Die Erbin von Winterwood

von: Sarah Ladd

Francke-Buch, 2015

ISBN: 9783868278286 , 313 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 12,99 EUR

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Die Erbin von Winterwood


 

Kapitel 1

Darbury, England, November 1814

Amelia wusste, was sie zu tun hatte. Sie wusste es, seit Kapitän Graham Sterling nach Eastmore Hall zurückgekehrt war.

Ihr Plan würde aufgehen. Er musste einfach aufgehen. Sie hatte ihn von allen Seiten beleuchtet und jeden Einwand berücksichtigt und hatte im Geiste ihre Argumente aufgeführt. Jetzt musste sie nur noch den Kapitän von ihrem Plan überzeugen.

Sie bedauerte nur, dass sie ihre jüngere Cousine Helena in ihre Absichten eingeweiht hatte.

„Das sind Hirngespinste. Du musst verrückt sein!“ Helenas rostbraune Locken hüpften bei jeder Silbe aufgeregt auf und nieder. „Was ist in dich gefahren, dass du überhaupt auf eine solche Idee kommst, geschweige denn, dass du sie auch noch in die Tat umsetzen willst?“ Sie warf ihre Stickarbeit auf den kleinen Beistelltisch und sprang vom Sofa auf. „Kapitän Sterling wird denken, du hättest den Verstand verloren. Wie stehst du dann da?“ Helena fuchtelte mit der Hand durch die Luft, um Amelias Widerspruch zu ersticken. „Ich sage dir, wie du dann dastehst: ohne Mann, ohne Geld und ohne eine Zukunft. So sieht die Sache aus.“

„Ach, was! Du übertreibst.“ Amelia wiegte das schlafende Kind in ihren Armen. „Wenn du dich weiter so aufregst, wirst du noch Lucy aufwecken. Wir wollen doch auf keinen Fall, dass sie unausgeschlafen ist und quengelt, wenn sie endlich ihren Vater kennenlernt.“

Helena schnaubte. „Wage es nicht, das Thema zu wechseln, Amelia Barrett! Mit dem Kind ist alles in Ordnung. Aber mit dir stimmt offenbar etwas nicht. Wie kannst du auch nur auf die Idee kommen, einem Mann einen Heiratsantrag zu machen? Einem Fremden, den du noch nie gesehen hast! So etwas gehört sich einfach nicht!“

Amelia legte Lucy in die Wiege. „Kapitän Sterling ist kein Fremder. Nicht wirklich. Und ich habe es dir schon gesagt: Mein Entschluss steht fest. Sprechen wir also nicht mehr darüber. Würdest du mir bitte die Decke geben?“

Erregt nahm Helena die gelbe gestrickte Decke und warf sie ihrer Cousine hin. „Und was wird Mr Littleton davon halten? Fünf Wochen, Amelia! Muss ich dich daran erinnern, dass ihr in fünf Wochen heiratet? Dass du dich überhaupt mit einem anderen Mann treffen willst, ist schon schlimm genug, aber …“

„Es besteht kein Grund, dich so aufzuregen.“ Amelia wandte den Blick ab und lenkte das Gespräch wieder auf den Kapitän. „Es ist nichts Unanständiges daran, dass ich mich mit Kapitän Sterling treffe. Es ist sein gutes Recht, seine Tochter zu besuchen. Immerhin ist sie neun Monate alt, und er hat sie noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Und der Antrag, den ich Kapitän Sterling mache, ist ein Geschäftsvorschlag. Weiter nichts. Wenn er ablehnt, ist nichts Schlimmes passiert. Edward muss es nie erfahren.“

„Nichts Schlimmes passiert? Nichts Schlimmes?“ Helenas braune Augen waren schreckgeweitet. „Denkst du denn überhaupt nicht an deinen Ruf? Ich erschauere, wenn ich nur daran denke, was passiert, wenn sich dein … dein Vorhaben im Ort herumspricht. Edward könnte denken …“

„Er könnte vieles denken, Helena, und das wird er zweifellos auch. Aber ich kann nicht tatenlos danebenstehen und nichts sagen. Nichts tun. Denn in diesem Fall könnte Kapitän Sterling mir Lucy für immer wegnehmen, und das würde ich nicht ertragen. Außerdem kann ich das Versprechen, das ich Katherine gegeben habe, nicht brechen.“

Ein hübscher Schmollmund verfinsterte Helenas schöne Gesichtszüge, und sie reckte ihre kleine Nase in die Luft.

„Du und Mrs Sterling, ihr seid euch zwar vielleicht nahegekommen, aber du hast sie erst ein halbes Jahr vor ihrem Tod kennengelernt. Ich bezweifle ehrlich, dass sie erwarten würde, dass du zu solch drastischen Maßnahmen greifst, um ein Versprechen zu halten.“ Sie beugte sich näher vor, um Amelia daran zu hindern, ihren Blick abzuwenden. „Und muss ich dich daran erinnern, dass du diesen Mann, diesen Kapitän, noch nie gesehen hast? Er könnte ein Ungeheuer sein, ein Schurke, der deine Großzügigkeit schamlos ausnutzt. Warum willst du dich einem solchen Schicksal aussetzen und dein Vermögen riskieren, wenn du mit Edward Littleton schon eine so gute Partie gemacht hast?“

Helenas Warnung hallte in Amelias Kopf wider. Waren ihr diese Bedenken nicht selbst schon gekommen? Der Gedanke, durch die Ehe an einen grausamen Mann gebunden zu sein, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Aber hatte Katherine nicht die ausgezeichneten Eigenschaften des Kapitäns gelobt? Seine Sanftheit? Seinen tadellosen Charakter?

Amelia kniff die Lippen zu einer harten Linie zusammen. Sie war bereit, dieses Wagnis einzugehen. „So furchtbar kann er nicht sein, Helena, sonst hätte Katherine ihn nie geheiratet. Außerdem ist er Kapitän in der Marine Seiner Majestät. Du hast die Geschichten über ihn genauso gehört wie ich. Er ist monatelang – nein, jahrelang – auf See, wenigstens solange England sich im Krieg befindet. Jeder von uns wird zweifellos ein völlig eigenständiges Leben führen.“

„Aber Mr Littleton, Amelia! Denk doch an Mr Littleton!“ Helenas Stimme wurde weicher. „Er liebt dich, davon bin ich überzeugt. Warum willst du ihn so unfreundlich behandeln und eine glückliche Ehe wegen eines Kindes gefährden, mit dem du nicht einmal blutsverwandt bist?“ Helena trat auf Lucy zu, schaute zu ihr hinab und strich die Decke über dem Kind glatt. „Es schmerzt mich, dir das so unverblümt sagen zu müssen, Amelia, aber ich liebe dich zu sehr, um zuzusehen, wie du deine Zukunft ruinierst, ohne dir wenigstens zu sagen, was ich denke. Vor dir liegt ein viel zu wunderbares Leben, um jetzt alles aufs Spiel zu setzen.“

Amelia öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, aber dann schloss sie ihn wieder. Sie konnte nicht leugnen, dass ihre Cousine mit ihren Argumenten recht hatte. Wie sollte sie Helena ihr Dilemma begreiflich machen? Sie hätte nie eingewilligt, Edward Littleton zu heiraten, wenn sie diesen Mann nicht wirklich mögen würde. Sein attraktives Gesicht und seine leidenschaftliche Art lösten immer noch Gefühle in ihr aus. Aber je näher ihre Hochzeit rückte, umso stärker wurde ihr Zögern. Sein Verhalten – unter anderem seine Weigerung, Lucy nach der Hochzeit noch länger auf Winterwood bleiben zu lassen – warf bei ihr starke Fragen über seinen Charakter und seine Eignung als Ehemann auf. Und der Gedanke, dass ihre liebe Lucy genauso wie Amelia ohne Mutter aufwachsen sollte, ließ ihr keine Ruhe.

Nein – Amelia war sicher, dass sie den richtigen Weg einschlug, auch wenn er schwer sein mochte. Sie musste sich einfach darauf einstellen, dass ihr bevorstehendes Gespräch mit dem Kapitän unangenehm verlaufen könnte.

Ein Ruf ertönte vor dem Fenster, gleich darauf hörte man das Knirschen von Wagenrädern auf dem Kieselweg vor dem Haus. Die beiden jungen Frauen schauten sich an. Jetzt wurde es ernst.

Amelia packte ihre Cousine an der Hand. „Versprich mir, dass du kein Wort sagst.“

Helena lächelte sie schwach an. „Ich wünschte wirklich, du würdest auf mich hören, Cousine, aber da du dich von deinem Entschluss nicht abbringen lässt, gebe ich dir mein Wort. Denk aber bitte trotzdem wenigstens über das nach, was ich gesagt habe.“ Ihr hellgelber Musselinrock raschelte, als sie sich umdrehte und das Zimmer verließ.

Amelias Schuhe erzeugten auf dem italienischen Teppich kaum ein Geräusch, als sie ans Fenster trat. Sie hob die Ecke des grünen Samtvorhangs und sah gerade noch, wie der Landauer, der im Morgenregen nass glänzte, vor dem Haupteingang von Winterwood Manor langsam zum Stehen kam.

Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und zwang sich, langsam durchzuatmen. Ob es ihr gefiel oder nicht, der entscheidende Augenblick war gekommen. Sie eilte zum Schreibtisch und vergewisserte sich noch einmal, dass Katherines Brief dort lag.

Ein Klopfen hallte in dem holzgetäfelten Raum wider. Die Tür ging auf, und James, Winterwood Manors betagter Butler, trat ein. „Kapitän Sterling ist hier und möchte Sie sprechen, Miss.“

„Führen Sie ihn herein. Und bitte sagen Sie Sally, dass sie uns Tee bringen soll.“

Amelia wartete, bis die Mahagonitür zuging, bevor sie die schlafende Lucy in die Arme nahm. Schritte erklangen auf dem Holzboden im Flur. Sie richtete sich auf. James erschien wieder, aber Amelia bemerkte ihn kaum. Ihr Blick war auf die eindrucksvolle Gestalt fixiert, die hinter dem Butler den Türrahmen ausfüllte.

Kapitän Sterling trat ins Licht. Sie hatte erwartet, dass er blond wäre wie sein Bruder oder untersetzt, wie es sein Vater gewesen war. Doch er war keines von beidem. Dunkelbraune Haare lockten sich über dem hohen Kragen seines pechschwarzen Fracks, und dunkle Koteletten rahmten seine hohen Wangenknochen ein. Lebhafte graue Augen schauten unter schwarzen Wimpern hervor und schossen von Lucy zu ihr und dann wieder zurück zu dem Kind. Seine frisch rasierte Haut, die von der Sonne braun gebrannt war, gab Zeugnis dafür, dass er viele Monate auf einem Schiff zugebracht hatte. Sie hatte fast erwartet, dass er in Uniform käme, aber er trug die Kleidung eines Gentlemans.

Bei seinem Anblick befiel Amelia eine nervöse Unruhe. Sie hatte sich wochenlang auf die Begegnung mit diesem Mann vorbereitet. Sie hatte eingeübt, was sie sagen würde, und sich ihre Worte ganz genau zurechtgelegt. Aber sie hätte nie damit gerechnet, dass ein Paar rauchgraue Augen sie so aus der Fassung bringen...