Hedwig Courths-Mahler - Folge 128 - Wo ist Eva?

von: Hedwig Courths-Mahler

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732521593 , 80 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 1,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Hedwig Courths-Mahler - Folge 128 - Wo ist Eva?


 

Eva Malten verließ langsam, mit müden Schritten das Haus, in dem sie in den letzten Monaten gewohnt hatte. Ein sehr bescheidenes Zimmerchen hatte sie bei der Witwe eines Postbeamten inne gehabt. Dann konnte sie die Miete nicht mehr bezahlen, und Frau Körner hatte selbst kaum das Nötigste zum Leben. Sie musste Evas Zimmer weiter vermieten an einen zahlungskräftigen Mieter und behielt auch Evas wenige Habseligkeiten als Pfand zurück. Jeder ist sich selbst der Nächste! Nur ein wenig Wäsche und das schon recht abgetragene Seidenkleidchen, das Eva besaß, befand sich in dem Köfferchen, das sie zurücklassen musste. Das Schlimmste jedoch war, dass Frau Körner auch die Violine zurückbehielt, die Eva von ihrem verstorbenen Vater erbte. Das heißt, eine sichere Todesnachricht bekam sie nie von ihrem Vater, wie sie ihn ja auch nie in ihrem Leben gesehen hatte; denn als sie auf die Welt kam, war der Vater schon aus ihrem und ihrer Mutter Leben verschwunden. Er musste die Mutter verlassen, um drüben über dem großen Teich sein Glück zu versuchen. Es war ihren Eltern sehr schlecht gegangen, so schlecht vielleicht wie ihr jetzt. Und der Vater hatte seine junge Frau in der Obhut einer verheirateten Schwester zurückgelassen, der es etwas besser ging und die der Schwägerin Unterkunft gewähren wollte, bis sie ihrem Mann nachfolgen konnte.

Alles, was ihre Eltern besaßen an Hausrat und dergleichen, war damals zu Geld gemacht worden, um dem Vater die Überfahrt zu ermöglichen. Nur seine Violine hatte Vater nicht verkaufen wollen, weil sein Herz daran hing. Er ließ diese Violine in der Obhut seiner Frau und reiste mit dem Versprechen ab, seine Frau nachkommen zu lassen, sobald er sich eine bescheidene Daseinsmöglichkeit geschaffen haben würde. Die Mutter litt unter dieser Trennung, hatte dem geliebten Mann aber den Abschied nicht noch schwerer machen wollen, als er ohnedies war. Deshalb zeigte sie sich mutig, sie wollte schon durchhalten, bis er sie zu sich rufen konnte. Und sie verschwieg ihm deshalb auch, dass sie Mutter wurde, sie wollte ihn nicht mit dieser doppelten Sorge belasten.

So war Evas Vater in die Welt hinausgegangen, und die Mutter war bei der einzigen Schwester zurückgeblieben. Diese Schwester aber starb wenige Wochen später, und ihr Mann musste nun froh sein, dass Evas Mutter ihm die Wirtschaft besorgen konnte.

Evas Mutter, Marianne Malten, wartete, in tiefer Trauer um die Schwester, sehnsüchtig auf eine Nachricht von ihrem Mann; sie bekam auch ein Schreiben, in dem er ihr seine Ankunft in Florida meldete, wo er hoffte, eine Anstellung an einer Musikschule zu finden. Er bewarb sich um diese Stellung, und man hatte sie ihm in Aussicht gestellt, sofern er als Musiklehrer genügen würde. Und nun wartete Marianne Malten auf die Nachricht, dass ihr Mann diese Stellung erhalten hatte. Aber einige Wochen später kam ein Brief, in dem er ganz verzweifelt meldete, dass er die Stellung nicht bekommen habe, weil die sehr schlecht besuchte Musikschule inzwischen eingegangen war. Er bat seine junge Frau, Geduld zu haben, er müsse sich nun etwas anderes suchen. Um ihn nicht noch mehr zu beunruhigen, teilte ihm seine junge Frau noch immer nicht mit, dass sie ein Kind erwartete.

Es kamen im Lauf der nächsten Monate noch einige Briefe von ihm, in denen er nichts Gutes melden konnte. Der Daseinskampf war drüben noch schwerer als in der Heimat. Und er zog von Ort zu Ort und lebte von der Hand in den Mund, ohne daran denken zu können, seine junge Frau nachkommen zu lassen. Diese hatte ihm mitgeteilt, dass ihre Schwester gestorben sei, dass er sich aber nicht beunruhigen solle, sie führe dem Schwager die Wirtschaft und verdiene sich, was sie sonst brauche, durch feine Stickereien. Er möge ihretwegen nicht in Sorge sein, es würden schon wieder bessere Zeiten für sie beide kommen. So mutig, wie sie sich ihrem Gatten gegenüber zeigte, war Frau Marianne freilich nicht, sah sie doch der Geburt ihres Kindes entgegen. Und ihr Schwager lernte in dieser Zeit eine Frau kennen, die er zur Nachfolgerin von Mariannes Schwester machen wollte. So wusste Marianne, dass sie in kurzer Zeit heimatlos sein würde mit ihrem Kind. Aber das durfte ihr Mann nicht wissen.

Als Eva Malten dann in einem Entbindungsheim geboren wurde, hatte ihre Mutter schon seit zwei Monaten keine Nachricht mehr von ihrem Mann bekommen, was ihr große Sorge und Unruhe bereitete. Sein letzter Brief hatte ihr gemeldet, dass er mit einer Künstlertruppe nach Mexiko gehen wollte. Es sei eine kleine Operettengesellschaft, und wenn ihm diese Stellung auch keine Befriedigung bringen werde, vielleicht mache er sein Glück; es käme vielleicht für ihn eine Gelegenheit, sich in einem Konzert hören zu lassen. Einer seiner Kollegen habe ihm eine Violine geliehen, die einen wundervollen Klang habe, und er fühle es, dass ihm dieses Instrument Glück bringen werde.

Marianne Malten wusste zwar, dass ihr Gatte die Violine wundervoll zu meistern verstand – wie oft hatte sie seinen süßen Weisen gelauscht – aber durch die vielen Fehlschläge war sie so zermürbt und hoffnungslos, dass sie nicht mehr so recht daran glauben konnte, dass ihr Mann drüben Erfolg haben würde.

Sie konnte sich kaum freuen über die Geburt ihres kleinen Mädchens und fühlte sich unbeschreiblich matt und elend. Dazu kam, dass durch ein Versehen in der Anstalt einige Fälle von Kindbettfieber vorkamen, und auch Mariannes geschwächter Körper wurde von dieser Krankheit befallen. Sie starb, als ihr Kind nur wenige Tage alt war, und die kleine Eva hatte nun keinen Menschen, der zu ihr gehörte. Der Schwager ihrer Mutter war jedoch ein rechtlicher Mann, und seine zweite Frau wehrte sich nicht dagegen, dass er Eva zu sich nahm. Er schrieb an ihren Vater, an dessen letzte Adresse, die er angegeben hatte, dass seine Frau bei der Geburt seiner kleinen Tochter gestorben sei, dass er aber das Kind bei sich behalten wolle, bis er es eines Tages selbst zu sich nehmen könnte.

Der Brief kam als unzustellbar zurück.

Kurze Zeit darauf siedelte Frau Mariannes Schwager mit seiner zweiten Frau und der kleinen Eva nach der Schweiz über, wo die Eltern seiner zweiten Frau eine Schnittwarenhandlung besaßen. Diese Handlung übernahm Karl Vogt, Evas Pflegevater, weil sich seine Schwiegereltern zur Ruhe setzen wollten. Die junge Frau Vogt pflegte die kleine Eva sehr liebevoll, und da ihr selbst Kinder versagt blieben, wurde Eva von ihren Pflegeeltern wie ein eigenes Kind gehalten. Von ihrem Vater kam nie mehr eine Nachricht, er war verschollen, und Karl Vogt nahm an, dass er irgendwo ums Leben gekommen sei.

Eva wuchs auf, sich ganz als das Kind ihrer Pflegeeltern fühlend, die sie in eine gute Schule schickten, ihr eine sorgsame Erziehung zuteil werden und ihr auch Violinunterricht geben ließen, da sich herausstellte, dass sie dazu eine große Begabung hatte.

In Eva lebte das Künstlerblut ihres Vaters. Sie wuchs weit über die geistigen Grenzen hinaus, die in der kleinen Schnittwarenhandlung gezogen waren. Ihre große Begabung überflügelte die engen Verhältnisse, in denen sie lebte, ohne dass sie es selbst so recht wusste. Es lag auch immer ein feiner Hauch von Fremdsein über ihr, so herzlich sie die Pflegeeltern liebte und so herzlich sie von ihnen geliebt wurde. Die Eltern von Frau Vogt waren nun längst gestorben, aber Frau Vogt musste sich das Erbe mit einer jüngere Schwester teilen, die auch verheiratet war. Aber als erst Karl Vogt und wenige Jahre später auch seine Gattin starben, stellte sich heraus, dass Eva nun plötzlich vor dem Nichts stand. Die Schwester ihrer Pflegemutter übernahm die Schnittwarenhandlung und setzte ziemlich kaltblütig Eva den Stuhl vor die Tür. Sie habe lange genug Wohltaten von ihrer Schwester empfangen und möge nun für sich selber sorgen, sie sei ja mit ihren neunzehn Jahren alt genug, um auf eigenen Füßen stehen zu können.

Da trat plötzlich die Not des Lebens an Eva heran. Ein Testament, das ihr irgendwelche Rechte gab, hatten die Pflegeeltern nicht hinterlassen, und sie hatte auch nicht gelernt, für sich selbst zu sorgen. So plötzlich stand sie nun heimat- und mittellos im Leben, dass sie nicht wusste, was sie beginnen sollte. In Basel, wo sie mit ihren Pflegeeltern gelebt hatte, wollte sie nicht bleiben; sie wollte mit den herzlosen Verwandten ihrer Pflegemutter nichts mehr zu tun haben. So packte sie ihre Habseligkeiten zusammen und ging nach Zürich, wo sie erst einmal eine bescheidene Wohnung bezog. Da sie kein Geld hatte, musste sie alles, was sie besaß, nach und nach verkaufen. Aber so sparsam sie sich auch einrichtete, sah sie doch ein, dass auch diese einfache Unterkunft noch zu kostspielig war. Denn all ihre Bemühungen, irgendeine Stellung zu finden, schlugen fehl. Eine furchtbare Angst vor der Zukunft überkam sie. Vor allem versuchte sie, sich noch bescheidener einzurichten, und mietete das kleine Zimmer bei Frau Körner, wo sie sich auf das Notwendigste an Kost beschränkte. Aber mehr und mehr schwand dahin, was sie besaß; ein Stück nach dem anderen musste sie verkaufen, um ihr Leben fristen zu können. Tag für Tag versuchte sie, eine Anstellung oder eine Verdienstmöglichkeit zu finden, nichts wollte ihr gelingen, so bescheiden sie auch geworden war. Jede Arbeit hätte sie gern verrichtet, aber niemand gab dem blassen, verschüchterten Mädchen Arbeit. Sie war ja so unerfahren im Lebenskampf und wurde überall von tüchtigeren Lebenskämpfern verdrängt.

Und dann musste sie die Miete schuldig bleiben; sie besaß nichts mehr, was sie hätte zu Geld machen können, außer der Violine, die ihr verblieben war und von der sie sich nicht trennen wollte.

Bis Frau Körner mit ihren letzten Habseligkeiten auch die Violine pfändete und Eva obdachlos...