Stern der Riesen - Roman

von: James P. Hogan

Heyne, 2016

ISBN: 9783641196981

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Stern der Riesen - Roman


 

1


 

Dr. Victor Hunt kämmte sich das Haar, knöpfte sein frisches Hemd zu und musterte sein Spiegelbild, das ihn zwar etwas schläfrig, aber doch noch recht annehmbar aus dem Badezimmerspiegel ansah. Hier und da entdeckte er einige graue Haare in seinen vollen braunen Locken, aber man hätte schon nach ihnen suchen müssen, um sie zu bemerken. Seine Haut wirkte gesund; die Linien von Wangen und Kinn waren klar ausgeprägt und fest, und sein Gürtel ruhte noch immer locker auf seiner Hüfte und erfüllte seinen vorgesehenen Zweck: Er hielt seine Hose fest, zwängte ihm aber nicht den Bauch ein. Er kam zu dem Ergebnis, dass er sich für seine neununddreißig Jahre recht gut gehalten hatte. Das Gesicht in dem Spiegel runzelte plötzlich die Stirn, denn das Ritual erinnerte ihn an die typische Darstellung einer männlichen Midlife-Crisis in einem Fernsehwerbespot; jetzt fehlte nur noch die schwachsinnige Ehefrau, die mit einer Flasche in der Hand in der Badezimmertür erschien und ihm mit warmen Worten ein Mittel gegen Haarausfall, irgendwelche Deodorants, Wässerchen gegen Mundgeruch oder sonst etwas anbot. Der Gedanke brachte ihn zum Schaudern, und er warf den Kamm in den Spiegelschrank über dem Waschbecken, machte die Tür hinter sich zu und ging langsam in die Küche des Apartments.

»Bist du fertig im Bad, Vic?«, rief Lyn durch die offene Schlafzimmertür. Sie klang hell und fröhlich, was so früh am Morgen eigentlich verboten sein sollte.

»Geh nur rein.« Hunt tippte einen Code am Terminal der Küche ein, um eine Frühstücks-Speisekarte auf seinen Schirm abzurufen, und gab dann dem Robokoch die Anweisung, Rührei, Schinken (knusprig gebraten), Toast mit Marmelade und Kaffee in zwei Portionen zu servieren. Lyn erschien in dem Gang vor der Tür. Hunts Bademantel, den sie sich locker über die Schultern drapiert hatte, verbarg nicht viel von ihren langen, schlanken Beinen und ihrem goldbraun getönten Körper. Sie lächelte ihm kurz zu und verschwand in einem Wirbel von rotem Haar, das ihr bis zur Hüfte herabhing.

»Das Frühstück ist unterwegs«, rief Hunt ihr nach.

»Das Übliche«, stellte ihre Stimme aus der Tür fest.

»Das hast du wohl geraten?«

»Die Engländer sind Gewohnheitstiere.«

»Warum sollte man sich das Leben auch verkomplizieren?«

Der Schirm zeigte eine Liste von Nahrungsmitteln, die knapp wurden, und Hunt erteilte dem Computer die Genehmigung, sie bei Albertson zu bestellen, damit sie später am Tag geliefert würden. Als er aus der Küche in das Wohnzimmer kam, begrüßte ihn das Geräusch der Dusche, die gerade angedreht wurde, und er überlegte sich, wie eine Welt, die es als normal akzeptierte, dass jeden Abend Menschen vor einem Millionenpublikum ihre Verstopfung, Hämorrhoiden, Schuppen und Verdauungsprobleme diskutierten, den Anblick eines hübschen Mädchens, das sich auszieht, obszön finden konnte. »Nichts ist so komisch wie die Menschen«, hätte seine Großmutter aus Yorkshire gesagt.

Man musste kein Sherlock Holmes sein, um aus dem Anblick des Wohnzimmers, der sich ihm bot, die Geschichte des gestrigen Abends ablesen zu können. Die halbvolle Kaffeetasse, die leere Zigarettenschachtel und die Reste einer Pepperoni-Pizza, umgeben von unordentlich vor dem Schreibtischterminal verstreuten wissenschaftlichen Artikeln und Notizen, ließen auf einen Abend schließen, der mit den besten und lautersten Vorsätzen begonnen worden war, einen weiteren Lösungsansatz für das Pluto-Problem anzugehen. Lyns Schultertasche auf dem Tisch bei der Eingangstür, ihr achtlos auf die Couch geworfener Mantel, die leere Flasche Chablis und der weiße Pappkarton mit den Resten der Rindfleisch-Curry-Mahlzeit vom Straßenverkauf berichteten von einer unerwarteten, aber eigentlich nicht unwillkommenen Unterbrechung durch einen Besuch oder vielmehr eine Besucherin. Die zusammengedrückten Kissen und die beiden Paar Schuhe, die immer noch dort lagen, wo sie zwischen der Couch und dem Kaffeetisch hingefallen waren, erzählten den Rest der Geschichte. Na ja, sagte sich Hunt, es würde dem Rest der Welt wohl nicht allzu viel ausmachen, wenn man erst vierundzwanzig Stunden später erfahren würde, wie Pluto dort hingekommen war, wo er sich jetzt befand.

Er ging zu seinem Schreibtisch und befragte das Terminal, ob im Verlauf der Nacht vielleicht Post für ihn eingetroffen war. Man hatte ihm den Entwurf eines Artikels zugesandt, der von Mike Barrows Team in den Lawrence-Livermore-Labors verfasst worden war. Darin wurde die These vertreten, dass ein bestimmter Aspekt der ganymedischen Physik auf die Möglichkeit verwies, Kernfusion bei niedrigen Temperaturen herbeizuführen. Hunt überflog ihn kurz und ließ ihn zu seinem Dienstzimmer weiterleiten, wo er ihn genauer prüfen wollte. Zwei Rechnungen und Kontoauszüge … abheften und am Monatsende wieder vorlegen. Eine Videoaufzeichnung von Onkel William in Nigeria; Hunt gab die Anweisung ein, das Band noch einmal vorzuspielen, und trat zurück, um es sich anzusehen. Hinter der geschlossenen Tür verstummte das Geräusch der Dusche, und kurz darauf kam Lyn wieder in das Schlafzimmer zurück.

William und die Familie hatten sich darüber gefreut, dass Vic sie in seinem Urlaub besucht hatte, und besonders hatte ihnen sein persönlicher Bericht über seine Erfahrungen auf Jupiter und später auf der Erde mit den Ganymedern gefallen … Cousine Jenny hatte einen Job in der Verwaltung des nuklearen Stahlwerks bekommen, das gerade vor Lagos den Betrieb aufgenommen hatte … Über die Familie in London gab es weiter nichts zu berichten, als dass es ihr bis auf Vics älteren Bruder George gutging, der wegen aggressiven Verhaltens nach einer politischen Diskussion in der lokalen Kneipe vor Gericht erscheinen musste … Die graduierten Studenten der Universität von Lagos waren von Hunts Vortrag über die Shapieron fasziniert und hatten eine Liste von Fragen an ihn abgeschickt. Sie hofften, er würde die Zeit dafür finden, sie zu beantworten.

Gerade als die Aufzeichnung zu Ende ging, kam Lyn in der schokoladenbraunen Bluse und dem elfenbeinfarbenen Crêpe-Rock, die sie am Abend zuvor schon getragen hatte, aus dem Schlafzimmer und verschwand wieder in der Küche. »Wer ist das?«, rief sie zu der Begleitung von klappernden Schranktüren und klirrenden Tellern, die auf einer Arbeitsfläche abgestellt wurden.

»Onkel Billy.«

»Der aus Afrika, den du vor ein paar Wochen besucht hast?«

»Genau.«

»Und wie geht es ihnen dort?«

»Es geht ihnen gut. Jenny ist in dem neuen Komplex untergekommen, von dem ich dir erzählt habe, und Bruder George steckt wieder mal in Schwierigkeiten.«

»O weh! Was ist denn jetzt wieder los?«

»Es hört sich so an, als hätte er wieder den Kneipen-Anwalt gespielt. Irgendjemand hat seine Meinung nicht geteilt, dass die Regierung für alle Streikenden volle Lohnfortzahlung garantieren sollte.«

»Was ist mit ihm – spinnt der irgendwie?«

»Das ist eine Familienkrankheit.«

»Das hast du gesagt, nicht ich.«

Hunt grinste. »Du kannst also nie sagen, man hätte dich nicht gewarnt.«

»Ich werde daran denken … Das Frühstück ist fertig.«

Hunt schaltete das Terminal ab und kam in die Küche. Lyn saß auf einem Hocker an der Frühstücksbar, die den Raum teilte. Sie hatte schon zu essen begonnen. Hunt setzte sich ihr gegenüber hin, trank einen Schluck Kaffee und nahm seine Gabel auf. »Warum die Eile?«, fragte er. »Es ist doch noch früh, und wir haben Zeit.«

»Ich fahre nicht direkt. Ich muss zuerst noch nach Hause und mich umziehen.«

»Meiner Ansicht nach siehst du okay aus – ich würde sogar sagen, du bist ein Genuss für Männeraugen.«

»Mit Schmeicheleien erreichst du alles, was du willst. Nein … Gregg erwartet hohen Besuch aus Washington. Ich möchte nicht ›abgegriffen‹ aussehen und das Image von Navkomm ruinieren.« Sie lächelte und sagte in einem übertriebenen englischen Akzent: »Man muss die Form wahren, mein Bester.«

Hunt schnaubte verächtlich. »Du brauchst noch viel Übung. Wer kommt zu Besuch?«

»Ich weiß nur, dass sie vom Innenministerium kommen. Irgendwelcher Geheimkram, mit dem Gregg in der letzten Zeit zu tun hatte … jede Menge Anrufe über abgesicherte Leitungen, und ständig kommen Boten und bringen Geheimmaterial in versiegelten Taschen. Frag mich nicht, worum es da geht.«

»Hat er dir nichts erzählt?« Hunt klang überrascht.

Sie schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. »Vielleicht, weil ich Umgang mit verrückten, unzuverlässigen Ausländern habe.«

»Aber du bist doch seine persönliche Assistentin«, sagte Hunt. »Ich dachte, du wüsstest über alles Bescheid, was bei Navkomm vor sich geht.«

Lyn zuckte wieder die Achseln. »Dieses Mal nicht … zumindest bis jetzt noch nicht. Ich habe allerdings das Gefühl, ich könnte es heute erfahren. Gregg hat da gewisse Andeutungen gemacht.«

»Mmm … merkwürdig …« Hunt richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Teller und dachte über die Situation nach. Gregg Caldwell, Leiter der Navigations- und Kommunikationsabteilung der UNWO, war Hunts unmittelbarer Vorgesetzter. Durch eine Verkettung von Umständen hatte Navkomm unter der Leitung von Caldwell eine führende Rolle beim Zusammensetzen der Geschichte von Minerva und der Ganymeder gespielt, und Hunt war sowohl vor als auch während des Aufenthalts der Ganymeder auf der Erde direkt an den Ereignissen beteiligt gewesen. Seit ihrer Abreise hatte Hunts Hauptaufgabe bei Navkomm darin bestanden, eine Gruppe zu leiten, die die Forschungsarbeiten über die wissenschaftlichen Informationen koordinieren sollte, welche die Ganymeder der Erde vermacht hatten. Obwohl nicht alle Ergebnisse und...