Stadt der Lügen - Liebe, Sex und Tod in Teheran

von: Ramita Navai

kein & aber, 2016

ISBN: 9783036993409 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 13,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Stadt der Lügen - Liebe, Sex und Tod in Teheran


 

PROLOG

VALIASR-STRASSE

Von oben gesehen ist Teheran von einem überirdischen Glanz umgeben. Über der Stadt hängt ein oranger Nebel, in dem sich die Sonnenstrahlen brechen: ein dichter, giftiger Dunst, der beharrlich bis in jede Ecke vordringt, in der Nase brennt und in den Augen beißt. In den Straßen stauen sich die Autos, sie spucken schwarze Wolken aus, die gemächlich aufsteigen und regungslos am Himmel verharren. Die Abgase kriechen sogar hinauf bis in das karamellfarbene Elburs-Gebirge im Norden. Von hier aus blicken Ansammlungen von Hochhäusern auf die Stadt herab wie Imame, die über eine Gruppe von betenden Gläubigen wachen. Massen von Menschen bevölkern das Tal unter ihnen. Jeder Zentimeter ist bebaut, ohne dass sich ein bestimmter Stil oder eine sinnvolle Struktur ausmachen ließe. Alte Stadtviertel werden brutal von Autobahnkreuzen durchschnitten, und hässliche postmoderne Bauten ragen über herrschaftlichen Villen empor.

Mitten durch das Chaos der Stadt verläuft eine lange, breite Straße, die auf beiden Seiten von unzähligen Platanen gesäumt ist und Teheran in zwei Hälften teilt. Die Valiasr-Straße zieht sich vom Norden Teherans bis in den Süden, pumpt das Leben durch die Stadt und spuckt es in ihren entlegensten Ecken wieder aus. Die Valiasr ist die eine Straße, die für alle Einwohner der Inbegriff Teherans ist. Seit Jahrzehnten kommen die Iraner hierher, um zu feiern, zu protestieren, zu demonstrieren, zu gedenken und zu trauern. Eine meiner deutlichsten Kindheitserinnerungen an Teheran ist eine Autofahrt über diese Straße; ich erinnere mich noch immer daran, wie geborgen ich mich inmitten all der Bäume fühlte, die sich sanft voreinander verbeugten und uns unter ihrem grünen Blätterdach Schutz boten.

Entlang ihrer uralten überwachsenen Wurzeln, die sich aus dem rissigen Asphalt herauswinden, ziehen sich die Joobs, tiefe Gräben, die das eisige Wasser befördern, das in den Bergen im Norden entspringt. Je weiter südlich das Wasser gelangt, desto trüber und dunkler wird es. Etwa auf der Hälfte der Valiasr-Straße befindet sich das Stadtzentrum, ein brodelnder, dicht bevölkerter Ballungsraum, hier rasen Tausende von Motorrollern, Autos und Menschen die Straße entlang oder kreuzen sie. Hier und da kann man eingeklemmt zwischen den Wohnblöcken noch die verfallenden Überreste einiger alter Villen entdecken, die sich ans Überleben klammern. Weiter südlich werden die Gebäude immer kleiner und ärmlicher: Häuser aus Rohbeton und schadhaften Ziegeln mit zerbrochenen Fensterscheiben und verrosteten Wellblechhütten auf den Dächern. Von den Mauern hängen alte Gasleitungen und Klimaanlagen herunter wie herausquellendes metallenes Gedärm. Hier sind die Straßen all ihrer Farben beraubt und von Konservativismus und Armut überschattet. Schwarz verhüllte Frauen im Tschador mischen sich schweigend unter dunkle Anzüge und Kopftücher: Die tristen Variationen der Kleidung, die vom Islam gebilligt wird, stehen im Kontrast zu den grellbunten Wandmalereien, die Kriegshelden, religiöse Märtyrer und politische Propaganda abbilden. Im äußersten Süden mündet die Valiasr-Straße auf den Rah-Ahan-Platz, Teherans Hauptbahnhof, wo Reisende aus dem ganzen Land eintreffen: Luren, Kurden, Aserbaidschaner, Turkmenen, Tadschiken, Araber, Belutschen, Bachtiaren, Kaschkai und Afghanen.

Die Valiasr mit den unzähligen Straßen, die von ihr abzweigen, ist ein Mikrokosmos der Stadt. Sie ist insgesamt fast achtzehn Kilometer lang und verbindet die Reichen und die Armen, die Gläubigen und die Weltlichen, Tradition und Moderne. Doch die Leben der Menschen an ihren beiden Enden scheinen durch Jahrhunderte voneinander getrennt zu sein.

Die Straße wurde von Schah Reza erbaut, obwohl er 1921, als die Bauarbeiten begannen, noch nicht König war. Erst nach einem Militärputsch, mit dem Schah Ahmad, der letzte Herrscher der Kadscharen, abgesetzt wurde, nahm die Straße Formen an. Obsthaine und wunderschön gestaltete Gärten, die Aristokraten, Staatsmännern und Prinzen aus dem Haus der Kadscharen gehörten, wurden zerstört, um ihr Raum zu schaffen, wenngleich Schah Reza die besten Grundstücke für sich und seine Familie sicherte. Es dauerte noch weitere acht Jahre, bis die Straße fertiggestellt war, denn sie wurde nach Norden hin verlängert, um die Paläste des Schahs miteinander zu verbinden: die Winterresidenzen im wärmeren Süden der Stadt und die Sommerresidenzen, die in den kühleren Bergen im Norden lagen.

Die Straße war Teil von Schah Rezas umfassendem Reformprogramm, denn er wollte den Iran zu einem modernen Land umgestalten. Sie sollte zum Glanzstück des Mittleren Ostens werden: großartig und ehrfurchtgebietend, mit der Vornehmheit und Schönheit baumgesäumter französischer Boulevards und der Majestät einer breiten römischen Straße. Schah Reza beaufsichtigte persönlich die Pflanzung von etwa achtzehntausend Platanen. Er benannte die Straße nach sich selbst: Pahlevi.

Als Schah Rezas Sohn, Schah Mohammed Reza, 1979 durch die Islamische Revolution gestürzt wurde, benannten die gegnerischen Nationalisten die Straße um in Mossadegh-Straße, zu Ehren des ehemaligen iranischen Premierministers Dr. Mohammed Mossadegh, einem exzentrischen, in Europa ausgebildeten Rechtsanwalt, der durch einen von der CIA unterstützten Staatsstreich abgesetzt wurde, als er versuchte, das iranische Öl zu verstaatlichen, was ihn zu einem Volkshelden machte. Dieser Name hielt sich beinahe ebenso lange wie seine Amtszeit – etwas über ein Jahr. Der Pate der Revolution, Ajatollah Ruhollah Chomeini, wollte es unter keinen Umständen zulassen, dass die berühmteste Straße des Landes nach einem Mann benannt blieb, der vielmehr für den persischen Nationalismus als für den Islam stand und den er um seine Popularität beneidete. Chomeini ordnete an, die Straße solle Valiasr heißen, was auf Arabisch so viel bedeutet wie »Prinz der Zeit« und sich auf den ehrwürdigen Imam Mahdi bezieht, auch bekannt als Imam Zaman, den letzten der zwölf schiitischen Imame, von dem viele Schiiten glauben, er verkörpere den letzten Erlöser der Welt. Die Wiederkehr dieses Messias werde eine neue Ära des Friedens und des wahren Islams ankündigen, doch bis dahin würde der letzte Erlöser im Verborgenen bleiben. Ein passender Name für eine Straße, die das Symbol für eine Stadt ist, die unter der Herrschaft des Islams so viel von ihrer ursprünglichen Lebenskraft eingebüßt hat.

Es geschieht mitten in der Nacht. Keiner weiß genau, um welche Zeit oder wie viele Männer daran beteiligt sind. Doch am nächsten Morgen spricht jeder darüber. Die Beweise sind entlang der Valiasr-Straße verstreut: Dutzende von Baumstümpfen ragen aus dem Asphalt. Städtische Arbeiter mit Kettensägen haben über vierzig Platanen abgesägt. Die Teheraner beschweren sich. Sie schreiben Briefe, rufen im Büro des Bürgermeisters an, machen Fotos. Sie twittern und legen eine Webseite bei Facebook an. Die Story macht Schlagzeilen. Eine bekannte Gruppe von Menschenrechtlern behauptet, es seien noch weitaus mehr Bäume gefällt worden. Eine Gruppe, die sich für den Schutz von Kulturgütern einsetzt, bezeichnet das Abschlachten der »unschuldigen« Bäume als Akt der Verwüstung. Radio Farhang, ein landesweiter Radiosender, wird während einer Livesendung mit Anrufen überschwemmt. »Jeder einzelne Baum bedeutet eine Erinnerung für mich. Wenn die Bäume gefällt werden, werden meine Erinnerungen sterben. Es ist, als würden sie meine eigene Seele beschneiden«, sagt eine weinende Frau mit der Leidenschaft und Dramatik, die typisch für den Iran ist. Die Teheraner sind aufgebracht.

Ein Kriegsveteran, der seine Beine verloren hat, nimmt seinen üblichen Platz auf dem Bürgersteig in der Nähe des Mellat-Parks im Norden der Valiasr-Straße ein. Er legt seine schmutzigen Krücken neben sich und breitet seine Waren auf dem Boden aus: Batterien unterschiedlicher Größe und Farbe. Eine riesige Ratte huscht hinter ihm über den Rinnstein. Ein Musikstudent, der seine Geige über der Schulter trägt, hat von den gefällten Bäumen gehört und ist gekommen, um sich das Ganze anzusehen.

»Ich bin zumindest in den Krieg gezogen, aber was hat der arme Baum getan, dass er dasselbe Schicksal verdient hat wie ich?«, scherzt der Veteran. Der junge Mann lächelt und wendet sich nach Norden, in Richtung von Bagh Ferdows, einem öffentlichen Park, der sich vor einem eleganten Kadscharen-Palast befindet. Hier will er nachdenken und das Treiben auf der Valiasr-Straße betrachten. Er setzt sich auf eine Bank, öffnet seinen Laptop und spielt eine Liveaufnahme von Mozarts »Requiem« ab. Ein alter Mann in einem dreiteiligen Anzug kommt dazu, er setzt sich ans andere Ende der Bank, um die wunderbare Musik hören zu können, die sich über die Geräusche der Stadt legt.

Dort, wo die Valiasr-Straße sich dem Stadtzentrum nähert, in der Nähe der Jomhuri-Straße, bearbeitet ein bärtiger Mann in grünen Turnschuhen und einem roten Hemd sein Akkordeon, er spielt traurige persische Weisen für die Pendler, die in ihren Autos festsitzen. Wenn jemand ihm einen Geldschein gibt, fischt er einen Streifen Papier aus seiner Gürteltasche, auf dem seine Internetseite notiert ist – ein Blog über die Schlechtigkeiten der Welt: den Teufel, Materialismus und unsere Sexbesessenheit.

Nahe dem südlichsten Ende der Valiasr-Straße ist der Verkehr zum Erliegen gekommen. Doch das liegt nicht etwa an der Rushhour. Tausende haben sich in der Kälte vor einer Moschee versammelt, auf dem Bürgersteig und auf der Straße; innen ist kein Platz mehr. Ein Begräbnis. Männer tragen zwei Meter hohe Gestecke aus weißen...