DIE WAHRHEIT - Thriller

von: Melanie Raabe

btb, 2016

ISBN: 9783641185251 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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DIE WAHRHEIT - Thriller


 

Sommer 2008

Der Moment unmittelbar davor, dachte er, der Augenblick, in dem man schon weiß, dass es geschehen wird, in dem es aber noch nicht geschieht. Der ist alles.

Es wirkte wie eine dieser fließenden Bewegungen, deren scheinbare Mühelosigkeit Ballerinas erst nach Jahren der Übung erreichen – und gleichzeitig vollkommen spontan. Als folgten sie einer geheimen Verabredung, die keiner Sprache bedurfte, begannen sie, ihre Köpfe zu drehen, er seinen blonden in die eine, sie ihren dunklen Lockenkopf in die andere Richtung. Dann trafen sich ihre Lippen.

Es war ein allererster Kuss, das sah er sofort. Die Aufregung, die zwischen den beiden vibrierte, war mit Händen zu greifen.

Er wird sich wundern, wie weich ihre Lippen sind, dachte Philipp, während er dem jungen Pärchen, das ihm schräg gegenübersaß, aus den Augenwinkeln zuschaute. Jedes Mal, wenn man eine Frau zum ersten Mal küsst, wundert man sich, wie weich ihre Lippen sind. Egal, wie viele Frauen man schon geküsst hat, es erstaunt einen jedes Mal aufs Neue.

Die beiden waren ganz alleine auf der Welt, um sie herum gab es keinen Boardingbereich voller Menschen, von denen neugierige Blicke ausgingen, kein Terminal und keinen Flughafen, kein Hamburg, kein Land, keine Welt – nur sie beide, Wärme, Feuchtigkeit, Atem, Lippen. Perfektion, Schwerelosigkeit.

Natürlich waren das nur biochemische Prozesse, die da abliefen, im Grunde überprüften die beiden lediglich instinktiv durch den Austausch von Speichel, wie kompatibel ihre Gene waren, mehr war nicht dran am Küssen, alles andere ist Esoterik, Schall und Rauch, dachte Philipp und wandte endlich den Blick ab. Augenblicklich wurden die Flughafengeräusche um ihn herum wieder lauter, als hätte jemand schlagartig die Lautstärke hochgedreht. Die leisen Gespräche, die Durchsagen, klappernde Absätze, Handyklingeln und Gelächter drangen wieder ungefiltert an seine Ohren. Philipp erhob sich von seinem Sitz im Wartebereich am Gate und tat ein paar Schritte.

Heute ist mein elftausendachthundertundfünfundsiebzigster Tag auf Erden, dachte er. Elftausendachthundertundfünfundsiebzig Mal wach werden. Die Augen aufschlagen, immer die eine Frage im Hinterkopf: Was für ein Tag wird das heute? Dann den kompletten Tag durchleben und wieder schlafen gehen. Elftausendachthundertundfünfundsiebzig Mal daliegen und träumen.

Seit ein Jugendfreund von ihm einst statt seinem Geburtstag seinen elftausendeinhundertundelften Tag auf Erden gefeiert hatte, rechnete Philipp ab und zu nach.

Er sah den Flugzeugen beim Starten und Landen zu und überlegte, wo er stand. Es war ihm schon immer wichtig gewesen, Bilanz zu ziehen.

Ich hatte eine halbwegs glückliche Kindheit, dachte er. Ich habe meine Teenagerjahre ohne größere Katastrophen überstanden. Ich war sieben Mal verliebt, bevor ich meine Ehefrau traf. Ich habe BWL studiert. Meinen Vater begraben. Ich habe geheiratet, ich habe einen Sohn gezeugt. Ich leite ein großes Unternehmen, und ich mache das gut.

Ein erfülltes Leben.

Aber das ist noch nicht alles, dachte er. Ich habe noch etwas anderes getan.

Philipp fuhr sich mit der Hand durchs Haar, sehnte sich ganz plötzlich nach einer Zigarette, obwohl er seit Jahren nicht geraucht hatte.

Er kaufte eine Packung und gesellte sich zu den anderen stummen Gestalten in der Raucherlounge.

Der Abschied von Sarah wollte ihm nicht aus dem Kopf.

Er hatte es ihr wieder nicht gesagt. Hatte seinen Kaffee getrunken und dem Kind zugesehen, das mit Sarahs Hilfe durch die Küche tapste, auf seinen speckigen Beinen, die älteren Damen für gewöhnlich spitze Schreie des Entzückens entlockten. Hatte ihm zugeschaut, wie es beinahe über den Rand des cremefarbenen Teppichs gestolpert war, sich fing, weiter voranstrebte. Kurz war Philipp der Gedanke gekommen, was für ein Wunder es doch war, eine Frau und ein gesundes Kind zu haben, und dass er Dankbarkeit empfinden sollte, doch wie die meisten helleren Gefühle hatte sich auch dieses nicht so recht einstellen wollen.

Das ist die Strafe, hatte er gedacht. Ich wusste, dass ich auf irgendeine Art und Weise bestraft werden würde für das, was ich getan habe, und das ist nun die Strafe.

Sarah wandte sich zu ihm um, als hätte sie seinen Blick im Rücken gespürt, rang sich ein Lächeln ab.

Frag mich, dachte er. Frag mich, ob ich okay bin. Wie es mir geht, irgendwas. Stell mir irgendeine von den blöden Fragen, die mich früher immer so genervt haben.

Doch Sarah hatte geschwiegen. Wieder einmal. Hatte sich mit dem Kind beschäftigt und ihn nicht mehr angesehen. In ihrem langen, offenen Haar war noch der Abdruck des Gummibands zu sehen gewesen, dort, wo es über Nacht zusammengehalten worden war. Er hätte es gerne berührt, ihr Haar. Auf dem Tisch hatten bunte Blumen gestanden, Ranunkeln, wenn er sich nicht irrte, der einzige Farbtupfer im monochrom cremefarben eingerichteten Raum. Das ganze Haus war so furchtbar beige, das war ihm früher nie aufgefallen. Als wäre etwas gekommen und hätte allen Dingen die Farbe entzogen. Lange Zeit hatten sie nichts an der Einrichtung, die seine Mutter ganz nach ihrem Geschmack gestaltet hatte, geändert, aus Respekt vor Constanze, die sich nach ihrem Umzug in eine kleinere, altersgerechte Wohnung immer mal wieder selbst zum Tee eingeladen und über die geringste Veränderung in »ihrem« Haus beklagt hatte. Und dann hatten sie es wohl irgendwann einfach aufgegeben, hatten sich eingerichtet in der hanseatischen Kühle, in der cremefarbenen Noblesse, die zu Constanze passte, aber nicht zu ihm – und zu seiner bodenständigen Frau, die kräftige Farben liebte, schon gar nicht. Beigefarbene Polstermöbel, viel altes Holz, gerahmte Stiche nautischer Motive an den Wänden.

Die Blumen, die Sarah Woche für Woche vom Markt mitbrachte, waren das Einzige, das den Räumen Farbe verlieh.

Er wunderte sich, dass sie immer noch die Zeit für diese Kleinigkeiten fand. Schöne, sinnlose Tätigkeiten. Blumen kaufen. Sie anschneiden und in Vasen arrangieren. Aber vielleicht waren es gerade diese vielen kleinen, scheinbar sinnlosen Tätigkeiten, die Sarah zusammenhielten.

Äußerlich war alles wie immer, doch die Dinge hatten ihre Selbstverständlichkeit verloren, nach dieser … dieser Sache. Er wusste nichts mehr. Nicht, wie man seiner Ehefrau übers Haar strich oder sie zum Abschied küsste, nicht, wie man mit seinem einjährigen Kind spielte, manchmal noch nicht einmal mehr, wie man ein- und ausatmete. Er fragte sich, wann die Dinge begonnen hatten, so aus dem Ruder zu laufen. Wirklich erst in dieser einen, verhängnisvollen Nacht? Oder bereits davor?

Philipp hatte beim Abschied mit sich gerungen.

Sollte er es ihr sagen? Er kämpfte mit sich. Sah den Zeigern der Küchenuhr bei der Verrichtung ihrer Arbeit zu, so lange, bis es zu spät war für das Gespräch, das er hätte führen müssen. Er hatte Sarah einen Kuss auf die Stirn gegeben und sich zum Gehen gewandt.

Sarah hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, ihn zur Tür zu begleiten und ihm hinterher zu blicken, wenn er zu einer längeren Reise aufbrach. So viele Male hatte sie in der Tür gestanden und gewinkt, bis er außer Sichtweite war. Hatte er beim Einsteigen ihre Blicke im Rücken gespürt. Hatte er Sarah im Rückspiegel gesehen, wie sie kleiner und kleiner wurde, während er davonfuhr. Am Anfang hatte er das süß gefunden, dann war es ihm egal geworden, irgendwann fand er es albern, schließlich nahm er es gar nicht mehr wahr. Aber an diesem Tag war er froh über dieses Ritual. Es bedeutete, dass sie ihn noch liebte, und inzwischen war ihm bewusst, dass das nicht selbstverständlich war.

Und irgendwie hatte er es – vor dieser kurzen Geschäftsreise, die anstrengend werden würde – schön gefunden zu wissen, was jetzt kommen würde. Diese kleine, liebevolle Geste, die sagte: Egal, was wir einander an den Kopf geworfen haben, egal, wie viel Sand Constanze ins Getriebe gestreut hat, vollkommen gleich, was alles geschehen ist: Wir funktionieren noch. Dafür bin ich dankbar, hatte er gedacht und sich gefreut, als ihm klar geworden war, dass er doch noch zu einer solchen Regung fähig war.

Er war über die Schwelle getreten, hatte Sarahs Blick im Rücken gespürt wie immer, und er hatte sich vorgenommen, dieses Mal etwas zu tun, was er noch nie getan hatte, weil es ihm immer ein wenig albern vorgekommen war. Er nahm sich vor, in seinen Mercedes zu steigen wie immer, den Motor zu starten wie immer, loszufahren wie immer – und dann die Fahrerscheibe herunterzulassen und Sarah zurückzuwinken. Und sie würde es sehen, und sie würde wissen, dass er sie noch liebte. Und sie würde lächeln. Ungezwungen. Wie früher.

Philipp war die Treppe vorm Haus hinabgegangen, hatte sich zu Sarah umgewandt, gelächelt – und hatte gerade noch gesehen, wie sie die Tür schloss und im Haus verschwand. Einfach so. Kein Winken, keine Sarah. Kein Ritual. Kein Trost. Nur eine blütenweiße Tür mit der Hausnummer 11 daneben.

Während er die Stufen zur Straße genommen hatte, da hatte er den Herbst in der Luft bereits schmecken können – winzige Partikel von erstem Frost und verwesenden Blättern – so wie Katzen es angeblich rochen, wenn Sterbenskranken der Tod nahte. Als er im Auto zum Flughafen gefahren war, hatte es zu regnen begonnen. Der Regen verband Himmel und Erde in grauen Schnüren, so dick wie Gitterstäbe.

Philipp drückte seine Zigarette aus, von der ihm flau im Magen geworden war, und setzte sich wieder in den Wartebereich am Gate, dieses Mal so weit wie möglich von dem verliebten Pärchen entfernt. Die meisten der schwarzen Kunstledersitze waren von Geschäftsleuten...