Hedwig Courths-Mahler - Folge 114 - Gerlinde ist unschuldig

von: Hedwig Courths-Mahler

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732521449 , 80 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 1,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Hedwig Courths-Mahler - Folge 114 - Gerlinde ist unschuldig


 

Gerlinde Olden hielt ihr Pferd an, als sie oben auf den Bergen die Grenze, bis wohin ihr Gaul sie tragen konnte, erreicht hatte. Ihr Blick schweifte weithin über das Bergtal.

Gerlindes Brust hob sich in tiefen Zügen. Wenn sie hier oben war, auf ihrem Lieblingsplatz, von wo der Blick ins Weite schweifen konnte, wurde ihr immer leichter ums Herz, und der Gedanke, bei ihrer Jugend in eine Einöde verbannt zu sein, drückte sie nicht so sehr nieder, als wenn sie unten in Ringberghof weilte.

Als sie nach einer Weile das Pferd wendete, um wieder hinabzureiten, tönte plötzlich der laute Ruf einer Männerstimme an ihr Ohr. Dieser Ruf kam von oben, aus den zerrissenen Klüften der Steilwand. Betroffen lauschte Gerlinde und sah in die Richtung empor, von der der Ruf kam. Und da sah sie, dass eine Männergestalt langsam und vorsichtig herabkletterte; nur seine Bewegungen machten ihr den Mann sichtbar, da er sich in seinem grauen Anzug kaum vom Gestein der Steilwand abhob.

Gerlinde sah nun auch, dass er ihr aufgeregt zuwinkte, und nachdem er in fast halsbrecherischer Weise noch ein Stück herabgeklettert war, legte er die Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und rief ihr zu: „Warten Sie, ich brauche Hilfe für einen Verwundeten!“

Gerlinde ritt jetzt so nahe wie möglich an die Steilwand heran und verfolgte mit den Augen die kühne Kletterei des fremden Mannes. Scheu sah sie zu ihm empor. Sie war in der Einsamkeit aufgewachsen und pflegte fast gar nicht mit fremden Menschen zusammenzukommen; aber wenn sie auch sonst jeder Begegnung auszuweichen suchte, weil der Vater ihr das geboten hatte, so spürte sie doch: Hier musste eine Ausnahme gelten, hier handelte es sich vielleicht um ein Menschenleben. Und erwartungsvoll sah sie dem Fremden entgegen, der nun gewandt, mit verbissener Energie, vollends zu ihr herabkletterte. Und plötzlich fiel es ihr mit einer seltsam beklemmenden Ahnung auf die Seele, dass der Vater heute in der Frühe wieder einmal eine Bergfahrt unternommen hatte, gerade auf diesen Berg hinauf, von dem der Fremde herabkam.

Dieser hatte von einem Verwundeten gesprochen? Hoffentlich war dieser Verwundete nicht ihr Vater! Das Herz war ihr plötzlich so schwer. Aber nun sprang der Fremde mit einem Satz vollends herab, dicht vor ihr Pferd hin, und sie sah, dass er wankte und sich verfärbte.

„Ich danke Ihnen, dass Sie gewartet haben, mein gnädiges Fräulein. Verzeihen Sie, dass ich Sie aufgehalten und vielleicht erschreckt habe. Aber ich brauche, wie gesagt, schnelle Hilfe für einen Verwundeten, den ich da oben in einer Klamm gefunden habe; er gehört nicht zu mir, anscheinend ist er beim Überspringen der Felsspalte abgeglitten, oder es hat ihn eine Schwäche überfallen. Es ist schon ein älterer Herr, mit grauem Haar, groß und stattlich.“

Aufatmend, denn dieser Bericht fiel ihm sichtlich schwer, hielt er inne, als sie erblassend rief: „Mein Vater!“

Mitleidig sah er sie an; ihr jugendfrisches und jugendschönes Gesicht machte einen tiefen Eindruck auf ihn. „Sie halten den Verwundeten für Ihren Vater, mein gnädiges Fräulein?“

Sie strich sich zitternd über die Stirn. „Ich fürchte es. Er ist heute Morgen, wie schon oft, da hinaufgestiegen, und ich erwartete ihn bald zurück. Wo ist er? Bitte, ich muss schnell zu ihm!“

„Ich habe ihn so weit wie möglich heruntergetragen, bis ich ihn sicher lagern konnte. Anscheinend hat er das rechte Bein gebrochen. Ob er sonst verletzt ist, konnte ich in der Eile nicht feststellen, eine blutige Schramme. an der Stirn schien mir nicht bedeutungsvoll. Hoffentlich ist seine Verletzung nicht schwer. Jedenfalls war er ohnmächtig. Ich fand seinen Hut und Bergstock an der Felsspalte, sah hinunter und erblickte ihn auf einem Felsvorsprung liegend. Da ich fürchtete, dass er weiter in die Tiefe hinabstürzen könnte, habe ich ihn erst, so gut ich konnte, in Sicherheit gebracht; aber weiter konnte ich ihn nicht bringen, er war sehr schwer und …“

Er wurde wieder sehr blass, sein energisches Gesicht wurde fahl, und seine Zähne bissen sich zusammen. Sie sah jetzt auch, dass seine Beinkleider oberhalb des Knies sich mit feuchtem Rot färbten.

„Sie sind verwundet!“, rief sie bestürzt.

Er richtete sich, seinen Schmerz bezwingend, schroff auf. „Ich habe mich wohl ein wenig gescheuert beim Bergen des Verwundeten. Jetzt müssen wir aber zuerst Hilfe haben für ihn. Es hat wenig Zweck, wenn Sie erst mit mir zu ihm hinaufklettern, das kostet nur Zeit. Bitte, reiten Sie schnell hinab und bringen Sie Hilfe. Feste Seile und eine Bahre sind notwendig, und vielleicht ein Schluck Wein für den Verwundeten. Ich kehre inzwischen zu ihm zurück und erwarte dort die Helfer.“

Und er bezeichnete ihr genau den Platz, wo er den Verwundeten geborgen hatte. Gerlinde nickte mit blassem Gesicht.

So schnell als der schwierige Weg gestattete, ritt sie hinab zu dem in halber Höhe liegenden Ringberghof, während der Fremde mühsam wieder emporstieg.

Martin Olden schlug müde die Augen auf, als sein Retter jetzt wieder neben ihm auftauchte. Er war aus seiner Ohnmacht erwacht und suchte seine Schmerzen zu verbeißen.

Der Fremde, Doktor Normann Verden, beugte sich zu ihm herab. „Wie fühlen Sie sich?“

Matt winkte der Gestürzte ab. „Nicht sehr gut. Wie bin ich hier hergekommen?“

„Ich fand Sie da drüben in der Felsspalte auf einem Vorsprung, der Ihren Fall aufgehalten hat, und trug Sie hierher.“

„Ich danke Ihnen! Das war ein schweres Stück Arbeit für Sie, so viel kann ich begreifen. Ich weiß jetzt wieder – ich wollte über den Felsspalt springen, um den Weg abzukürzen. Dabei muss ich irgendwie ausgeglitten sein.“

„Ich bin dann hinabgestiegen, um Hilfe zu holen, weil ich Sie nicht allein hinunterbringen konnte. Und es war mir sehr lieb, dass ich nicht weit von hier, etwa hundert Meter tiefer, auf der Halde eine junge Dame zu Pferde traf.“

„Ah, meine Tochter!“, sagte der Verwundete unruhig.

„Ja, sie nahm wenigstens an, dass es ihr Vater sein könne, der zu Fall gekommen war. Sie kennt wohl diesen Platz, den ich ihr beschrieb, und sie wird bald mit den nötigen Hilfskräften und einer Bahre hier sein, denn Sie können nicht selbst hinuntersteigen.“

„Nein, mir scheint, ich habe den rechten Unterschenkel gebrochen.“

„Das stellte ich auch schon fest. Und eine tüchtige Schmarre haben Sie an der Schläfe, doch scheint sie nicht bedenklich zu sein. Wenn Sie gestatten, will ich Ihnen da vorläufig einen Verband anlegen, ich habe alles Nötige bei mir.“

„Wie soll ich Ihnen danken!“

„Nicht der Rede wert. An Ihr Bein wage ich mich aber nicht, da könnte ich mehr schaden als nützen. Wenn die Bahre kommt, werden wir es stützen, so gut es geht, und hoffentlich wird Ihr Fräulein Tochter gleich für einen Arzt sorgen.“ Und er verband sorgsam die Stirnwunde.

Bei Normann Verdens Erwähnung seiner Tochter zog sich die Stirn des alten Herrn wieder zusammen, und seine Augen blickten unruhig, fast finster in das Gesicht des jungen Mannes. Er hatte seine Tochter Gerlinde angstvoll von der Welt abgeschnitten, wollte sie von jedem Verkehr, hauptsächlich mit jungen Herren, zurückhalten und machte sich nicht klar, was er seiner Tochter damit zufügte. Die Angst um sie, um ein böses Erbe, das sie vielleicht von ihrer Mutter angetreten hatte, machte den sonst so klugen und vernünftigen Mann misstrauisch. Diese Angst hatte ihn mit seiner Tochter in die Weltabgeschiedenheit des Ringberghofes getrieben, den er vor sechzehn Jahren gekauft hatte, um in der Einsamkeit leben zu können. Selbst jetzt, da er hilflos hier lag, peinigte ihn die Unruhe darüber, dass seine Tochter mit diesem jungen Mann, seinem Retter, zusammengetroffen war. Forschend sah er in Normann Verdens scharf geschnittenes Gesicht, in seine stahlblauen Augen hinein, die so klar und offen zu ihm niederblickten. Er sah den schmallippigen, fest geschlossenen Mund des jungen Mannes, seine energischen Züge, seine hohe, gut gebaute Stirn. Sein Blick glitt wie wägend an der kraftvollen Gestalt herab, an der jede Bewegung elastisch und zielbewusst war, und ein tiefer Seufzer entfloh seinen Lippen.

***

Gerlinde Olden war so schnell wie möglich nach dem Ringberghof hinabgeritten. Sie jagte klopfenden Herzens durch das Tor und rief mit lauter Stimme nach dem Gesinde. Alle waren um diese Zeit daheim zum Mittagessen, und sie stürzten auf den Ruf der jungen Herrin aus dem Gesindezimmer heraus.

Aus der Küche trat eine grauhaarige Frau in blauem Leinenkleid. Es war Gerlindes Amme, die jetzt den Haushalt im Ringberghof leitete und mit der Herrschaft zusammen an einem Tisch speiste. Erschrocken sah sie in Gerlindes blasses, verstörtes Gesicht.

„Was ist geschehen, Kindchen?“

„Der Vater, Brigitte, der Vater ist abgestürzt, liegt mit gebrochenem Bein oben an der Jochwand. Schnell alles richten! Michel, du fährst mit dem Auto zum Arzt ins Dorf, ihr anderen macht eine Bahre bereit und beeilt euch, dass ihr Vater zu Hilfe kommt.“

Während sie das hastig hervorgestoßen hatte, war sie vom Pferd geglitten und trat auf Frau Brigitte Stangel zu.

Diese fasste ihre Hand. „Erzähl doch, Kindchen, was ist Vater geschehen?“

Hastig erklärte Gerlinde, was sie wusste. Und dann sagte sie: „Ich reite gleich wieder zur Steilwand, lasse dort das Pferd grasen und steige zur Jochwand hinauf, damit ich zuerst beim Vater bin. Gib Acht, Brigitte, dass die Leute alles Nötige mitnehmen, auch Wein gib mir mit, den nehme ich gleich selber in Verwahrung. Vater könnte ihn nötig brauchen. Rasch, Brigitte,...