Träume aus Staub - Roman

von: Maja Winter

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2017

ISBN: 9783732530724 , 672 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Träume aus Staub - Roman


 

1. Staubwolke


Das Licht färbte die Steppe rot. Während die Sonne hinter die Bäume sank, die ihre dürren Zweige zu einem dornigen Wall verflochten, schien der Himmel zu brennen. Die verdorrten Gräser glühten, und Linua war von der Schönheit des Landstrichs, den sie und ihre Freunde durchquerten, überwältigt. Beinahe hätte sie vergessen können, dass sie sich auf der Flucht befanden.

Fast ihr gesamtes Leben lang hatte Linua in der dajanischen Wüste verbracht, in der geheimen Stadt Jerichar, deren Standort nur die Eingeweihten kannten, und das Lied dieses Landes war ihr vertraut. Die Stürme und der Gesang der Vögel, das Innehalten der Zikaden, der Rhythmus, den die Pferdehufe der Erde diktierten, und die Stille, die eintrat, bevor die Nacht mit ihrem Flüstern kam, mit dem Tappen samtiger Raubtierpfoten, dem Rascheln des Grases, wenn die kleinen Tiere aus ihren Löchern kamen, dem Rauschen dunkler Schwingen. Doch die Jahre in der Gefangenschaft hatten ihr feines Gehör für die Töne der Wildnis gestört. Sie hatte zu viele Schmerzen erlitten und die Qualen in einen Winkel ihres Geistes gesperrt, eine Fähigkeit, die jeder ausgebildete Wüstendämon beherrschte. Es war Linua bewusst, dass sie dabei eine Grenze überschritten hatte. Es war zu viel Schmerz gewesen, und er wohnte immer noch in ihr und dämpfte ihre Sinne. Früher hätte sie sofort gewusst, was die Verfärbung am Horizont zu bedeuten hatte. Im Norden ballten sich graue Wolken zusammen. Linua kniff die Augen zusammen, aber es war nicht zu erkennen, ob Regen nahte oder ein Staubsturm. Es mochte auch eine Reiterschar sein.

»Wir sollten unser Nachtlager aufschlagen«, sagte sie zu ihren Gefährten.

So eben die Steppe auch aussah, es war mörderisch, bei Nacht zu reiten und zu riskieren, dass die Pferde sich die Beine brachen. Nur wer die Wege kannte, die für das wissende Auge genau abgesteckt waren, konnte es wagen, die Dunkelheit zu ignorieren und den Sternen zu vertrauen. Der Gürtel der Tausend Monde würde schon bald sein mattes weißes Licht über das trockene Gras werfen, doch um die Löcher zu erkennen, die von Steppenhunden und Füchsen gegraben wurden, genügte das nicht. Der kleinste Fehler konnte verheerend enden.

»Wir sind noch nicht weit genug gekommen«, sagte Prinz Laikan. »Sie können uns einholen, und hier gibt es weit und breit keine Deckung. In das Dornengestrüpp krieche ich erst, wenn Teniras Armee anrückt.«

Von ihren drei Begleitern war der attraktive schwarzhaarige Prinz aus dem fernen Sultanat Nehess ihr am fremdesten geblieben, obwohl sein Motiv, sich am Aufstand gegen die mörderische Großkönigin zu beteiligen, ihr am einleuchtendsten schien. Seine Schwester war im Feuer gestorben, dem die ganze königliche Familie von Anta’jarim auf Teniras Befehl zum Opfer gefallen war, und deshalb hatte er die besten Jahre seines Lebens damit verbracht, gegen Tenira zu kämpfen. Rache war etwas, das Linua aufgrund ihrer Ausbildung zur Assassine sehr gut verstand.

»Karim und Selas werden bald zurückkommen, dann entscheiden wir, welcher Weg am sichersten ist. Wir müssen uns darauf verlassen, dass sie uns hier finden.« Lan’hai-yia, die Unerschrockene, die Unermüdliche, klang erschöpft.

Linua bewunderte die Gräfin von Guna zutiefst, und nicht nur, weil sie ihre Befreiung aus der Kerkerburg Katall den Rebellen verdankte. Die Frau an der Spitze der gescheiterten Rebellion gegen die unrechtmäßige Großkönigin von Le-Wajun war eine wirkliche Überraschung. Tapfer und stolz auf der einen Seite, doch auch freundlich und ohne Überheblichkeit auf der anderen – die Freundschaft, die Gräfin Lani ihr schenkte, war ohne Falsch.

Linua sprang vom Pferd und überprüfte rasch den Boden, solange das Licht noch ausreichte. Schlangen und Skorpione besetzten häufig verlassene Fuchsgruben oder die Tunnel der Steppenhunde, und auch wenn sie sich nach den Jahren in Le-Wajun noch nicht wieder heimisch fühlte, hatte sie die wichtigsten Regeln nicht vergessen.

»Alles sicher. Wir können hier rasten. Wer übernimmt die erste Wache?«

Herzog Sidon, der Vierte im Bunde, lachte leise. »Manchmal vergesse ich fast, dass du Kancharerin bist. Du kennst dich hier aus, wie man sieht. Wonach hast du eben gesucht?«

»Das wollt Ihr nicht wissen«, sagte Linua vielleicht ein wenig zu schroff. Der Herzog hatte etwas an sich, das sie nervös machte – vielleicht lag es an seinen eisblauen Augen, an dem durchdringenden Blick, der ihr das Gefühl gab, dass er sie durchschaute, möglicherweise auch an seiner Neigung, unpassende Fragen zu stellen und über Dinge zu lachen, die Ernst verlangten. Manchmal meinte sie, einen Schatten an ihm zu sehen, eine Dunkelheit, die über seinem Herzen lag.

»Du musst mich nicht schonen, Mädchen. Ich habe schon so einiges gesehen.« Er goss das mitgebrachte Wasser aus dem Schlauch in den verbeulten Kochtopf und gab seinem Pferd zu trinken. »Schlangen? Käfer?«

»Das auch. Und Füchse. Und Skorpione«, sagte Linua. »Und glaubt mir, auch wenn Steppenhunde niedlich anzusehen sind, Ihr möchtet Euch nicht auf ihren Bau setzen.«

»Im südlichen Lhe’tah gibt es ebenfalls Skorpione.«

»Aber nicht solche. Wenn diese Euch stechen, dürft Ihr miterleben, wie Euer Fleisch sich zersetzt, während Eure Haut unbeschadet bleibt.«

»Oh«, sagte Sidon.

Laikan streckte sich und betrachtete misstrauisch die Dornen, die im letzten Schein der untergehenden Sonne glühten. Gleich darauf nahm das Licht einen fahlen, gelblichen Ton an. Die Wolken im Norden waren dunkler geworden, aber der Wind roch zu Linuas Bedauern nicht nach Regen.

Während Sidon die Pferde versorgte, breitete Lani die Decken aus, ohne sich um ihren Rang und ihre Würde zu scheren, ganz die Soldatin. Nein, sie war nichts mehr von allem, was sie je gewesen war, weder eine Rebellin noch eine Farmerin und auch keine gunaische Prinzessin. Laikan wühlte in den Vorräten, die ihnen die Frau ihres Gastgebers aufgedrängt hatte, bevor sie sie zur Flucht angehalten hatte. Linua war der Überzeugung, dass Estil sie keinen Augenblick länger auf der Farm geduldet hätte. Ihr Leben war ihr wichtiger gewesen als das hohe Kopfgeld, das auf die flüchtigen Rebellen ausgesetzt war.

Linua beteiligte sich nicht am Aufbau des Lagers. Stumm schritt sie in einem Kreis um die anderen herum, beobachtete das Gras und bückte sich gelegentlich, um die Erde zu prüfen. Der kühle Wind wehte die gnadenlose Hitze des Tages in alle Richtungen davon.

Sie horchte in die aufkommende Nacht. Es wurde immer schwieriger, den Klängen der Wildnis zu lauschen, während das Lied in ihrem Inneren mehr und mehr lockte. Zum ersten Mal hatte sie es während ihrer Gefangenschaft vernommen, wild und süß, unwirklich, geradezu überirdisch. Ein Geheimnis, das in ihr ruhte, ein Rätsel, das es zu entschlüsseln galt. Doch jetzt hatte sie keine Zeit, sich damit zu beschäftigen. Sie wusste, der eigentliche Ruf, dem sie folgen musste, war der Ruf ihres Meisters Joaku. Seine Assassinenschule war nicht weit von hier entfernt; schon bald würde sie eine Entscheidung treffen müssen.

Doch wie hätte sie Joaku erklären können, was passiert war, während es ihr selbst schwerfiel, zu begreifen, wie sie hier gelandet war? Ihr Auftrag hatte gelautet, Tizarun, den Großkönig von Le-Wajun, zu töten, falls Karim dabei versagte. Karim, ihr Mitschüler, ihr Konkurrent. Wüstengeschwister nannten sich die Assassinen, und ihre Rivalität war ebenso unerbittlich wie unter echten Geschwistern. Es hatte ihn immens gestört, dass sie die Geliebte von Fürst Wihaji geworden war, dem Vetter und Berater und besten Freund des Großkönigs, während Karim sich als sein Knappe verdungen hatte. Karim hatte seinen Auftrag erfüllt und Tizarun vergiftet, doch sonst war alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen konnte. Linua hatte sich in Wihaji verliebt und war nicht rechtzeitig geflohen, obwohl sie ahnte, dass der Fürst zum Schuldigen in dem Mordfall erklärt werden würde; nur aus diesem Grund war sie als Gefangene auf Burg Katall gelandet. Von dort aus hatte sie die Geschehnisse mitverfolgt, ohne eingreifen zu können. Wie Tenira die Königsfamilie von Anta’jarim ausgelöscht und Wihaji zum Tod verurteilt hatte. Wie sich der Widerstand formte und ein jahrelanger Bürgerkrieg ausbrach. Wie die Rebellen letztendlich zerschlagen wurden. Nun war sie mit den in ganz Le-Wajun gesuchten Rädelsführern der Rebellion unterwegs, und obwohl ihre Loyalität ihrem Meister gehörte – gehören musste – war sie noch nicht bereit, Lani und die anderen zu verlassen.

Sie schuldete ihnen etwas, mehr noch, sie betrachtete sie mittlerweile als Freunde. Erst wenn sie in Sicherheit waren, konnte Linua gehen.

Immer wieder wanderte ihr Blick zum Horizont. In der Steppe konnte man sich leicht in Bezug auf die Entfernungen täuschen. Falls es Reiter waren, die den Staub aufwirbelten, würden sie in gut einer Stunde hier sein können.

»Wir sollten etwas essen«, sagte sie. »Aber kein Feuer machen. Ich fürchte, wir bekommen Besuch.«

»Die Mücken werden uns auffressen«, murrte der Herzog.

»Diese Art Besuch meine ich nicht.«

Die Nacht war schnell hereingebrochen. Die Wolken im Norden wurden dichter, schluckten das Licht der Monde und krochen über die Sterne. Zum ersten Mal kam ihr der Verdacht, dass es sich um eine magische Wolke handeln könnte.

»Wir sollten uns beeilen. Haben die Pferde genug getrunken?«

»Von genug kann keine Rede sein. Wir müssen dringend Wasser finden.« Sidon blickte zu den Feldflaschen hinüber, die Laikan aus dem Gepäck gefischt hatte. »Sagtest du nicht, wir...