Nie wieder achtzig!

von: Dieter Hildebrandt

Blessing, 2008

ISBN: 9783894804480 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Nie wieder achtzig!


 

Es handelt sich natürlich um ein Vorwort, jedenfalls steht es an dieser Stelle, aber weil es dabei um eine Nachbetrachtung geht, nenne ich das Vorwort Nachwort.
Die Zeit, die vergangen ist zwischen der Herausgabe des Hartdeckelbuchs und des Taschenbuchs, könnte ja riesige Umwälzungen erfahren haben, Regierungen könnten verscheucht worden sein, Meinungen sich geändert haben, Entscheidungen gefallen sein, wofür man dann dringend eine Einführung für das Taschenbuch benötigen würde.
Es wäre nicht nötig.
Immer noch geht alles seinen kapitalistischen Gang. Die Meldungen eines einzigen Tages bestätigen es: Die Preise steigen - die Inflation wächst - Sozialbeiträge über 40 %.
Der Ölpreis steigt mal, mal fällt er. Der Benzinpreis nimmt meistens keine Notiz davon. Vor Urlaubsbeginn, vor Feiertagen aber springt er jubelnd in die Höhe.
Hoch in der Luft befinden sich die Regierenden Europas und haben die Verbindung zu den Völkern verloren. Das kann nur so sein, weil sie immer wieder fröhlich verkünden, dass es den Menschen, und sie scheinen dabei a l l e zu meinen, unaufhörlich besser geht. Sie nennen abenteuerliche Zahlen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Ein Minister behauptet dreist, dass diese Regierung täglich tausend neue Arbeitsplätze schaffe und sagt das mit so großer Überzeugung, dass es sogar die Arbeitslosen glauben. All diese
Zahlen sagen nichts aus über die Qualität des Arbeitsplatzes. Die Statistiken werden geschönt und Äpfel mit Birnen als Schokoladenpudding verkauft. Es ist zu vermuten, dass ein Mensch, der zwei Stunden lang am Bahnhof Koffer trägt, registriert ist, als Arbeitsplatzinhaber gezählt wird. Sollte er Arbeitslosengeld beziehen, wird er im Jobcenter seine Trinkgelder offenlegen müssen.
In Talkshows ist tatsächlich das Argument geliefert worden, es wäre falsch zu behaupten, dass die Reichen immer reicher würden, denn sie würden zum großen Teilen herangezogen werden und den Löwenanteil des Steueraufkommens bezahlen. Würden sie das nicht mehr können, würden die Reichen ärmer werden und die Armen kein bisschen reicher. Außerdem, so heißt es treuherzig, mache die Globalisierung auch vor der Armut nicht halt.
Staunend registriert man, dass, je ohnmächtiger die Politiker werden, die Macht der Weltkonzerne gewaltig zunimmt. Bierriesen schlucken sich gegenseitig, über Nacht, Edeka reißt PLUS an sich, ein Super-Aldi entsteht und überlidelt Tengelmann, denn Tengelmann ist irgendeine Tochter, die dann zur Mutter von Metro kommt, oder war es anders?
So war es: Der Onkel von Rewe ist jetzt die Nichte von Netto, von dem die Leute immer mehr Brutto haben wollen, und Minus ist die Schwiegermutter von PLUS, ist aber in Wirklichkeit der Adoptivvater von Douglas, der die Stieftochter, die Thalia, vergewaltigt hat, und das ist laut Gesetz alles verboten, weil das purer Inzest ist und da sollte sich der Glos mal seinen Stahlhelm aufsetzen, mit dem er die Taliban erschreckt hat und dieser Schweinerei die Krone aufsetzen.
Und noch etwas hat sich in der Zwischenzeit nicht geändert: Ich bin tatsächlich nicht mehr 80 geworden.

Nie wieder 80!

Als das erste Mal auf mich geschossen wurde, wer das tat und warum, ist nie geklärt worden, habe ich mir Gedanken gemacht über das Leben. Es war, wie sich im Laufe des Weiterlebens herausstellte, typisch für mich. Ich habe beim Nachdenken immer am falschen Ende angefangen. Logischerweise hätte ich über den Tod nachdenken müssen, der eingetreten wäre, wenn der Schütze getroffen hätte. Aber nachdem dieser mich verfehlte, habe ich sofort das Interesse an dem verloren, was hätte passieren können, wenn es ein Treffer gewesen wäre.
Ich habe, recht oberflächlich finde ich, über das nachgedacht, was ich noch hatte: das Leben. Christian Morgensterns Palmström nach einem glimpflich verlaufenden Unfall: »Wie war«, (sprach er, sich erhebend und entschlossen weiterlebend), »möglich, wie dies Unglück, ja -: dass es überhaupt geschah?« Zeilen, die mich mein ganzes Leben lang begleitet haben.
Wie auch der Satz von Albert Einstein: »Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: Entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles eins. Ich glaube an Letzteres.« Ist es ein Wunder, dass ich noch lebe? Aber natürlich, wenn man bedenkt, wie viele Krankenhäuser ich wieder verlassen konnte, wie viele Kantinen ich einigermaßen unbeschädigt überstanden habe, wie oft und wie gern ich mich als Kind schon totgelacht habe, wie viele Bundeskanzler,
Präsidenten und Intendanten ich überlebt habe. Die oft beschriebene »tödliche Langeweile« hat mich hie und da befallen, aber immer wieder von mir abgelassen. Nur etwas habe ich inzwischen widerwillig gelernt: Das Altern kann man nicht auf morgen verschieben, weil man dann noch älter ist.
Deshalb sollte man mit dem Altern früh genug anfangen, damit man Freude daran hat.
Und die habe ich.
Schon deswegen, weil ich gemerkt habe, dass das Altern Zukunft hat. Ich habe ungern Erfahrungen gesammelt, denn was sind schon Erfahrungen? Die haben mit wachsender Weisheit gar nichts zu tun.
Es wächst nicht alles nach. Günter Grass hat gemeint, ihm wäre die Scham nachgewachsen. Da muss er sich vertan haben. Nachwachsen kann man beispielsweise Skier, aber sonst gilt, dass kaum etwas nachwächst. Bei Armen, Beinen, Nasen oder Ohren wissen wir: Es ist endgültig. Entmannungen zum Beispiel sind in der Regel nie wieder gutzumachen.
Und damit bin ich wieder bei meinem Alter. Es ist wie mit der Scham: Jugend wächst nicht nach. Das Wort Nachwuchs ist darum mit Vorsicht zu verwenden.
Ich habe mit einigem Entsetzen festgestellt, dass auch die Weisheit im Alter nicht nachwächst. Das hat man mir, als ich noch jünger war, immer wieder vorgelogen.
Man muss Angst bekommen um seine Enkelkinder. Nicht weil sie nichts wissen, sondern weil die immer weniger wissen, die vom Staat bestellt sind, dafür zu sorgen, dass die Kinder immer mehr wissen.
Wenn im Ausfrageinstitut Jauch, dieser Produktionsstätte für deutsche Millionäre, die Fragen auf die Kandidaten niederkommen, die sich immerhin freiwillig zur Verfügung gestellt haben, um sich, viel zu oft jedenfalls, vor einem Millionenpublikum blamieren zu lassen, dann ist man schon ein bisschen eingeschüchtert.