Die Rabenkönigin

von: Michelle Natascha Weber

Drachenmond Verlag, 2016

ISBN: 9783959910422 , 372 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Rabenkönigin


 

1


Die Stimme des Windes


Der Wind rief nach ihr. Sein klagender Ruf klang aus dem Rascheln der Blätter, dem Pfeifen, das durch den Kamin drang. Er ließ nicht zu, dass sie wieder in den Schlaf glitt. Ruhelos fasste Maja nach dem wollenen Tuch auf dem Stuhl und warf es sich über die Schultern. Der Mondschein fiel silbern herein und beleuchtete ihren Weg durch das Zimmer. Die Stürme, die das Schwinden des Sommers begleiteten, hatten sich gelegt. Der nahende Herbst hinterließ einen eisigen Hauch in der Luft, der in den Nächten stärker zu spüren war. Maja stieß das Fenster auf und ließ ihn über ihr Gesicht streichen. Es roch nach feuchtem Gras, Erde und Laub, nach den Rosen, die ihre Mutter einst gepflanzt hatte. Die Stimme des Windes wurde lauter. Sie vernahm ihren Namen darin, den verzweifelten Klang in den Worten. Sie war melodisch und dunkel. So vertraut … Sie kannte sie seit ihrer Kindheit.

»Elejas«, flüsterte sie heiser. Sie blickte suchend über den Garten, hin zu den Obstbäumen, die noch schwer an ihrer reifen Last trugen. Die Silhouette, die sich unter den gesenkten Zweigen eines Apfelbaums abzeichnete, schien ihren Blick aufzufangen und ihn zu erwidern. Beinahe meinte sie, glitzernde Augen zu sehen, schwarz wie Kohlestücke. Den dunklen Lockenschopf, der warm schimmerte, wenn das Sonnenlicht darauf fiel. Doch jetzt gab es keine Farbe, die ihn berührte. Der Mond raubte der Welt alle Wärme. Dennoch trieb der Anblick Hitze durch ihre Adern und ließ den kalten Herbsthauch weichen. Majas Finger klammerten sich fester um das Holz der Fensterbank. Sie öffnete die Lippen, um ihn zu rufen, und die Silhouette flackerte in einem scharfen Windhauch, der über den Garten fegte.

»Nicht, Elejas! Bleib hier!« Sie hob die Hände, als könnte sie nach ihm greifen und ihn festhalten. Elejas’ Gestalt verblasste vor ihren Augen, als hätte es ihn niemals gegeben. Einmal mehr entglitt er ihr, ohne dass sie es zu verhindern vermochte. Ein Trugbild, zum Leben erweckt von der Magie der Nacht und ihren eigenen Wünschen. Sie hatte ihn aus ihren Träumen erschaffen, so wie sie es unzählige Male getan hatte, seitdem er verschwunden war. Enttäuschung breitete sich in ihr aus und Majas Kehle wurde eng. Plötzlich sehnte sie sich nach der Freiheit des Nachthimmels über ihrem Kopf. Die Wände ihres Zuhauses hielten sie fest wie ein Gefängnis. Fesseln, die sie banden, damit sie nicht dem Ruf des Windes folgte, der in jeder Nacht erklang. Sie wusste, er würde nicht verstummen, bis sie zu ihm ging.

Aber sie konnte es nicht.

Hilflos presste sie die Handballen auf ihre Augen, dann fasste sie nach dem Türknauf und drehte ihn leise. Ihr Vater mochte es nicht, wenn sie in der Nacht das Haus verließ. Trotzdem tat sie es oft, wenn sie sich danach sehnte, Ruhe in ihre wirbelnden Gedanken zu bringen. Majas Herz schlug schneller, als sie sich aus ihrem Schlafgemach schlich, hin zu der weiten Treppe, die bis zur Eingangshalle führte. Ihre bloßen Füße verursachten keinen Laut auf dem dicken Teppich. Vorsichtig begann sie den Abstieg, doch sie hatte kaum die ersten Stufen hinter sich gelassen, als eine argwöhnische Stimme in ihrem Rücken erklang. »Wohin gehst du, Maja?«

Sie erstarrte.

Eliana war wach. Sie hätte es ahnen müssen. Ihre Finger krampften sich um das Treppengeländer. »Shh, du wirst Vater aufwecken. Ich bin bald wieder zurück.«

»Es ist mitten in der Nacht!« Die Frauenstimme klang streng und unnachgiebig. Maja wusste, dass der Protest nicht verstummen würde, ehe sie sich erklärt hatte.

Widerstrebend wandte sie sich um und sah in die Höhe. »Ich brauche frische Luft, Großmutter. Ich kann nicht schlafen.«

Ihr Blick glitt sehnsüchtig zur Tür, dann zurück zum Antlitz der Frau, die aus dem goldenen Bilderrahmen auf sie heruntersah. Sie biss sich auf die Unterlippe, während Eliana Carjesan nach ihrem Augenglas griff und sie einer genauen Musterung unterzog. »Jetzt, zur Stunde der Geister, wenn das Feenvolk unter dem Mond tanzt?«

Maja lächelte beschwichtigend. »Die Feen machen mir keine Angst.«

Es war eine Lüge und Elianas Brauen hoben sich. »Aber das sollten sie, mein Kind. Dein Leichtsinn wird dich eines Tages um Kopf und Kragen bringen.« Die Frau in dem Bild ließ das Monokel sinken und lehnte sich mit einem Seufzen auf ihrem Stuhl zurück. Sie verhielt sich häufig wie eine alte Frau, obgleich sie wirkte, als sei sie nur wenig älter als Maja selbst. Eliana Carjesan war zu ihrer Zeit eine der schönsten Frauen Sorieskas gewesen. Das Bild zeigte noch den Glanz ihrer Schönheit, in der Blüte ihrer Jahre von einem Maler festgehalten, damit er niemals verblasste. Sie war vor Majas Geburt gestorben und doch kannte sie das Abbild ihrer Großmutter besser als ihre eigene Mutter. Sie hatte unter ihrem wachsamen Blick gespielt, kannte jede Welle ihres kastanienfarbenen Haars und das fröhliche Funkeln in ihren meerblauen Augen. Jetzt blickten sie resigniert auf sie herab.

»Das Feenblut in meinen Adern ist dünn, Großmutter. Sie werden mich nicht holen kommen«, antwortete Maja mit mehr Zuversicht, als sie empfand. Sie legte den Kopf schief und zwinkerte dem Porträt munter zu. »Und ich bin mir sicher, dass sie nicht in unserem Garten tanzen.«

Der Blick der älteren Frau ging ins Leere. »Das hat Lyane auch geglaubt und sieh, was mit ihr geschehen ist.« Ein Stirnrunzeln verdüsterte Elianas Gesicht, als sie versuchte, nach Erinnerungen zu fassen, die weit außerhalb ihrer Reichweite lagen. Maja wusste, dass sie sie nicht erhaschen würde. Das Bildnis ihrer Großmutter mochte einen Funken ihrer Persönlichkeit besitzen, das Wissen über die Vorgänge im Haus, seitdem es fertig an die Wand gehängt worden war. Doch in Wirklichkeit war sie nichts als ein magisches Abbild, das sie als Kind unbewusst zum Leben erweckt hatte. Die tatsächliche Vergangenheit von Eliana Carjesan blieb ihr verschlossen.

Für einen Augenblick schwieg Maja und das Lächeln auf ihren Lippen erlosch. Dann schüttelte sie den Kopf. »Mutter war anfällig für das Feenreich. Sie hat ihre Nähe gesucht. Ich habe keine Sehnsucht danach, das Reich hinter den Spiegeln zu besuchen. Ich bin zu fest in unserer Welt verwurzelt.«

Nein, sie hegte keine Faszination für die kalten Kreaturen, die ihr die Mutter genommen hatten. Der Feenwahn war wie ein Messer, das über ihrem Kopf schwebte, seit sie den ersten Atemzug getan hatte. Manchmal kamen die Feen zu jenen, die nach ihnen riefen, und zogen sie durch die Spiegel in ihre Welt. Und wer einmal mit ihnen getanzt hatte, kehrte verändert wieder. Lyanes Geist weilte nicht mehr unter ihnen, seitdem sie das Reich der Feen betreten hatte. Nur ihre verwirrte Hülle war zurückgeblieben. Es war der Grund dafür, dass es im Haus ihres Vaters keinen einzigen Spiegel mehr gab. Sie kannte ihr eigenes Antlitz nur von dem schwachen Abbild, das ihr die Fensterscheiben anderer Häuser zeigten, der Oberfläche des kleinen Gartenteiches, den Pfützen, die der Regen hinterließ. Nachdem ihre Mutter durch die Spiegel getreten war, hatte Cosmyr Carjesan dafür Sorge getragen, dass nichts spiegelndes im Haus verblieben war. Die Buntglasscheiben ihres Zuhauses offenbarten wenig und selbst die Löffel, von denen sie aßen, waren stumpf. Sie sprachen beinahe nie über Majas Erbe, aber das Feenblut, das ihre Mutter in die Familie gebracht hatte, war allgegenwärtig. Es war wie ein Fluch, der sie verfolgte, seitdem sie alt genug war, um seine Bedeutung zu verstehen.

Eliana hatte es aufgegeben, nach fremden Erinnerungen zu forschen. Sie fasste müßig nach dem Spitzenfächer, der in ihrem Schoß geruht hatte, und fächelte sich damit Luft zu. Ihre freie Hand nestelte am Kragen ihres Kleides, um sich Erleichterung zu verschaffen. Das Bild war im Winter entstanden und Eliana litt im Sommer unter der Hitze. Noch immer trug die Leinwand dort aufgequollene Flecken, wo die kindliche Maja einen Becher Wasser darüber geleert hatte, um sie abzukühlen. »Ich denke trotzdem, dass du bleiben solltest«, sagte sie ernst. »Bei Vollmond liegt ihre Magie stärker in der Luft. Ich kann es fühlen. Sie sind nah. Und du bist nicht so fest in dieser Welt verwurzelt, wie du vorgibst, Maja. Das wissen wir beide.« Nachdenklich hob sie den Kopf und sah die Treppe hinab, als erwarte sie, gleich den Feenkönig über die Schwelle der Eingangstür treten zu sehen.

Maja konnte es nicht leugnen. Nicht, wenn es ihre eigenen Hände waren, die das Bildnis zum Leben erweckt hatten. Aber es war lange her. Sie nutzte ihre Gabe nur dann wissentlich, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ihr Vater hatte es ihr verboten, als sie noch ein einsames Kind gewesen war, das sich Freunde erschaffen hatte. Sie seufzte innerlich und lächelte über die bekümmerte Miene der brünetten Frau. »Ich werde nicht lange bleiben. Ich bin wieder im Haus, ehe du dir Sorgen machen kannst.«

Sie drehte sich um, doch ihre Großmutter hatte nicht vor, die Angelegenheit dabei bewenden zu lassen. »Du solltest ihn aufgeben, Maja. Er kommt nicht zurück. Wahrscheinlich ist er längst in die Welt gezogen und hat sein Glück gefunden.« Eliana sagte es sanft und der Fächer sank wieder herab. Ihre Augen ruhten mitfühlend auf ihrer Enkelin, wohl wissend, dass sie an ihrem Schmerz gerührt hatte.

Herzschläge verstrichen in Schweigen, während Maja auf den roten Samt des altmodischen Kleides ihrer Großmutter starrte. Es waren Worte, die sie zu oft...