Glückssterne - Roman

von: Claudia Winter

Goldmann, 2016

ISBN: 9783641166120 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 4,99 EUR

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Glückssterne - Roman


 

Zwei

Als Kind war mir das Haus meiner Großmutter Adele von Meeseberg immer wie ein verwunschenes Schloss aus dem Märchen vorgekommen – wobei ich mir nie sicher war, ob es von einer guten oder einer bösen Königin bewohnt war.

Auch wenn ich mittlerweile dreißig Jahre alt und somit eindeutig erwachsen war, beschlich mich nach wie vor dieses eigentümliche Gefühl aus Ehrfurcht und Verzauberung, sobald ich das eiserne Flügeltor passierte und die beiden Steinlöwen stumm auf mich herabblickten. Ich parkte mein Auto neben Mamas Audi unter dem alten Kirschbaum, der in voller Aprilblüte stand, und stieg aus. Fast schon automatisch legte ich den Kopf in den Nacken und schaute zu der weiß getünchten Fassade mit den Sprossenfenstern hinauf. In der Dachgaube befand sich ein ovales Fenster, umrahmt von einer steinernen Blütenranke – das einzige Element, das mit der barocken Architektur der Villa Meeseberg brach.

»Willst du da draußen Wurzeln schlagen, oder beehrst du uns heute noch mit deiner Anwesenheit?«, erklang eine raue, etwas heisere Stimme. Meine Großtante lehnte an einer der roten Steinsäulen des Eingangsportals und rauchte.

»Tante Bri! Ich dachte, du hättest aufgehört.«

Sie schaute auf ihre Hand und riss die Augen auf. »Huch! Wo kommt die denn her?« Eilig nahm sie einen letzten Zug, trat die Zigarette aus und klaubte den Filter mit spitzen Fingern vom Boden auf.

Ich kannte keine andere Frau ihres Alters, die derart elegant in die Knie gehen konnte. Ganz davon abgesehen, dass ich auch kaum Frauen ihres Alters kannte, die Kleider trugen, in denen man ihre Knie überhaupt sah.

Bri richtete sich auf und schnippte die Kippe in Großmutters kostbare Rosenrabatten. »Glaub mir, die dicke Luft da drinnen ist garantiert schädlicher als das bisschen Nikotin. Eine kluge Entscheidung von dir, zu spät zu kommen.«

»Das war keine Absicht. Der Verkehr …«

»Josefine, zerstör bitte nicht meine Hoffnung, dass du wenigstens einmal im Leben etwas Ketzerisches tust.«

»Ich dachte, dafür wären andere zuständig«, gab ich zurück und deutete vielsagend in Richtung der Rosen.

Bri rückte ihren Hut gerade, der vage an eine umgedrehte eierschalenfarbene Rührschüssel erinnerte. Sie trug ständig irgendeine neue Scheußlichkeit auf dem Kopf und provozierte damit zahllose Sticheleien. Doch meine Großtante hatte schon immer getan, was ihr beliebte, worin ihr meine Cousine Charlie nicht unähnlich war.

Wortlos hakte Tante Bri mich unter und dirigierte mich ins Foyer.

»Die ganze Sippe sitzt zusammen.« Sie deutete mit dem Kinn zum Salon und verdrehte die Augen. »Und wie üblich lässt die Entrüstung unseres Stammhalters den Kronleuchter wackeln.«

Mein Herz schlug schneller. Onkel Carl und Tante Silvia waren auch hier? Hatte die Nachricht von dem verschwundenen Ring meine Großmutter derart erschüttert, dass sie gleich den kompletten Familienrat einberufen hatte?

»Ist es sehr schlimm?«, flüsterte ich Bri zu, während wir auf die metallbeschlagene Flügeltür zusteuerten.

»Schlimm? Laut Carl ist deine Cousine von Mädchenhändlern entführt und an die russische Drogenmafia verkauft worden. Subtrahiert man allerdings die Details, die er hinzugesponnen hat, bleibt unterm Strich eigentlich nur ein verliebtes Mädchen, das mit einem Jungen durchgebrannt ist.« Sie zuckte die Schultern. »Das kommt in den besten Familien vor. Dennoch meint mein hysterischer Neffe, es handele sich um einen Fall für den Bundesnachrichtendienst, weil Charlotte nicht mehr ans Telefon geht.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen, was ein Glück für mich war, denn ich wäre sonst in die Rüstung meines Urahns Philipp hineingelaufen. »Moment mal. Verstehe ich das jetzt richtig? Wir sind wegen Charlie hier?«

Bri musste den Kopf zurückbiegen, um mich unter der Hutkrempe hervor prüfend anzusehen. »Weswegen sollte meine Schwester uns denn sonst mitten in der Woche wie Kühe zum Melken zusammentreiben? Noch dazu um diese Uhrzeit.« Ihr faltiger Mund verzog sich. »Es gibt nicht mal Kuchen.«

Mit feuchten Händen betrat ich hinter Bri den Salon und bemerkte als Erstes meine zerknirscht wirkende Mutter, die neben der aufgelösten Silvia auf dem Biedermeiersofa hockte. Charlies Mutter war von jeher nah am Wasser gebaut, und die geröteten Augen unter ihrem blondierten Pony waren ein gewohnter Anblick für mich.

»Fünfundzwanzigtausend Euro Studiengebühren. Für nichts! Denkt das Mädchen, ich sei ein Goldesel?«, dröhnte Onkel Carl, der mit geballten Fäusten vor dem Kamin auf und ab ging und alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine günstige Gelegenheit, um mich unauffällig zu Papa zu gesellen, der am Fenstersims lehnte und das Lilienmuster der Tapete studierte. Wir nickten einander zu, und sein warmes Lächeln sorgte dafür, dass ich mich sofort besser fühlte. Bri steuerte die Hausbar an – in einem weiten Bogen um Carl herum und nicht ohne unterwegs ihre Schwester Li anzustupsen, die trotz der lautstarken Diskussion im Lesesessel eingenickt war.

»Charlotte ist vierundzwanzig. Vier-und-zwan-zig! Da möchte man denken, meine Tochter sei alt genug, um das Leben nicht für ein verdammtes Computerspiel zu halten, bei dem man mal eben kurz die Pausetaste drückt, um sich mit einem dahergelaufenen Penner nach Schottland abzusetzen.«

»Mäßige deinen Ton, Sohn«, erklang die schneidende Stimme meiner Großmutter.

Onkel Carl blieb abrupt stehen und zeigte anklagend auf Silvia. »Charlotte gehört ins Internat, das habe ich dir immer gesagt.«

Silvia schluchzte auf, woraufhin Mama leise auf sie einredete, als wäre sie ein verstörter Hundenotfall. Meiner stummen Frage wich Mama mit gesenktem Blick aus, was meine Ahnung bestätigte, dass sie die Katze bisher nicht aus dem Sack gelassen hatte. Charlie hatte es also wieder mal geschafft, die komplette Familie in Aufruhr zu versetzen. Dabei war sie nicht mal anwesend.

»Schottland ist bezaubernd. Und so romantisch. Die sattgrünen Wiesen mit all den Schafen und die schroffen Klippen … Man sollte allerdings auf wetterfeste Kleidung achten, wenn man sich keinen Schnupfen holen will. Es regnet ziemlich oft, habe ich gelesen«, meldete sich Tante Li zu Wort, woraufhin Bri sich fast an ihrem Scotch verschluckte.

Ich verkniff mir ein Grinsen. Li war einfach hinreißend arglos und das in jeder Beziehung.

Carl atmete scharf ein, wobei seine Zigarrenraucherlunge pfiff und die Hemdknöpfe spannten. Er hatte mindestens fünf Kilo zugenommen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte.

»Bei allem Respekt, Lieselotte, deine Reisetipps kannst du dir getrost …«

»Setz dich, Sohn. Und du, Silvia, reiß dich bitte zusammen.«

Meine Großmutter war keine große Frau. Aber nachdem sie sich aus dem Lehnstuhl erhoben hatte, war ich nicht die Einzige, die für einen Moment vergaß zu atmen. Sogar Papa, den sonst wenig einschüchterte, schien kurz davor zu salutieren. Adele von Meeseberg war weit über achtzig. Trotz ihrer gebeugten Haltung hatte sie nichts von ihrer Anmut und dem Stolz eingebüßt, der Frauen zu eigen war, die auf ein Leben in der gehobenen Schicht zurückblicken durften – und es gewohnt waren, anderen Menschen Anweisungen zu erteilen.

»Könnten wir die Angelegenheit bitte sachlich besprechen?«, sagte sie ruhig in die Stille hinein.

»Jemand einen Drink?« Bri klimperte mit den Eiswürfeln in ihrem Glas.

Für einen winzigen Augenblick war ich versucht, die Hand zu heben, doch aus irgendeinem Grund traute ich mich nicht.

»Muss noch fahren«, grummelte Carl, dabei wusste jeder, dass er es sonst auch nicht sonderlich genau mit dem Thema Alkohol am Steuer nahm.

Tante Li wies bedauernd auf den geblümten Teebecher auf dem Beistelltisch, der Rest verneinte mehr oder weniger entrüstet. Zu gern hätte ich in diesem Moment gewusst, was in meiner Großmutter vorging, denn das winzige Zucken ihrer Mundwinkel war mir nicht entgangen.

»Charlie hat ihr Studium abgebrochen«, sagte Bri, während sie ihr Glas füllte. »Genauer gesagt wurde sie exmatrikuliert, weil sie offenbar die erforderlichen Prüfungen versemmelt hat.«

»Sie ist durchgefallen, weil sie seit sechs Monaten keinen Fuß mehr über die Schwelle des Hörsaals gesetzt hat«, ergänzte Carl.

»Betriebswirtschaftslehre hat sowieso nicht zu ihr gepasst. Hättest du sie damals gelassen, besäße sie jetzt zumindest eine Berufsausbildung.«

»Eine von Meeseberg, die anderen Leuten das Essen kocht? Nur über meine Leiche.«

»Sei kein Snob.« Bris Augen funkelten. »Heutzutage kann man es als begabter Koch weit bringen.«

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, das Charlotte die Disziplin aufbringt, sich in die Spitzengastronomie hochzuarbeiten.«

»Wenn man tut, was man liebt, erreicht man oft eine ganze Menge«, versetzte Bri, und insgeheim gab ich ihr recht.

Wenn Charlie nicht gerade in irgendeiner Kellernische auf Spinnenjagd gegangen war, hatte sie früher stundenlang in der Küche geholfen und war bis heute eine leidenschaftliche Bäckerin. Besonders ihr Käsekuchen war eine echte Offenbarung. Ein Jammer, dass sie ihrem Vater nie auf diplomatische Art klarmachen konnte, was sie wollte. Aber meine Cousine setzte auf Rebellion – das tat sie schon, seit der erste zornige Babyschrei aus ihrem Mund gekommen war.

Bri nahm einen großen Schluck von ihrem Drink. »Jedenfalls ist das Mädchen von dieser schicken Privatuni geflogen und hat das Apartment an eine Kommilitonin untervermietet, die wiederum behauptet, Charlie sei nach...