Fremdes Leben - Roman

von: Petra Hammesfahr

Diana Verlag, 2016

ISBN: 9783641184704 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Fremdes Leben - Roman


 

2

Bruchstücke

Carsten

Am Dienstagnachmittag kam Lina Scheuer auf die Innere. Sie hatte noch dienstfrei, wollte Claudia aber unbedingt von ihrem Gespräch mit Frau Koch berichten. Dass es sich um den Versuch einer Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Suizid gehandelt haben könnte, unterschlug sie, sprach nur von der jungen Inderin, die vielleicht aus Mitgefühl, vielleicht aus Überforderung gehandelt hatte. Die angebliche jüngere Schwester wurde damit zum Hirngespinst und Weronika zur Retterin erklärt.

Während Lina Scheuer erzählte, schwebte Claudia wieder der dunkle Fleck vor Augen und verwandelte sich unter den Worten der Ärztin erneut in das Gesicht der blutjungen Frau mit dunklem Teint. Nilam also. Gleichzeitig kamen der Schmerz im Hals, das Reißen und Zerren, der Druck und die Angst, Todesangst. Sie hatte Mühe, sich auf Lina Scheuer zu konzentrieren.

»Ich hab’s gleich. Tut mir leid, das muss sein. Keine Panik. Ich hab’s gleich. Keine Angst. – So, ich bin drin«, zuckte ihr wieder die resolute Frauenstimme durchs Hirn, die sich schon mehrfach gemeldet hatte. Weronika? Eine Polin ohne Akzent?

Ehe sie Zweifel anmelden konnte, betonte Lina Scheuer, damit sei die Sache geklärt. Für sie bestehe keine Gefahr und auch nicht unbedingt die Notwendigkeit, jetzt noch die Polizei zu informieren. Das hätte Claudia ohnehin nicht getan.

Kurz darauf wurde eine hellbraune lederne Reisetasche für sie abgegeben, gepackt mit Unterwäsche, flauschigen Socken, Jogginghose, Hausanzug, T-Shirts, Pyjamas, Pantoffeln und einem Paar Slipper, Waschzeug, Handtüchern, einer Geldbörse mit fünfzig Euro in Münzen und kleinen Scheinen, der gewünschten Lesebrille, einem sehr teuren Deo und einer Duschlotion in derselben Preislage. Der Duft war Claudia vertraut und brachte eine Saite in ihrem Hirn zum Schwingen, die sich bisher noch nicht gerührt hatte. Nicht, dass sie sich an etwas Konkretes erinnerte, aber sie war von einer Sekunde zur nächsten absolut sicher: Das war ihre Marke, ihr Parfüm.

Am Mittwochnachmittag setzte man sie in einen Rollstuhl, bekleidet mit Hausanzug, Jogginghose drüber und einem T-Shirt drunter, an den Füßen flauschige Socken und Slipper. Mit Ausnahme der Schuhe war ihr alles mindestens zwei Nummern zu groß, Carsten hatte sich bei den Einkäufen offenbar an früheren Maßen orientiert.

Man fuhr sie per Krankentransporter zu einer Zahnarztpraxis, wo sie um die Zeit die einzige Patientin war. Es wurden Abdrücke von ihrem Ober- und Unterkiefer gemacht. Bei der Gelegenheit erfuhr sie, dass sie ihre Zähne in jungen Jahren verloren haben musste. Es müsse mehr als zwanzig, eher dreißig Jahre her sein, meinte der Zahnarzt, während er die Röntgenaufnahmen ihrer Kiefer betrachtete, die er angefertigt hatte. Einen Grund dafür konnte er ihr nicht nennen.

»Die noch vorhandene Knochensubstanz verbietet den Einsatz von Implantaten«, sagte er. »Es gibt garantiert Kollegen, die Ihnen eine Knochentransplantation nahelegen. Mit Implantaten lässt sich viel Geld verdienen. Aber wenn Sie mit Prothesen zurechtkommen, würde ich Ihnen von anderen Maßnahmen abraten.«

Nur zwei Tage später brachte ein Zahntechniker persönlich seine Arbeit ins Krankenhaus. Für den Fall, dass er noch kleine Korrekturen vornehmen müsste, brachte er auch ein winziges Schleifgerät mit. Nachdem er hier und dort ein wenig Material weggenommen hatte, passten beide Teile perfekt und fühlten sich nicht eine Sekunde lang wie Fremdkörper an. Im Gegenteil, es war so wie mit dem Duft von Deo und Duschlotion, ein vertrautes Gefühl.

Als das Abendessen gebracht wurde, scherzte die Pflegerin: »Jetzt sehen Sie schon zwanzig Jahre jünger aus. Sagen Sie der plastischen Chirurgie besser Bescheid, dass Sie nicht noch mal Abitur machen möchten.«

Sie horchte den Worten nach und wusste im selben Moment wieder, dass es für sie nicht noch mal, sondern das erste Mal wäre. Eigentlich hätte sie sich freuen, zumindest Erleichterung spüren müssen. Aber es war ein zwiespältiger Moment. Ihr Leben kam zurück, häppchenweise, in vorerst noch unbedeutenden Gewissheiten, trotzdem war es, als hätte Carsten Beermann ihr mit einem Duft und neuen Zähnen die Tür zum eigenen Ich geöffnet. Und sie hatte noch nicht die geringste Vorstellung von der Frau, die hinter dieser Tür lauerte.

Den zweiten Besuch im Welmersheimer Krankenhaus hatte Carsten für den Samstagnachmittag eingeplant. Dass dieser zweite entschieden wichtiger war als der erste, bei dem nichts von Bedeutung gesagt worden war, stand außer Frage. Schon beim Frühstück war er nervös und konnte es nicht völlig verbergen. Mittags bot seine Lebensgefährtin an, ihn zu begleiten. Er lehnte dankend ab. Bevor er die Wohnung verließ, fragte Manuela noch einmal: »Bist du sicher, dass du alleine klarkommst?«

Er war alles andere als sicher, aber das musste sie nicht wissen, sonst hätte sie darauf bestanden mitzukommen. Als er nickte, fragte sie: »Wirst du mit ihr über uns sprechen?«

Wahrscheinlich ging es Manuela nur darum, Claudia wissen zu lassen, dass sie sich keine Hoffnungen zu machen brauchte, weil der Platz an seiner Seite besetzt war.

»Natürlich«, sagte er. »Aber Claudia hatte schon vor ihrem Unfall kein Interesse mehr an mir. Ich sehe keinen Grund, warum sich daran etwas geändert haben sollte.«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist«, erwiderte Manuela. »Weil sie jetzt sonst keinen mehr hat.«

So weit hatte er noch nicht gedacht. Ihm spukte immer noch der langjährige Liebhaber im Kopf herum, mit dem Claudia ihm bei der Trennung einen Schlag verpasst hatte, den er vermutlich nie vergessen würde. Von selbst wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie ihn betrügen könnte. »Du bist doch alles, was ich noch habe.« Wie oft hatte er den Satz von ihr gehört, bevor sie ihre Sachen packte und ging.

»Was willst du ihr überhaupt erzählen?«, fragte Manuela.

»Das hängt von der Situation ab und von den Fragen, die sie stellt«, erwiderte er.

»Halt dich einfach an das, was sie dir früher erzählt hat«, empfahl Manuela daraufhin. »Du musst es heute nicht besser wissen als damals. Und so stellst du am schnellsten fest, ob sie sich wirklich an nichts erinnert. Fang nicht an zu improvisieren.«

Sie hatte leicht reden. Aber sie mitnehmen … Wer setzte sich denn ohne zwingende Notwendigkeit zwischen zwei Mühlsteine?

Während der Fahrt legte Carsten sich einige Antworten zurecht, für die er noch gar keine Fragen gehört hatte. Aber an ein ungestörtes Gespräch, wie er sich das im Auto ausmalte, war nicht zu denken.

Um das Bett der zweiten Patientin waren acht Erwachsene versammelt, als Carsten das Krankenzimmer betrat. Zwei kleine Kinder tollten herum, ohne dass ihnen jemand Einhalt gebot. So beschränkte er sich erst mal auf Höflichkeitsfloskeln.

»Wie geht es dir heute?«

»Gut«, sagte Claudia.

»Du siehst auch schon viel besser aus.«

Kein Wunder mit den neuen Zähnen, trotzdem war viel eine maßlose Übertreibung. »Danke«, sagte sie.

Carsten holte einen Rollstuhl, setzte sie hinein und schob sie in das zum Zimmer gehörende kleine Duschbad, wo er ihr half, den Hausanzug über den Pyjama zu ziehen. Anschließend brachte er sie nach unten in die Cafeteria.

Auch dort herrschte viel Betrieb. Im ersten Moment stockte Carsten, war nahe daran, wieder kehrtzumachen. Aber wohin dann? Das Zimmer mit all den Leuten war wirklich nicht der richtige Ort, um ein Gespräch zu führen, von dem so viel abhing. Und für einen Spaziergang im Freien war das Wetter nicht geeignet. Es nieselte seit Stunden, und der Himmel sah nicht aus, als wolle er bald eine Pause einlegen.

Aber der größte Andrang vor der Kuchentheke bestand offenbar aus Leuten, die nur schnell etwas kaufen und zurück auf eine Station wollten. Es gab trotz des Gedränges noch freie Tische, wie Carsten bei einem skeptischen Blick in die Runde feststellte. Er steuerte einen Ecktisch an, an dem sie weitgehend ungestört von anderen Gästen reden könnten. Nachdem er Claudias Rollstuhl abgestellt hatte, holte er für sich einen Kaffee und ein Stück Streuselkuchen. Sie wollte nichts.

Kuchen hätte sie mit den neuen Zähnen garantiert essen können, sogar Streusel. Löffel oder Gabel zum Mund führen klappte inzwischen auch schon recht gut, obwohl es sich noch so anfühlte, als müsste sie ein Zentnergewicht stemmen. Nur war sie nicht hungrig. Ein Kaffee wäre nicht schlecht gewesen, aber eine der schweren Bechertassen hätte sie nicht heben können und mochte Carsten nicht bitten, sie trinken zu lassen. Es reichte, dass er sie aus dem Bett gehoben und für diesen Ausflug angezogen hatte.

Wenn jemand vom Pflegepersonal das tat, hatte sie kein Problem damit, bei Carsten war es ihr unangenehm gewesen. Eine Art von Intimität, die sie eher Achim Castrup zugestanden hätte. Ein Teil von ihr fühlte sich immer noch als Cilly, der andere Teil fand dafür keine Erklärung und schämte sich.

Carsten schien doch nett zu sein. Auf jeden Fall war er rücksichtsvoll, gab sich die größte Mühe, eine gewisse Distanz zu wahren und ihr Peinlichkeiten zu ersparen. Bezeichnend dafür war, dass er mit diesem Gespräch gewartet hatte, bis sie klar artikulieren konnte. Und er verlor kein Wort über...