Tindalos - Jäger aus dem Jenseits

von: John Ajvide Lindqvist

beBEYOND, 2016

ISBN: 9783732541577 , 100 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 1,99 EUR

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Tindalos - Jäger aus dem Jenseits


 

Das tüchtigste Mädchen der Welt


Vera Kosygin war schon fünfunddreißig, als sie den Führerschein machte. Sie hatte bereits einen Doktor der Medizin erworben, eine Lebensversicherung abgeschlossen und einen Tauchschein erworben, den Führerschein dagegen immer wieder aufgeschoben. Am Ende ging es jedoch einfach nicht mehr anders. Ihr Ehemann Mattias wurde nach fünf Gedichtsammlungen immer häufiger für Lesungen in Bibliotheken und andere Kulturveranstaltungen im ganzen Land engagiert und übernachtete manchmal zwei Nächte in Folge in Hotels. Dann stand ihr kein Auto zur Verfügung.

Sie wohnten mit ihren Töchtern My und Natalie in einem renovierten Altbau nahe Kapellskär auf der Halbinsel Rådmansö nördlich von Stockholm. Busse verkehrten nur selten und bis zur nächsten Haltestelle waren es zwei Kilometer. Ein zweites Auto und ein weiterer Führerschein würden alles bedeutend einfacher machen.

Also nahm Vera die Sache mit derselben Entschlossenhit in Angriff, die sie schon immer ausgezeichnet hatte.

Jeden zweiten Tag nahm sie nach ihrer Arbeit im Krankenhaus von Norrtälje Fahrstunden bei Roslagens Fahrschule. Sie schrie nicht, wenn der Wagen ausbrach, sie schloss nicht die Augen, wenn sie einen Fußgänger am Straßenrand sah. Sie beherrschte sich. Sie biss die Zähne zusammen. Sie dachte an ihre Familie.

Sie brauchte eine Woche, um den theoretischen Stoff mehr oder weniger auswendig zu lernen, und die Winterfahrübungen auf der Gillingebahn absolvierte sie mit angstvoll zugeschnürter Kehle. Sie lauschte den Vorträgen, betrachtete zerquetschte Autowracks und erhielt eine Bescheinigung, aus der hervorging, dass sie das Winterfahrtraining bestanden hatte. Auf dem Heimweg übergab sie sich im Bus in eine Plastiktüte, die sie in weiser Voraussicht mitgenommen hatte.

Sie bestand die theoretische Prüfung mit nur einem Fehler und die praktische Prüfung ohne eine einzige Beanstandung. Sechs Wochen, nachdem sie das Projekt begonnen hatte, stand sie mit einem provisorischen Führerschein in der Hand vor der Fahrschule. Die Straßen erstreckten sich in alle Richtungen und sie war von nun an berechtigt, sie zu benutzen.

Was dachte sie in diesem Moment?

Zwei Dinge. Zum einen so etwas wie verdammt, verdammt, verdammt. Zum anderen ärgerte sie sich ein wenig über diesen einen Fehler, den sie in der theoretischen Prüfung gemacht hatte. Sie hatte die Antwort doch eigentlich gewusst. Eine Unklarheit in der Formulierung der Frage hatte sie verleitet, die falsche Möglichkeit anzukreuzen. Das ärgerte sie.

»Ein so tüchtiges kleines Mädchen. Ein so unglaublich tüchtiges Mädchen. Was für eine tüchtige junge Dame. Eine sehr tüchtige Frau.«

So gestaltete sich Veras Lebenslauf. Seit sie sieben war, hatte sie alles richtig gemacht. Die Erwachsenen musterten sie mit traurigen Augen und flüsterten hinter ihrem Rücken, fanden aber immer nur lobende Worte für sie. Alles andere hätte einen auch gewundert.

Als sie in die zweite Klasse ging, war die Rede davon, dass sie eine Klasse überspringen solle, weil sie schon alles gelesen und alle Rechenaufgaben gelöst hatte. Weil Vera in keine neue Klasse wollte, wurde ein individueller Lehrplan für sie erstellt. Auch er konnte nicht befriedigen, was man als Wissensdurst auffasste.

Wenn Vera keine Hausaufgaben zu machen und nichts zu recherchieren hatte, wurde sie hyperaktiv. Dann saß sie beispielsweise den ganzen Abend mit einem großen Messer in der Hand da und verwandelte das gesamte Brennholz in der Kiste in Späne.

Sie durfte Klavierstunden nehmen, sie durfte in den Schwimmverein eintreten. Als sie zehn war, ackerte sie sich in den Sommerferien durch Selma Lagerlöfs gesammelte Werke. Erwachsenen, die sie sahen oder über sie sprachen, blieb nichts anderes übrig, als den Kopf zu schütteln und zu sagen: »Die arme Kleine. Was für ein tüchtiges kleines Mädchen.«

Das Attribut wurde in sie hineingetrieben und blieb haften, als hätte ein Hammer einen Nagel in ein Brett geschlagen: Tüch-tick! Tüch-tick!

Und sie erfüllte die Erwartungen. Immer.

Mattias hielt vor der Fahrschule und stieg aus. Als Vera den Daumen hob und den vorläufigen Führerschein hochhielt, vollführte seine Hand eine einladende Geste in Richtung Fahrersitz. Vera schüttelte den Kopf und setzte sich auf den Beifahrersitz.

»Und, wie ist es gelaufen?«, fragte Mattias und machte ein Wendemanöver, das seine Chancen auf einen Führerschein zunichte gemacht hätte, wenn er nicht schon einen besessen hätte.

»Gut«, antwortete Vera. »Sie hatten nichts zu beanstanden.«

»Gar nichts?«

»Nein. Ist das sonst anders?«

Mattias verzog den Mund. »Das habe ich dir doch erzählt. Vier Mal bin ich durch die Prüfung gerasselt. Und beim fünften Mal habe ich den Lappen nur mit Mühe und Not bekommen.«

Er bog auf die Straße nach Kapellskär, ohne einen Blick in Rück- oder Seitenspiegel zu werfen. Vera verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass er nicht unbedingt seinen Führerschein loswerden musste, nur weil sie jetzt auch einen hatte. Auf der Straße, von der Vera inzwischen wusste, dass sie als Schnellstraße bezeichnet wurde, sausten sie mit hundertzwanzig Sachen dahin. Nach zwei Kilometern hatte sie einen metallischen Geschmack im Mund.

Als sie über die Kuppe des Hügels kamen, der zum Lebensmittelladen in Vreta hinunterführte, knirschte es, als sie das Papier in ihrer Hand zusammenknüllte und die Augen zumachte. Sie hielt die Augen geschlossen, bis das Geschäft weit hinter ihnen lag.

»Und wie willst du damit klarkommen?«, fragte Mattias.

»Womit?«

Mattias ließ seinen Daumen über die Schulter schnellen. »Es wäre keine gute Idee, die Augen zuzumachen. Wenn du fährst, meine ich.«

»Ich fahre nicht.«

»Nein, aber wenn du fährst.«

Vera atmete einige Male tief durch, der Krampf in ihren Händen löste sich, und sie glättete das zerknitterte Papier. »Dann werde ich die Augen wohl nicht zumachen dürfen.«

Er strich ihr über den Oberschenkel. Er streichelte ihre Wange. Er sagte nicht, wie tüchtig sie sei.

Vielleicht war es gerade das, was damals ihr Interesse an Mattias geweckt hatte. Sie waren sich auf einer studentischen Veranstaltung begegnet, als sie Medizin im zweiten Studienjahr und er Literaturwissenschaft studierte. Sie tauschten ihre Telefonnummern aus, trafen sich ein paarmal, wurden ein Paar.

Er respektierte und begehrte sie, und es machte Spaß, mit ihm zusammen zu sein, aber es passierte nur selten, dass ihm ein Lob über die Lippen kam. Für Vera, die sich ständig anhören musste, wie tüchtig und bewundernswert sie sei, war Mattias eine neue Erfahrung. Eine Nuss, die es zu knacken galt.

Es gelang ihr nie. Brachte sie ein Spitzenergebnis aus einer Klausur mit oder spielte eine anspruchsvolle Sonate von Chopin, konterte er mit der witzigen Idee, dass man ein paar Gedichte Frödings als Bauernschwänke lesen könnte.

Mattias’ Einstellung lautete, man tut, was man tun muss. Es gab keinen Grund, Schriftsteller oder Wissenschaftler für ihre Leistungen zu feiern. Man hat ein angeborenes Talent und verspürt einen inneren Drang, etwas daraus zu machen. Okay, wirklich toll, wenn dabei etwas Gutes herauskommt, aber deshalb ist man noch lange nicht besser als andere.

Sicher, manchmal machte sie das wahnsinnig, aber im Grunde fand sie es schön. Vor Mattias brauchte sie nicht mit Leistung zu glänzen. Im Übrigen benötigte sie seine Ermunterung nicht. Letztlich – und das war ihr Geheimnis – musste niemand sie ermuntern. Darum ging es nicht.

Die Mädchen saßen am Küchentisch und machten ihre Hausaufgaben. Als Vera hereinkam, schoss My hoch und umarmte sie.

»Wie ist es gewesen, Mama? Hast du den Führerschein bekommen?«

»Oh ja. Na klar, ich habe ihn.«

My hüpfte auf und ab und klatschte in die Hände. »Hurra! Hurra, super! Du bist echt tüchtig, Mama!”

Natalie schaute nur für einen kurzen Moment von ihren Blättern auf, um ihrer jüngeren Schwester einen schiefen Blick und ein ebenso schiefes Lächeln zuzuwerfen. My merkte es, und als wäre sie bei etwas Verbotenem erwischt worden, hörte sie auf zu hüpfen. Sie konzentrierte sich einige Sekunden und sagte anschließend: »Dann können wir auch, wenn Papa nicht da ist, mit dem Auto zur Schule fahren.«

Sie schielte zu Natalie hinüber, ehe ihr Blick zu Vera flackerte. »Oder?«

»Ja«, antwortete Vera. »Sobald ich ein Auto gekauft habe.«

My nickte enthusiastisch, und es herrschte eine seltsame Stimmung in der Küche. Natalie war dreizehn und mitten in einer Phase, in der die Großtaten ihrer Mutter so interessant waren wie polnische Spielfilme, aber auch My, die neun war, reagierte sonst nicht so aufgeregt, wenn es um etwas ging, was Vera sagte oder tat.

Ohne von ihren Mathe-Hausaufgaben aufzublicken, sagte Natalie: »Gratuliere«, was ihrem normalen Verhalten deutlich näher kam. My hatte ihre Hände vor dem Bauch zu Fäusten geballt und lächelte entzückend, aber starr.

Manchmal überkam Vera die schreckliche Ahnung, dass ihre Töchter sie im Grunde gar nicht mochten. Die beiden akzeptierten sie und wünschten sich nicht unbedingt eine andere Mutter, aber dieses gewisse Etwas, das Eltern und Kinder angeblich auf so eine wunderbare Weise verband, das suchte man bei ihnen möglicherweise vergeblich.

In düsteren Momenten dachte sie, dass etwas fehlte. Etwas, was sie niemals hätte geben können, weil sie selbst es nie erfahren hatte. Eine Leere zwischen ihren Händen. Diese Leere hatte sie mit Fürsorge gefüllt. Mit Tüchtigkeit, wenn man so wollte.

Sie hatte alles für ihre Töchter getan....