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von: Natalie Anders

dead soft verlag, 2015

ISBN: 9783945934197 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 5,99 EUR

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1


 

Es krachte. Schon wieder! Itan fluchte. Er verschob einen der Baumstämme um ein paar Millimeter. Als er die Zeit aktivierte, erschien dieser neben dem anderen, streifte ihn nur und fiel polternd zu Boden. Das Geräusch hallte hohl von den plastikweißen Wänden wider. Er seufzte. Diese Übung erschien ihm absolut sinnlos: In einem zeitleeren Raum mussten die Objekte so angeordnet werden, dass sie nach einem Mikro-Zeitsprung die gewünschte Position einnahmen. Eine Anfängerübung, die Itan nicht beherrschte. Er trat einen Schritt zurück und ging noch einmal den Verlauf durch. Doch seine Gedanken schweiften schnell ab und er fragte sich erneut, was er hier überhaupt tat. Irgendwie war er für den Ingenieurssektor der Vereinten Regierung ausgewählt worden. Dabei konnte er eine Unterlevelaufgabe nicht lösen. Die Durchschnittslösungszeit lag bei 3,46 Normminuten, wie das Hologramm beim Start mitgeteilt hatte. Seine Zeitanzeige blinkte blassblau auf 35 Stunden. Er rieb sich die Schläfen. Er brauchte etwas, um weiter klar zu bleiben. Als er den entsprechenden Wunsch an seinen Meddetektor weitergab, wies dieser ihn darauf hin, dass er bereits eine dreifache Überdosis eingenommen hatte und nichts mehr bekommen würde. Wunderbar! Dann sollte er für heute Schluss machen, bevor er den Lösungsdurchschnitt noch mehr verschlechterte.

Er wollte die Übung ein letztes Mal durchgehen, als er Schritte im Kontrollraum hörte. Um diese Uhrzeit war außer ihm selten jemand im Trainingsbereich zu finden. Außer wenn der Raum wieder einmal doppelt zugewiesen worden war.

„Ich bin gleich fertig!“, rief er und hoffte, der unerwünschte Zuschauer würde dort bleiben, wo er war. Er stellte den Baumstamm mit Hilfe der Gravitationsstrahlen aufrecht.

„Der schiefe Turm von Pisa?“, fragte eine Stimme hinter ihm. Itan musste lächeln. Die Übung basierte tatsächlich auf einer wahren Begebenheit, als es ein Zeitreisender durch eine absurde Verkettung von Unfällen geschafft hatte, den Turm wieder aufrecht stehen zu lassen. Die Regierung hatte damals sehr viel Geld und Personal investiert, um den Turm in die ursprüngliche Position zu bringen und alles zu vertuschen. Im Beta-Netz ließen sich jedoch bis heute Kopien der Aufnahme finden, die jemand vom aufrechten Turm schießen konnte.

Itan gefiel die Stimme und immer noch lächelnd drehte er sich zu dem Fremden um. Beim Anblick der gelben Uniform verhärtete sich sein Gesicht. Wie kam er darauf ihn einfach so anzusprechen? Ein Techniker wurde schon für weniger gefeuert. Itan wollte ihn gerade darauf hinweisen, als er eine Art Stolz, die ihm selbst fremd war, in seinem Blick bemerkte. Dieser Stolz hielt ihn davon ab, etwas zu sagen. Der Techniker lächelte und schaute zu den Baumstämmen.

„Es zählen alle Variablen“, sagte er. Itan trat an ihn heran und wollte ihm entgegnen, was er bald alles zählen dürfe, als er plötzlich die Lösung wusste. Es war so lächerlich einfach! Er lief zu der Plattform mit dem Übungsaufbau und ordnete beide Baumstämme neu an. Nach dem Einsetzen des Zeitsprungs erschienen sie im perfekten Winkel zueinander und stützten sich gegenseitig. Sein Hologramm erstellte augenblicklich ein dreidimensionales Modell und erklärte, dass er die Aufgabe vorbildlich gelöst hatte. Itan atmete aus. Endlich.

Es muss an der Überdosierung gelegen haben, denn plötzlich musste er lachen. Der Techniker sah stumm zu, wie Itan minutenlang vor sich hin lachte, bevor er sich zur Ruhe zwang, damit sein Meddetektor keinen Alarm auslöste. Er schnappte nach Luft und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Langsam ging er auf den anderen Mann zu und streckte seine Hand aus.

„Itan.“

„Ja, ich weiß“, antwortete der Techniker und sah die Hand an. Es wurde schnell zu peinlich sie länger hinzuhalten und er zog sie zurück. Was zum Teufel? Er verfluchte innerlich den Techniker und die Drogen. Der andere salutierte und übermittelte Informationen von seinem Datenband an Itans.

„Viktor Silas. Technischer Assistent 0.009, Supportabteilung.“ Während Itan die Unterlagen an sein Hologramm weiterleitete, erwachten die Übungsräume entlang des Flurs zum Leben. „Ich wurde Ihnen auf Ihren Antrag hin als persönlicher technischer Assistent für die nächsten zwölf Monate zugewiesen. Eine bestandene Probezeit von einem Monat vorausgesetzt.“

Itan nickte und schickte eine Anfrage für die Akte von Viktor Silas. Er hatte den Antrag erst letzte Woche gestellt und schon bekam er jemanden mit einer solchen Rangnummer? Wollte Silas ihn als Sprungbrett benutzen? War er so ehrgeizig?

Seine Augen scannten Viktors Gesicht und Körper ab. Er war in jeder Hinsicht unauffällig: so groß wie Itan selbst, mit dunklen Haaren und einem einfachen Haarschnitt. Er hatte zwar grüne Augen, aber das Grün tendierte zu sehr zu Braun. Ein Jammer, dass seine Erzeuger anscheinend kein Geld und keine Motivation gehabt hatten, die Farbe rein generieren zu lassen. Itan verzog den Mund. Er hatte sogar Fältchen um die Augen und eine blasse Narbe über der Oberlippe. So arm konnte er nicht sein, dass er sich keine kosmetische Versorgung leisten konnte. Selbst eine Irisreinigung wäre noch möglich.

Viktor wich seinem Blick aus und sah zu Boden, salutierte dann wieder und ging wortlos an ihm vorbei, um mit dem Aufräumen zu beginnen. Es dauerte nur Augenblicke, bis der Übungsaufbau verschwand und die Zeitgeneratoren zum Aufladen geschickt wurden. Sogar die Dellen in der Plattform waren nicht mehr zu sehen.

„Ich habe die Raumbelegung für die nächsten zwölf Monate bereits beantragt und bestätigt bekommen“, sagte er, als er wieder vor Itan stand. „Kann ich Ihnen heute noch behilflich sein?“ Itan schüttelte den Kopf. Er hatte genug für heute.

„Nein, das war’s. Danke.“

„Ich stehe Ihnen bei Ihrer Rückkehr wieder zur Verfügung.“ Der Techniker salutierte, ohne ihn wirklich anzusehen, und eilte aus dem Übungsraum. Itan war zu müde, um sich noch mehr über den anderen zu wundern und bat sein Hologramm, Essen für seine Rückkehr bereitzuhalten.

 

„Wie überdosiert bist du denn?“, fragte eine bekannte Stimme.

„Farran.“ Itan nickte grüßend.

„Hast du gerade ernsthaft dem Abschaum gedankt?“, fragte dieser weiter. Itan verdrehte nur die Augen und holte seine Jacke. „Ach, komm! Was hatte er hier überhaupt zu suchen?“

„Er ist mein Assistent. Schon vergessen? Du hast mir doch den Antrag eingeredet.“

Farran begann auf eine Art zu grinsen, die Itan immer Unbehagen bereitete. „Was?“

„Was wohl!“

Itan zog seine Jacke an und verließ einfach den Raum. „Wir sehen uns gegen Mittag wieder. Meine freundlichsten Grüße an Mikka!“ Wie erwartet lief Farran ihm hinterher.

„Warte doch! Du hast wirklich keine Ahnung?“

„Ich habe keine Lust darauf, Farran!“

„Dein Assistent ist der Freak-Tech.“

Itan stolperte fast.

„Du hättest mir besser zuhören sollen. Dann hättest du es gewusst. Du hast dir ernsthaft den Freak-Tech geangelt!“, rief Farran aus und mehrere Personen drehten sich nach ihnen um. „Lässt du ihn die Probezeit bestehen? Du bist echt nicht zu beneiden. So eine Story! Ich muss das unbedingt den anderen erzählen!“, sprach er schnell weiter, ohne Itans Antwort abzuwarten und verschwand in einem der Trainingsräume.

 

Das Wasser war künstlich, aber perfekt temperiert und Itan versuchte die drei Minuten voll auszukosten. Das ungute Gefühl, das er seit dem Gespräch mit Farran hatte, ließ sich damit trotzdem nicht vertreiben. Natürlich hatte er vom Freak-Tech gehört. Jeder wusste eine Geschichte über ihn zu erzählen. Der Pausenraum in ihrem Teil des Sektors wurde wie alle Räume dieser Art zum Lästern genutzt. Oder „Informationsweitergabe unzuverlässigen Ursprungs“ wie Farran es gerne nannte. Und über den Freak-Tech gab es die wildesten Gerüchte: psychoprogrammiert, Androide, Zuchtversuch des Medsektors, ein illegal zeitimportierter Neandertaler ... Er dachte an Viktors fremdartigen Stolz und konnte verstehen, dass er auf manche befremdlich wirkte. Etwas, das man nicht kannte oder nicht benennen konnte, machte Menschen Angst. Auch ihm. Der Rest der Gerüchte war nur bösartiges Gerede. Er fühlte sich trotzdem unwohl. Er hatte nicht vorgehabt, ausgerechnet wegen seines Technikers aufzufallen.

 

Beim Essen teilte ihm das Hologramm mit, die Herausgabe der gewünschten Akte bedürfe der Zustimmung der Datentransfersektion. Itan zuckte mit den Schultern. Auch digitale Bürokratie war immer noch Bürokratie. Kurz darauf meldete sich auch sein Meddetektor, um darauf hinzuweisen, dass sein momentaner psychischer und physischer Zustand einer Verbesserung bedürfe. Er empfahl zwischenmenschliche Beziehungen auf körperlicher Ebene. Itan musste lächeln. War wieder eine Woche um? Um die KI zu ärgern, fragte er, ob es überhaupt legal sei, jemanden zusammenzuschlagen. Der Detektor erklärte daraufhin, er habe Geschlechtsverkehr gemeint, dass es jedoch Möglichkeiten gäbe, beide Definitionen miteinander zu verbinden. Sollte er nach geeigneten Partnern suchen? Itan bat um Bedenkzeit und gab später selbst die gewünschten Parameter ein.

Als er im Bett lag und seinen Trainingsplan für die Woche durchging, cancelte er seine Anfrage. Der Meddetektor trug wieder seinen Vortrag über die Wichtigkeit von körperlichen Beziehungen vor, injizierte aber die Drogen und ging diskret auf Stand-by. Itan hatte keine Lust sich mit einer fremden Person auseinanderzusetzen. Oder sich überhaupt Zeit für sie zu nehmen. Sein Training war...