetzte Tier lief noch fast fünf Kilometer weiter, bevor es inmitten der Talaue verendete, südlich von Old Sarum, dort, wo jene fünf Flüsse sich trafen.

Nirgendwo wäre das Bauen beschwerlicher gewesen. Die Fundamente ließen sich lediglich knappe fünfzig Zentimeter versenken. Aber man baute trotzdem, und nach nur fünftausend Jahren – nach Maßstäben der Geologie nicht viel mehr als ein Blinzeln – hatte der Gesang der Erde die Menschen, die mehrfach ihre eigene Version des Liedes über das Land verteilt errichtet hatten, über Stonehenge und Old Sarum zur Quelle der Musik selbst geführt, gut zwanzig Kilometer südlich von Woodhenge. Er hatte die Menschen eingeholt. Und da sagen die Leute, Jesus sei ein Menschenfischer gewesen.

Unter großen Mühen und mit viel Liebe wurde die Kathedrale von Salisbury errichtet. Sie ruhte auf Fundamenten, die eigentlich nicht hätten halten können. Ein Turm wurde gebaut, praktisch dem Einsturz geweiht, und die Säulen im Herzen des Hauptschiffs bogen sich und sirrten wie ein Baum nach dem Regen, wenn das Wasser noch vom Baumkronendach fällt, lange nachdem es sich längst aufgeklärt hat.

Im Schatten des Bauwerks erblühte Leben, eine Stadt, die man zunächst New Sarum nannte, bis sie schließlich unter dem Namen Salisbury bekannt wurde. Ereignisse von historischer Tragweite blitzten in den Straßen auf, Paare fanden sich, heirateten und wurden zusammen alt, es gab gute Ernten oder sie blieben aus, Falken nisteten im Turm, und wegen der Erfindung des Flugzeugs musste immer eine Glühbirne in der Turmspitze brennen, weshalb hin und wieder jemand hinaufklettern und sie auswechseln musste. Die Immobilienpreise stiegen und stiegen immer weiter, schließlich ins Astronomische, zu viele Menschen starben am Alkohol, und junge Männer und Frauen verliebten sich, und mancher Sex war gut, mancher aber auch nicht der Rede wert. Und immer war der Gesang zu hören. Fünf Flüsse flossen ineinander, und um das zu feiern, sang die Erde aus voller Kehle, eine Musik, die sich in den Kleinigkeiten des Alltäglichen versteckte, in den Schritten der Tausenden von Bewohnern, dem Klingeln der Registrierkassen, dem hoch aufragenden Traum des Turms.

Und noch immer ertönt der Gesang und findet neue Wege des geringsten Widerstands ins Meer und in den Himmel.

Die Kathedrale von Salisbury ist das schönste Gebäude, das ich kenne. Damit meine ich gar nicht so sehr ihr Aussehen. Gebäude sind nicht aufgrund ihrer Formgebung oder Strukturen schön, der Ziegel oder Steine, aus denen sie bestehen. Wodurch sie bestechen, das sind die Ideen, die Träume und Sehnsüchte, die sie einschließen. Es sind Denkmäler für die Leben jener Menschen, die sie erschufen, die Geld sammelten, um Wände zu errichten, und die diejenigen begruben, die vom Gerüst fielen. Was ich sehe, wenn ich mir anschaue, wie die...