Jan zeigt Mut

von: Carlo Andersen, Knud Meister

Saga Egmont, 2015

ISBN: 9788711458990 , 124 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Jan zeigt Mut


 

Erstes kapitel


Am sechsten Tag nach der Abfahrt von Matadi in der ehemaligen Kolonie Belgisch-Kongo nahm die ‹Flying Star› Kurs auf Süden. Weit im Osten konnte man die Küste Afrikas noch als dunkle Linie über dem Horizont des Atlantischen Ozeans wahrnehmen. Obwohl es immer noch sehr warm war, erschien den Jungen diese Temperatur geradezu als eine Gabe des Himmels im Vergleich zur Backofenhitze im Kongobecken. Die Meeresbrise kühlte angenehm, und in den heißesten Stunden des Tages konnte man im Schatten der großen Kajüte dösen. Wenn die Jungen ihre Trägheit überwinden konnten, nahmen sie auch ab und zu ein erfrischendes Bad in der großen Gummiwanne, die man auf Deck zwischen den beiden Kajüten aufstellen konnte. Mit besonderen Erlebnissen war die Fahrt nicht gerade gesegnet – denn Haie und fliegende Fische waren alltäglich geworden –, und so unterhielt man sich über die bevorstehende Landung in Kapstadt. Carl war schon früher dort gewesen, aber trotzdem oder gerade deswegen freute auch er sich auf ein Wiedersehen mit dieser Stadt. Es machte immer Spaß, Städte wiederzusehen, mit denen man Erinnerungen an spannende Abenteuer verbindet! Alle hörten aufmerksam zu, als Ingenieur Smith ihnen eines Nachmittags über diese Stadt erzählte.

«Mit den Augen eines Europäers gesehen, ist Kapstadt sicher eine der wunderbarsten Städte der Welt. Es liegt außerordentlich schön, und das ziemlich ausgeglichene Klima ist für alle Bewohner angenehm, auch wenn sie, wie wir, aus nördlichen Breiten stammen. Verglichen mit anderen südafrikanischen Städten, wie zum Beispiel Johannesburg, ist Kapstadt eine alte Stadt, obwohl sie erst 1652 von den Holländern gegründet wurde. Die weißen Eroberer errichteten eine Festung, und um diese Festung wuchs die Stadt empor. Eine bessere Lage konnten die neuen Siedler kaum finden. Die Stadt spielte als Zwischenstation auf der Route von Europa nach Australien und Ostasien eine wichtige Rolle und gewann ständig an Bedeutung für die Seefahrt. Wie gesagt, sie liegt außerordentlich schön am Fuße des Tafelberges. Als Sitz der Regierung der Kap-Provinz wurde sie stark befestigt. Einige Kilometer südlich der Stadt liegt das Kap der Guten Hoffnung, wohl das berühmteste Vorgebirge der Welt.»

«Die Stadt ist ja als Hafen und als Handelszentrum sehr bekannt», sagte Jack Morton.

Smith nickte. «Ja, der künstliche Hafen ist einer der besten in Afrika. Außerdem ist Kapstadt Ausgangspunkt für verschiedene Eisenbahnlinien ins Landesinnere, und natürlich besitzt die Stadt einen modernen Flughafen. Von den etwa achthunderttausend Einwohnerna sind weit mehr als die Hälfte Europäer, während der Rest verschiedenen anderen Rassen angehört. Es gibt natürlich viele Neger, daneben aber auch Malayen, Chinesen und Inder. Bis 1914 lebte übrigens ein weltberühmter Mann in dieser Stadt, Mahatma Gandhi, der große indische Nationalheld. Er kämpfte dort einen harten Kampf, um seinen Landsleuten bessere Lebensbedingungen zu verschaffen. Die Inder in Südafrika trauerten sehr, als Gandhi nach Indien zurückkehrte, wo er später einem Meuchelmord zum Opfer fiel.»

«Es gibt Rassenkämpfe in Kapstadt, nicht wahr?» fragte Jan.

«Ja, das stimmt leider», nickte der Ingenieur. «Wenn die Stadt auch als irdisches Paradies bezeichnet werden kann, so lauert doch die Schlange im Hintergrund. Das liegt an den furchtbaren Rassenvorurteilen, deren Ursprung wir Außenstehende wohl kaum je ganz begreifen können. Nicht zuletzt in Südafrika haben die weißen Machthaber sich den Menschen anderer Hautfarbe gegenüber recht unbarmherzig benommen. Die Neger haben es am schlimmsten zu spüren bekommen, sie haben sich mit Umsiedlungen und harten gesetzlichen Bestimmungen abfinden müssen, die sie zu Menschen dritter Klasse degradierten. Viele andersdenkende Menschen aus aller Welt, besonders in England, haben gegen diese Verhaltungsweise der Europäer in Südafrika protestiert, denn die Zustände sind weit von aller Menschlichkeit und Nächstenliebe entfernt, aber die Proteste haben nicht das geringste bewirkt. Die Regierung in Kapstadt hat weder auf höfliche Vorstellungen noch auf wütende Proteste gehört...»

Smith schloß in etwas bitterem Ton: «Nun, die Touristen oder Reisenden, die nur kurze Zeit in Kapstadt weilen, merken natürlich von diesen furchtbaren Zuständen wenig. In den Zeitungen wird kaum etwas davon erwähnt, und wenn, dann nur einseitig, wie es die Redakteure für angebracht halten!»

«Pfui Teufel!» sagte Carl mit Nachdruck und meinte es genau so, wie er sagte.

Jan sagte gar nichts, aber er war um so nachdenklicher. Schon nach den spannenden Abenteuern in Casablanca hatte er begonnen, über die traurige Frage nachzudenken, die man Rassenproblem nennt. Große Teile der Welt sind von rassischer Intoleranz geprägt worden. Für Uneingeweihte ist es sehr schwierig, die verborgenen Ursachen dieser unseligen Streitigkeiten zu erkennen... Immerhin stand für ihn eines fest: weiße Menschen treten oft in einer Weise auf, daß man keinerlei Stolz empfinden kann, dieser Rasse anzugehören. Jan hatte plötzlich gar nicht mehr so viel Interesse für Kapstadt...

Die ‹Flying Star› legte in einem der äußeren Hafenbecken an, und Ingenieur Smith entschloß sich, das Schiff in die Werft zu geben, um es einmal gründlich revidieren zu lassen. Er rechnete im Grunde nicht mit irgendeiner Reparatur, aber er wollte wissen, wie der Motor die Strapazen von Kopenhagen bis Südafrika überstanden hatte. Während das Schiff nachgesehen wurde, sollte die Mannschaft bei dem dänischen Direktor Möller untergebracht werden, der Mortons Filiale in Kapstadt leitete. Diese große Dampfschifffahrtsgesellschaft, die Jack Mortons Vater gehörte, hatte überall auf der Welt Niederlassungen, und Morton hatte seinem Sohn Empfehlungsschreiben an die verschiedenen Filialleiter mitgegeben. Es ist in der Regel von großem Nutzen, wenn man in fremden Städten landeskundige Helfer findet, die einem mit Rat und Tat zur Seite stehen...

Mit großen Augen betrachteten die Jungen das Gewimmel am Hafen. Unzählige Schiffe wurden beladen und gelöscht. Auf den großen Lagerplätzen häufte sich Kohle, von den Schiffswerften ertönte das Dröhnen der Preßlufthämmer, und von den äußeren Hafenbecken glitten elegante Segeljachten auf den graublauen Atlantik hinaus. Die Stadt selbst mit ihren wunderschönen Vorstädten rahmte dieses Bild vorteilhaft ein; das Panorama wurde vom Tafelberg überragt. Die umliegenden Höhenzüge waren von breiten Tälern durchfurcht, in denen die Reichen der Stadt ihre Villen gebaut hatten. Gärten und Parkanlagen schienen gleichsam die Höhen zu erklimmen; vom Hafen aus gesehen, war es ein schmucker und malerischer Anblick.

Während Peter Nielsen und Marstal die ‹Flying Star› zur Werft manövrierten, fuhren Smith und die Jungen zu Direktor Möllers Villa. Auf der Fahrt durch die breit angelegten Straßen bekamen die Jungen reichlich Gelegenheit, die internationalen Hotels zu bewundern, die riesigen Bürogebäude und die reich ausgestatteten Schaufenster der Geschäfte. Große Plätze mit üppigen Blumenbeeten und ein enormer Autoverkehr vervollständigten das Bild. In Kapstadt schien jeder zweite Einwohner einen amerikanischen Straßenkreuzer zu besitzen, und Smith erklärte: «Ja, Kapstadt ist eine wohlhabende Stadt. Es gibt sehr viele reiche Leute hier, die sich alles leisten können, aber gleichzeitig gibt es auch eine fast unfaßbare Armut. Sowohl hier als auch in Johannesburg sind die Gegensätze gewaltig, wir als Dänen können uns davon keine Vorstellung machen. Die Eingeborenen werden miserabel entlohnt und müssen sich entsprechend nach der Decke strecken...»

Der Wagen fuhr weiter, jetzt waren sie schon in den Vorstädten angekommen, wo der Verkehr nicht mehr so stark war. Sie fuhren ein Tal entlang; rechts und links der Straße lagen prächtige Villen, die einander an Schönheit übertrafen. Alle waren von Parkanlagen umgeben, die von exotischen Bäumen und Blumenanlagen nur so strotzten. Ein betäubender Duft ging von ihnen aus. Kurz darauf bog der Wagen in eine Seitenstraße ab, die steil bergauf führte, um dann auf ein schmiedeeisernes Portal zuzuführen, das der Wagen passierte. Schließlich hielt der Fahrer vor einem Gebäude, dessen Anblick den Jungen beinahe den Atem verschlug. Es war ein großer, strahlend weißer Palast mit breiter Marmortreppe, die zum Haupteingang hinaufführte.

Direktor Möller war ein schlanker, sonnengebräunter Mann mit graumeliertem Haar, der seine Gäste sehr herzlich empfing. Besonders freute er sich, Jack begrüßen zu können, denn er hatte ihn vor einigen Jahren bereits in Kopenhagen kennengelernt. Damals war Jack noch ein kleiner Junge gewesen, darum bemerkte Direktor Möller jetzt lachend: «Wenn man dich sieht, Jack, dann merkt man jedenfalls, daß die Zeit nicht stehengeblieben ist. Damals in Kopenhagen konntest du kaum deine Schuhe selbst schnüren, und jetzt bist du ein junger Mann... ja, ja, seid alle willkommen und macht es euch bequem.»

Das Haus war innen ebenso schön wie außen, und die Jungen staunten nur so. Yan Loo war derart beeindruckt, daß er stolperte. Der kleine Chinesenjunge konnte es nicht fassen, daß er so vornehm wohnen sollte. Im ersten Stock befand sich eine ganze Reihe von Fremdenzimmern, aber die sechs Freunde zogen es vor, gemeinsam ein Zimmer zu beziehen, was ihnen auch ohne weiteres gestattet wurde. In das größte der Gästezimmer – einen Raum, der, wie Erling es ausdrückte, beinahe ein Tanzsaal war –, trugen Negerboys zusätzliche Betten, und es dauerte nicht lange, da waren die Jungen aufs beste untergebracht. Durch die hohen Fenster hatten sie eine großartige Aussicht: über die Bäume...