Die Riesen von Ganymed - Roman

von: James P. Hogan

Heyne, 2016

ISBN: 9783641197018

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Riesen von Ganymed - Roman


 

Prolog


 

Leyel Torres, Kommandant der wissenschaftlichen Beobachtungsstation, die sich in der Nähe des Äquators auf Iscaris III befand, schloss die letzte Seite des Berichtes, den er gelesen hatte und lehnte sich mit einem erleichterten Seufzer in seinem Sessel zurück. Er saß einen Moment lang da und genoss das Gefühl der Erleichterung, während sein Sitz die Form veränderte, um sich seiner neuen Stellung anzupassen. Schließlich erhob er sich, um sich einen Drink aus einer der Flaschen zu genehmigen, die auf einem Tablett auf dem kleinen Tisch hinter seinem Schreibtisch standen. Das Getränk war kühl und erfrischend und ließ rasch die Müdigkeit verfliegen, die sich in ihm nach mehr als zwei Stunden ununterbrochener Konzentration aufzubauen begonnen hatte. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, dachte er. Noch zwei Monate, dann würden sie diesem öden, ausgedörrten Felsklumpen auf ewig Lebewohl sagen und in die reine, frische, sternenübersäte und unendliche Finsternis zurückkehren, die sich zwischen hier und der Heimat erstreckte.

Er ließ den Blick durch das Arbeitszimmer seines Apartments schweifen, das inmitten einer Ansammlung von Kuppeln, Beobachtungstürmen und Kommunikationsantennen lag; während der vergangenen beiden Jahre war dies sein Zuhause gewesen. Von der ewig gleichen, endlosen Alltagsroutine hatte er mehr als genug. Sicherlich war das Unternehmen aufregend und stimulierend, aber genug war eben genug. Und was ihn betraf – die Heimreise könnte keinen einzigen Tag zu früh beginnen.

Ein oder zwei Sekunden lang starrte er auf die kahle Wand vor ihm. Ohne seinen Kopf zu wenden, befahl er: »Sichtbereichskontrolle! Transparenzmodus!«

Die Wand wurde augenblicklich von innen her durchsichtig und bot ihm einen klaren Ausblick über die Oberfläche von Iscaris III, vom Rande des durcheinandergewürfelten Haufens der Konstrukte und Maschinen, aus denen sich die Station zusammensetzte, bis hin zum deutlich gekrümmten Horizont; dort erstreckten sich die kahlen, eintönig rötlich braunen Klippen und Felsbrocken. Von oben brannte der feurige Ball von Iscaris gnadenlos herab, die Strahlen der Sonne durchdrangen das Zimmer mit einem warmen orangefarbenen und roten Schein. Als er hinaus in die Einöde starrte, überkam ihn plötzlich ein starkes Verlangen nach dem einfachen Vergnügen eines Spaziergangs unter blauem Himmel, auf dem die vergessene Heiterkeit eines ungestüm blasenden Windes ausgekostet werden konnte. Ja, ihr Aufbruch könnte keinen Tag zu früh kommen.

Eine Stimme, die von keinem bestimmten Ort des Raumes her zu erklingen schien, unterbrach seine Nachdenklichkeit.

»Marvyl Chariso bittet um die Erlaubnis, durchgestellt zu werden, Commander. Er sagt, es sei äußerst dringlich.«

»In Ordnung«, antwortete Torres. Er wandte sich zu dem gigantischen Bildschirm um, der einen Großteil der gegenüberliegenden Wand einnahm. Sofort wurde der Schirm aktiviert und übermittelte das Bild von Chariso, einem erfahrenen Physiker, der sich aus einem Labor im Observatorium meldete.

»Leyel«, begann Chariso ohne Vorrede. »Können Sie sofort zu mir hier runterkommen? Wir haben Schwierigkeiten … ernsthafte Schwierigkeiten.« Sein Tonfall sagte alles.

Wenn sich Chariso so echauffierte, musste es wirklich schlimm um die Sache stehen.

»Ich komme«, sagte Leyel und war schon auf dem Weg zur Tür.

Fünf Minuten später war er im Labor und wurde von dem Physiker begrüßt, der mittlerweile sorgenvoller als je zuvor aussah. Chariso führte ihn zu einer Bank mit elektronischen Geräten, an dem Galdern Brenzor, ein anderer Wissenschaftler, mit grimmiger Miene auf die Kurven und Datenanalysen der Computerschirme starrte. Brenzor schaute auf, als sie näher kamen, und nickte mit großem Ernst.

»Starke Emissionslinien im Bereich der Photosphäre«, sagte er. »Die Absorptionslinien bewegen sich rapide in den Violettbereich. Es gibt gar nichts daran zu rütteln. Der Kern der Sonne wird in zunehmendem Maße instabiler; er zerfließt förmlich.«

Torres schaute zu Chariso hinüber.

»Iscaris wird zur Nova«, erklärte Chariso. »Irgendetwas ist mit dem Projekt schiefgelaufen, und die gesamte Sonne wird in Kürze hochgehen. Die Photosphäre breitet sich explosionsartig ins All aus, und vorläufigen Berechnungen zufolge werden wir in weniger als zwanzig Stunden verdampft sein. Wir müssen also evakuieren.«

Torres starrte ihn ungläubig, wie gelähmt an. »Das ist einfach unmöglich.«

Der Wissenschaftler hob beide Arme. »Kann schon sein, aber so ist es nun mal. Wir können uns später so viel Zeit nehmen, wie Sie wollen, um herauszufinden, wo uns ein Fehler unterlaufen ist. Im Augenblick müssen wir jedoch weg von hier … und das schnell!«

Torres starrte auf die beiden verbissenen Gesichter, während sein Hirn sich instinktiv gegen die Botschaft zu wehren versuchte. Dann blickte er an ihnen vorbei auf einen anderen großen Wandschirm, der ein Bild aus einer Entfernung von zehn Millionen Kilometern mitten im Raum übertrug.

Er konnte einen der drei gigantischen G-Strahl-Projektoren sehen, einen drei Kilometer langen und einen halben Kilometer breiten Zylinder, der auf einer stellaren Umlaufbahn in einer Entfernung von 45 Millionen Kilometern Iscaris umkreiste, wobei die Achse genau auf den Mittelpunkt der Sonne gerichtet war. Hinter der Silhouette des Projektors sah der glühende Ball von Iscaris immer noch normal aus, aber sogar beim bloßen Hinschauen kam es ihm vor, als könnte er wahrnehmen, wie sich die Sonnenscheibe fast unmerklich, aber bedrohlich ausweitete.

Für die Dauer eines Augenblicks wurde sein Geist von einer Flut emotionaler Regungen überschwemmt – die Ungeheuerlichkeit der Aufgabe, vor die sie plötzlich gestellt waren, die Aussichtslosigkeit rationaler Überlegungen angesichts des enormen Zeitdrucks, die Fruchtlosigkeit zweier Jahre vergeblicher Bemühungen. Dann jedoch schwanden diese Gefühle ebenso schnell, wie sie aufgetreten waren, und die Führernatur in ihm gewann die Oberhand.

»ZORAC«, rief er mit leicht erhobener Stimme.

»Commander?« Die gleiche Stimme, die in seinem Arbeitszimmer zu ihm gesprochen hatte, gab Antwort.

»Nimm bitte sofort mit Garuth auf der Shapieron Kontakt auf und teile ihm mit, schwierigste Umstände seien eingetreten, die es erforderlich machen, dass alle kommandierenden Offiziere der Expedition unverzüglich zusammentreffen. Ich ersuche ihn um Ausstrahlung eines Notrufes, der sie auffordert, in genau fünfzehn Minuten vom jetzigen Zeitpunkt an Kontakt zueinander aufzunehmen. Rufe bitte zudem in der Station die Dringlichkeitsstufe aus, damit sich alles Personal für weitere Anweisungen bereithält. Ich selbst werde mich von der Multikonsole in Raum 14 der Hauptobservatoriumskuppel aus in die Konferenz einschalten. Das wäre alles.«

 

Kaum eine Viertelstunde später blickten Torres und die beiden Wissenschaftler auf eine Anordnung verschiedener Bildschirme, auf denen die anderen Konferenzteilnehmer zu sehen waren. Garuth, Oberbefehlshaber der Expedition, saß im Kommandozentrum des Mutterschiffes Shapieron dreitausend Kilometer über Iscaris III. Er war flankiert von zwei Adjutanten. Ohne zu unterbrechen, lauschte er dem Situationsbericht. Der oberste Wissenschaftler, der aus einem anderen Raum des Schiffes sprach, versicherte, dass in den vergangenen Minuten die Sensoren der Shapieron Daten übertragen hätten, die denen glichen, die von der Iscaris-III-Oberfläche übermittelt worden waren, und dass die Bordcomputer zu den gleichen Ergebnissen gelangt seien. Die G-Strahl-Projektoren hatten unvorhersehbare und katastrophale Veränderungen im Gleichgewicht von Iscaris hervorgerufen, und die Sonne war im Begriff, sich zur Nova zu entwickeln. Es war an nichts anderes mehr als an Flucht zu denken.

»Wir müssen alle Leute vom Boden hochholen«, sagte Garuth. »Leyel, das Allererste, was ich brauche, ist eine Aufstellung der Schiffe, die im Augenblick zur Verfügung stehen, einschließlich ihrer Transportkapazitäten. Sobald wir wissen, was Sie noch brauchen, schicken wir Ihnen zusätzliche Fähren runter, um den Rest raufzuholen. Monchar …« Er wandte sich an seinen Stellvertreter, der auf einem anderen Schirm zu sehen war. »Sind irgendwelche Schiffe weiter von uns entfernt als fünfzehn Stunden mit maximaler Geschwindigkeit?«

»Nein, Sir. Das am weitesten entfernte ist in der Nähe von Projektor 2. Es könnte in etwas mehr als zehn Stunden hier sein.«

»Gut. Rufen Sie alle unverzüglich zurück, höchste Dringlichkeitsstufe. Wenn die Daten, die uns gerade übermittelt wurden, richtig sind, ruht unsere einzige Überlebenschance auf dem Hauptantrieb der Shapieron. Legen Sie ein Verzeichnis der vermuteten Ankunftszeiten fest und stellen Sie sicher, dass alle Aufnahmevorbereitungen getroffen werden.«

»Ja, Sir.«

»Leyel …« Garuth veränderte seine Blickrichtung, sodass er in Frontalansicht auf dem Bildschirm in Raum 14 der Observatoriumskuppel erschien. »Machen Sie alle Ihre verfügbaren Schiffe startklar, und lassen Sie die Evakuierungsvorbereitungen unverzüglich anlaufen. Erstatten Sie im Abstand jeder vollen Stunde Bericht. Pro Person lediglich eine Tasche mit persönlichen Habseligkeiten.«

»Darf ich Sie an ein Problem erinnern, Sir?«, fragte der Chefingenieur der Shapieron, Rogdar Jassilane, aus der Antriebssektion des Schiffes.

»Was gibt's Rog?« Garuths Gesicht wandte sich ab, um einen anderen Bildschirm anzupeilen.

»Wir haben immer noch den Fehler im ersten Bremssystem für die Torroiden des Hauptantriebs. Wenn wir den anwerfen, kann er sich lediglich auf natürliche Weise wieder...