Die Dreizehnte Fee - Entzaubert

von: Julia Adrian

Drachenmond Verlag, 2015

ISBN: 9783959912327 , 220 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Dreizehnte Fee - Entzaubert


 

Prolog Im Tümpel hinter dem Dorf lauert der Tod. Doch die Kinder, die sich ihm spielend nähern, wissen es nicht. Niemand weiß es, denn das Wesen, das in ihm haust, lebt erst seit Kurzem dort und doch lange genug, dass die Einsamkeit schrecklich groß geworden ist. Es sehnt sich danach, ein altes Spiel zu spielen, eines, das zu seinem Leben gehört wie die Sterne zu der Nacht. Und als es die fröhlichen Schritte hört und das Lachen der Kinderstimmen, da taucht es auf. In seinen Augen glimmt das Mondlicht, die Haare lang wie Seetang. Vorfreude lässt die Lippen über die gebleckten Zähne weichen zu einem grotesken Lächeln - und es beginnt zu singen. Das Grab im Schnee Der Schnee fällt in dicken Flocken vom Himmel. Sie scheinen friedlich und doch bringen sie den Tod - und sie verhüllen ihn. Die rote Spur im Schnee verblasst nach und nach, der steife und verrenkte Körper schwindet unter einer flauschigen, weißen Schicht. Als würde die Eishexe ein Leichentuch um ihn spinnen, um mir den grausamen Anblick zu ersparen. Erneut ist die Welt von einer Fee befreit, einer Hexe, wie sie uns nennen. Die Liste der Verstorbenen wächst und wächst: Kinderfresserin, Giftmischerin, Meerhexe, Brunnenhexe und Rattenbiest, jetzt auch das Orakel. Die Menschen kennen ihre wahren Namen nicht, sie wissen nicht, wie sie wirklich waren, und eines Tages, wenn auch die letzten sieben von uns Feen vergangen sind, dann wird es niemanden mehr geben, der sich an uns erinnert - außer den Märchen, die von uns erzählen, von den Monstern, zu denen wir geworden sind. Dabei waren wir einst nichts weiter als Kinder, zufällig geboren mit den Merkmalen der Feen: Haut so weiß wie Schnee, Haare so schwarz wie Ebenholz und Lippen so rot wie Blut. Schneewittchenschönheit - oder besser: Schneewittchenfluch, denn Kinder wie wir wurden gejagt und getötet, weil die Magie in unseren Adern den Menschen Angst einflößte. Und so machten sie sich uns zu ihrem ärgsten Feind. Wir wurden zu ihren Königinnen, Tyrannen und Mördern, und lange Zeit wähnten wir uns unsterblich. Wir sind es nicht. Kassandra ist tot. Sie starb meinetwegen. Die Bäume, welche die Lichtung des Turms umschließen, verstummen, als ich mich ihnen nähere. Sie erkennen die einsame Gestalt, die sich mühsam durch den kniehohen Schnee kämpft, die grausige Fracht hinter sich herschleifend. Sie erkennen die Königin. Sie erkennen mich. Die Tränen auf meinen Wangen sind längst gefroren. Ich kann nicht mehr weinen. Kassandras Haut fühlt sich warm an, doch ich weiß, dass es nur ein Abbild meiner eigenen schwindenden Wärme ist. Denn wenn ich mit den Fingern an ihrem Knöchel ein Stück tiefer gleite, ist sie eiskalt. Ich habe sie verloren. Nicht heute, als sie aus dem Fenster des Turmes in den Tod stürzte, sondern vor vielen, vielen Jahren, an einem Tag im Frühling, als wir zusammen im Wald saßen und sie mir die Karten legte. Dorthin bin ich unterwegs, um meine Schwester, mein Kind zur letzten Ruhe zu betten. »Wir sind gleich da«, murmele ich in die fallenden Flocken, als könnte Kassandra es noch hören. In Wahrheit ertrage ich schlicht die Stille des Waldes nicht. Als würden die Bäume mich mit ihrem Schweigen strafen - und verurteilen. Ich könnte den magischen Ring drehen, den sie mir kurz vor ihrem Tod schenkte, und wäre sofort auf der Lichtung, tue es aber nicht. Vielleicht muss ich die beißende Kälte an den Beinen spüren, den mit jedem Schritt schlimmer werdenden Schmerz in all meinen Gliedern, damit ich den im Herzen ertragen kann. Vielleicht ist das meine verkorkste Art, mich selbst zu strafen. Die Äste biegen sich uns unter der Last des Schnees entgegen, als würden sie sich verneigen. Vielleicht tun sie es auch. Sie weisen den Weg über die einst vom Mohn rot gefärbte Wiese. Jetzt färbt sie nur die blutige Spur des Orakels. Schluchzend beschleunige ich die Schritte, haste durch den Schnee und kann meiner Schuld doch nicht entkommen. Sie hat mich eingeholt und fest im Griff. Ich werde einen Weg finden müssen, damit zu leben oder daran zugrunde zu gehen. Das schützende Dach des Waldes umfängt uns, der Schnee wird flacher. Der gefrorene Waldboden knirscht unter den Füßen. Ein poröser Ast knackt. Irgendwo wispern ein paar Wichtel. Eine Elfe kreuzt den Weg, die Augen matt schimmernd. Sie blickt gehetzt zu mir, ehe sie seltsam taumelnd im schneebedeckten Geäst entschwindet. Der unnatürliche Winter der Eishexe macht allen zu schaffen. Er raubt dem Leben die Kraft. Er raubt sie mir. Der Körper des Orakels bleibt an einer Baumwurzel hängen. Ich zerre, falle, ihre Füße rutschen mir aus den Händen und landen im Schnee. Dann liegt Kassandra da, halb bedeckt, und doch ist der schreckliche Zustand ihres Körpers nicht zu übersehen. Sie muss furchtbare Qualen durchlitten haben. Der Hals schnürt sich mir zu, als ich an das kleine Kind von früher denke, das sie einst gewesen ist. Ich robbe zu ihr, ziehe den steifen Arm unter der Wurzel hervor. Er ist seltsam schwer und von schwarzen Beulen überzogen. Der Verband an ihrem Handgelenk verrutscht, als ich sie erneut zu packen versuche. Darunter ... ist nichts! Ich fahre hoch, die Hände um den erkalteten Arm meiner Schwester geschlungen, dem das Hexenmal fehlt! Es fehlt, weil es mitsamt der Haut entfernt wurde. »Uhrmacher«, flüstere ich und weiß, wo es mich als Nächstes hintreiben wird, zu ihm, demjenigen, der die Hexenmale all meiner Schwestern sammelt. Er war Kassandras Vertrauter, ihr Diener, vielleicht weiß er mehr, als er bisher sagte. Ich brauche Antworten. Er muss sie mir geben. Denn auch wenn ich mich erinnere, wer ich einst war, begreife ich noch nicht, wieso ich erweckt wurde. Ich war die Feenmutter und deshalb ist es umso unverständlicher. Ja, antwortet die Königin tief in mir drin. Ja, das ist es. Plötzlich kann es nicht mehr schnell genug gehen. Ich drehe den Ring, den Kassandra einst stahl und während meines tausendjährigen Schlafes trug und der nun wieder an meiner Hand steckt, dort, wo er hingehört. Einen Wimpernschlag später befinden wir uns auf der Lichtung, wo wir vor so vielen Jahren auf einer roten Decke saßen und sie mir die Zukunft prophezeite. Heute ist alles weiß. Ich streiche kurz über Kassandras Finger, ehe ich mich von ihr löse und aufrichte. Meine Beine schmerzen, die Füße gleichen eisigen Klumpen. »Ich komme zurück«, wispere ich in die Nacht. »Es dauert nicht lang. Versprochen!« Erneut drehe ich den Ring und die Lichtung mit all den Erinnerungen an Kassandra und die Prophezeiung verschwindet. Stattdessen sehe ich die Umrisse einer kleinen Hütte durch den fallenden Schnee und andere Erinnerungen kommen hoch, von einer ebenso kalten Nacht und wärmenden Armen, die mich so eng trugen, so sicher. Er brachte mich in das Haus der Sieben. Sie ließen uns ein, weil er ihr Freund ist. Ich bin es nicht. Mich werden sie nicht hineinlassen und das will ich auch gar nicht. Ich strebe der Hütte entgegen, hinter deren beschlagenen Scheiben ein bläuliches Licht funkelt und muntere Stimmen zu hören sind. Eine Wand ist neu vernagelt, dort, wo der Nordwind eindrang, als ich den Schutz der Sieben brach. Ein einzelner Moment der Schwäche, in dem ich mir vorgestellt hatte, wie es sei, dort auf ewig zu leben, mit ihm, dem Hexenjäger; der Gedanke an eine Zukunft, die niemals sein kann, hatte ausgereicht, um der Eishexe den Weg zu öffnen. Fast, aber nur fast, wäre es das Ende der sieben Männer gewesen. Die letzten Nachfahren des Volks unter dem Siebengebirge hatten mir Schutz geboten und ich dankte es ihnen, indem ich sie fast ausrottete. Doch sie leben noch. Ich kann sie reden hören: Der Koch singt ein Lied, während zwei andere sich über irgendeine Suppe streiten. Mit jedem Meter, den ich mich der Hütte nähere, wird es schwerer weiterzugehen. Der Schutz der Sieben wirkt bereits außerhalb. Der Zauber will mich hindern, ihnen zu nahe zu kommen und ihnen zu schaden. »Ich komme in guter Absicht«, flüstere ich, doch der Zauber ist stark. Meine Beine beginnen zu zittern, die Welt schwankt. Mit größter Not zwinge ich den Arm empor und klopfe an die notdürftig reparierte Tür. Sofort wird es gespenstisch still im Haus. Sie erwarten keinen Besuch, nicht jetzt, wo der Winter alles in Eis gehüllt hat. Sie beginnen leise zu tuscheln, wundern sich und beratschlagen, ob sie die Tür öffnen sollen oder lieber nicht. »Ich bin es!«, rufe ich laut. »Ich kam mit dem Hexenjäger. Heute bin ich ohne ihn hier.« »Was willst du?«, schallt dumpf die Stimme des Ältesten zurück. Ich sehe ihn fast schon vor mir mit den vielen goldenen Ringen im Bart. »Wenn du gekommen bist, um erneut Einlass zu erbitten, so hast du den Weg umsonst gemacht.« »Nein, nein. Ich will nur einen Spaten.« »Einen Spaten?«, höre ich den Koch ausrufen. »Wofür braucht sie einen Spaten?«, fragt der Jüngste. »Ich ... muss meine Schwester begraben.« Eisiges Schweigen, das fast kälter ist als der Winter selbst, legt sich um die Hütte. Sie werden mir nicht helfen und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Gerade als ich mich abwende, öffnet sich die Tür einen Spaltbreit. »Du kannst nicht hinein!«, warnt mich der Älteste sofort. »Der Zauber wirkt auch bei geöffneter Tür.« »Ich weiß«, erwidere ich nur matt. »Ich habe ihn geschaffen.« Er zögert, dann zieht er die Tür weiter auf. Die anderen starren mir aus blassen Gesichtern misstrauisch entgegen. »Welche Schwester?«, fragt der Koch. Für einen Moment glaube ich, dass ich ihren Namen nicht hervorbringen kann, doch dann formt meine Zunge ihn langsam und schwer. Die Männer erblassen noch stärker. »Das Orakel ist tot?«, flüstert der Koch und wirkt, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.