Wer Furcht sät - Detective Max Wolfes dritter Fall. Kriminalroman

von: Tony Parsons

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732529599 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Wer Furcht sät - Detective Max Wolfes dritter Fall. Kriminalroman


 

Prolog


Nach dem Gebet

Nach dem Freitagsgebet kehrte Mahmud Irani zu seinem geparkten Taxi zurück, und der Mann, der ihn töten würde, stieg schon wenige Minuten später zu ihm in den Wagen.

Der Mann stand am Eingang des Londoner Zoos und trug Anzug und Krawatte. Das Jackett hatte er trotz der glühenden Mittagshitze zugeknöpft. Eine dunkle Sonnenbrille verbarg seine Augen, und er hielt einen Arm schon in die Luft, ehe Mahmud ihn sah, als wäre er vollkommen zuversichtlich, dass sein Taxi unmittelbar nach dem Gebet die Ringstraße um den Regent’s Park entlangfahren würde, als hätte er gewusst, dass Mahmud kommen würde. Als hätte er auf ihn gewartet. Mahmud hielt neben ihm, und der sommerliche Tiergestank des Zoos stieg ihm in die Nase. »Nur bar, Chef«, sagte Mahmud.

Der Mann nickte und blickte auf sein Handy, dann hielt er Mahmud sein iPhone vor die Nase. Auf dem Display sah er einen Stadtplan mit einer roten Markierung: das Fahrtziel.

Newgate Street, EC1.

Keine vier Meilen, aber man musste im zähen Mittagsverkehr die Innenstadt durchqueren. Mahmud grunzte zustimmend und beobachtete, wie der Mann hinten einstieg. Schweigend fuhren sie durch die Bullenhitze. Als Mahmud in die Newgate Street einbog, sah er im Rückspiegel, wie sein Fahrgast ein kleines Kreditkartenetui aus Leder zückte. Mahmud seufzte. Wie oft musste man es diesen dummen Menschen eigentlich sagen?

»Nur bar«, wiederholte er mit größerem Nachdruck und zupfte an seinem Polohemd, das vor Schweiß an der Haut klebte. Der Mann zog jedoch keine Kreditkarte aus dem Etui. Er beugte sich zwischen den Vordersitzen nach vorne und setzte eine altmodische Rasierklinge fest auf Mahmud Iranis rechtes Augenlid. Mahmud schnappte nach Luft und wagte nicht, wieder auszuatmen.

Der dünne, kalte Stahl der Schneide schmiegte sich in die weiche, faltige Haut unterhalb der Augenbraue. Wild flatterte das dünne Lid, das seinen Augapfel schützte, unter der Rasierklinge. Nackte Angst stieg in ihm auf.

»Bitte«, sagte Mahmud. »Bitte. Nehmen Sie das Geld. Es ist unter meinem Sitz.«

Der Mann lachte.

»Ich will Ihr Geld nicht. Fahren Sie weiter. Schön ruhig und umsichtig.«

Wie im Traum fuhr Mahmud mit einem zugekniffenen Auge, versuchte sich auf die Straße zu konzentrieren, während ihm eine Rasierklinge auf das rechte Lid gedrückt wurde. Wie der Mann befahl, bog er am Ende der Straße auf eine große Baustelle ab. Sie war menschenleer, eine der kleinen Oasen aus vollkommener Stille und Leere, die einen mitten in der Stadt überraschen können. Ein weiterer Turm aus Stahl und Glas wurde hier errichtet, aber an diesem Nachmittag arbeitete niemand daran. Sie waren ganz allein. Im unebenen Boden klaffte vor ihnen ein Loch.

»Da runter«, sagte der Mann.

»Ich habe Frau und Kinder.«

»Dafür ist es jetzt zu spät.«

Die Rasierklinge drückte fester auf Mahmuds Lid, und er spürte, wie sein Augapfel sich bewegte, ein widerliches Wegrollen, als zuckte das Auge vor der Schneide zurück. Mahmud lenkte den Wagen in das Loch und abwärts, holperte über eine Bremsschwelle und über Schutt, ehe er in ein ausgedehntes, halbdunkles Kellergeschoss kam.

Was war das hier?

Mahmud konnte nicht sagen, ob es einmal eine Tiefgarage gewesen war oder in Zukunft zu einer werden sollte. Im Moment war es nur eine weite, leere Halle mit sehr niedriger Decke, ein unterirdischer Kellerraum ohne Beleuchtung bis auf die Sommersonne, die irgendwo hereinschien.

»Wo fahren wir hin?«, fragte Mahmud. Er konnte nicht aufhören zu reden. Diesmal zog ihm der Mann die Rasierklinge ganz sanft über das Augenlid, nur einen Zoll weit, aber ausreichend, um das Gewebe zu ritzen und Mahmud mit dem plötzlichen Schmerz einen erschrockenen Aufschrei zu entlocken.

Warmes Blut quoll hervor, lief von der Wölbung des Augenlids ab und rann hinunter.

Danach sprach Mahmud kein Wort mehr.

Sie stiegen aus dem Wagen, und das war der Moment, in dem Mahmud dachte, dass er weglaufen könnte, wäre er nicht so starr vor Angst gewesen, so gelähmt vor Unglauben über das, was ihm widerfuhr, so verstört von dem warmen Blut, das ihm jetzt zu beiden Seiten des rechten Auges herunterlief, so zu Tode erschreckt, dass er seine Fluchtchance erst erkannte, nachdem sie bereits verstrichen war.

Der Mann stellte sich hinter Mahmud, die Rasierklinge ruhte wieder in der weichen Hautfalte über dem rechten Auge. Mit der anderen Hand ergriff er den Taxifahrer sanft beim Handgelenk.

Sie gingen durch den weiten Raum zu einer Tür.

Sie stiegen einige Stufen hinunter.

Die Luft wurde kälter.

Sie stiegen in vollkommene Dunkelheit und folgten einem schmalen Gang, bis ein dünner Strahl natürlichen Lichts von irgendwo hoch über ihren Köpfen einfiel. Mahmud konnte das alte weiße Mauerwerk sehen, das von Zeit und Witterung grüne Flecken bekommen hatte. Hier war es sehr kalt. Der Sommer war auf einem anderen Planeten. Es war, als betrete er eine fremde Welt.

Und dort waren die anderen.

Drei von ihnen.

Ihre Gesichter verbargen sie hinter schwarzen Masken, die nur ihre Augen freiließen.

Einer von ihnen hielt etwas mit einem roten Licht in der Hand.

Eine Kamera. Er richtete sie auf Mahmud Irani.

Mahmud erblickte einen Tritthocker. Einen Elefantenfuß für die Küche. Er begriff nicht, was geschah, als Hände ihm auf den Hocker halfen und ihm etwas um den Hals gelegt wurde. Er hatte Blut in den Augen, als er beobachtete, wie sich sein Fahrgast leise mit dem Mann unterhielt, der die Kamera führte. Mahmud wischte sich das Blut mit der Handfläche ab und versuchte, das Gleichgewicht zu halten; er hatte Angst, er könnte vom Hocker fallen.

Mit den Fingern betastete er nervös seinen Hals.

Es war ein Strick.

Sie hatten ihm einen Strick um den Hals gelegt.

Er blickte nach oben und sah, dass der Strick an einem Dreieck aus uralten rostigen Rohren unter der Decke festgebunden war.

Hände berührten ihn am Arm. Er hörte ein metallisches Schnappen. Man hatte ihm die Hände auf den Rücken gefesselt.

Jetzt sprudelten die Worte wie ein Wildbach aus ihm hervor. Jetzt hatte er gar keine Schwierigkeiten mit dem Sprechen mehr. Jetzt hätte ihm selbst die Rasierklinge an seinem Augapfel nicht mehr den Mund verschlossen.

»Ich habe Frau und Kinder!«, schrie er, und der Hall in dem geheimen Keller warf seine Stimme zurück.

Frau und Kinder!

Frau und Kinder!

»Ich bin doch nur ein Taxifahrer! Bitte! Sie haben den Falschen!«

Der Mann aus dem Auto zog sich eine schwarze Maske übers Gesicht. Wie ein Henker. Er wandte sich Mahmud Irani zu.

»Wissen Sie, weshalb Sie hierher aufs Schafott geführt worden sind?«, fragte er.

Mahmud konnte nur stottern. »Was? Aufs … was? Ich verstehe das nicht. Was sagen Sie da? Ich bin nur ein Taxifahrer …«

Aber dann blieben ihm die Worte im Hals stecken, denn jenseits des roten Lichts der Kamera klebte ein anderer Maskierter DIN-A4-Blätter an die verwitterten weißen Ziegel der unterirdischen Mauern.

Die Papierbögen zeigten Bilder, die aus dem Internet heruntergeladen worden waren.

Ausnahmslos waren es Gesichter von Mädchen. Kleinen Mädchen. Lächelnden Mädchen.

Und ja, sie lächelten alle, jede Einzelne – die einen steif und schüchtern, andere hingegen natürlich und voller Selbstbewusstsein.

Jede lächelte auf ihre eigene Art. Die Schulfotografen hatten auf das Lächeln gewartet, die Mädchen dazu ermutigt, hatten versucht, sie zu erheitern.

Es waren offizielle Fotos von der Sorte, wie Schulen sie jedes Jahr aufnehmen ließen, um die Entwicklung ihrer Schützlinge zu protokollieren und zu würdigen, und sie ertappten jedes Mädchen in jenem flüchtigen Moment seines Lebens zwischen dem Kind, das es einmal gewesen war, und der Frau, zu der es eines Tages werden sollte.

Die lächelnden Gesichter beobachteten Mahmud Irani.

Und er kannte diese Gesichter. Jedes einzelne.

Er hatte sie in Räumen voller lachender Männer gesehen. Er hatte die Mädchen um Hilfe rufen hören, ohne dass Hilfe kam. Er hatte sie am Rande der Bewusstlosigkeit erlebt, die Augen vom billigen Fusel und starken Schmerzmitteln glasig, teilnahmslos, als sie ihnen die Kleider herunterrissen.

Mit den anderen Männern hatte er die Mädchen verhöhnt.

Und jetzt klangen Bitterkeit, Verachtung und Wut aus seiner Stimme.

»Huren«, sagte er. »Billige Huren, die Schnaps und Drogen wollten. Schlampen, die sich selbst zur Schau stellen. Mädchen, die Männer mögen. Viele Männer. Typische Mädchen dieses Landes. He, hören Sie mir zu! Das sind keine anständigen Mädchen! Hören Sie mir gefälligst zu!«

Jemand trat gegen den Hocker, auf dem er stand.

»Huren«, stieß Mahmud Irani hervor, dann sagte er nichts mehr, kein weiteres Wort, denn der Hocker war weg, und der Strick um seinen Hals schnitt ihm tief, tief, tief in die Kehle. Wild trat er mit den Füßen, aber sie fanden nichts außer Luft.

Er beschmutzte sich augenblicklich.

Das rote Licht beobachtete ihn, wie er sich krümmte und verdrehte und wand, während das Seil mit jeder Sekunde tiefer in sein Fleisch schnitt.

Erst klemmte es ihm die Halsvene ab, dann die viel tiefer liegenden Schlagadern. Es unterbrach den Blutfluss ins Gehirn und aus dem Gehirn, und augenblicklich schwoll sein Hirn an, sodass Mahmuds Augen sich verdrehten und seine Zunge aus...