Der Campus - Thriller

von: Tom Clancy

Heyne, 2015

ISBN: 9783641176464 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Der Campus - Thriller


 

 

Prolog

Im Mondlicht erschien plötzlich die indische Küste. Tatsächlich war gar nicht viel zu sehen, nur ein schmaler Sandstreifen, der einige Hundert Meter vor dem Schiffsbug aus der Dunkelheit auftauchte, aber das erste Land, das er seit vier Tagen erblickte, vermittelte dem Mann auf dem Vorderdeck zwei wichtige Informationen:

Erstens: Die Eindringphase seiner Operation war erfolgreich verlaufen.

Und zweitens: Es war Zeit, dem Kapitän die Kehle durchzuschneiden.

Der Mann auf dem Vorderdeck zog sein Messer und ging zur Treppe hinüber, die zur Kommandobrücke hinaufführte. Zwei seiner Männer folgten ihm auf dem Fuß, sollten ihm jedoch nur zusehen. Als Anführer war es seine Aufgabe, den Kapitän zu töten. Tatsächlich war das für ihn auch keine Belastung. In Wahrheit begrüßte er die Gelegenheit, den anderen wieder einmal seine Hingabe für ihre gemeinsame Mission zu beweisen.

Der Anführer und sein Sechsmannteam hatten die ersten drei Tage an Bord eines omanischen Fischkutters auf dem offenen Arabischen Meer verbracht. In der letzten Nacht näherten sie sich diesem fünfundzwanzig Meter langen Trockengutfrachter und winkten ihnen mit einem gerissenen Keilriemen zu. Auf Hindi baten sie dann um Hilfe. Als der Frachter sich neben sie legte, huschten der Anführer und seine Männer jedoch wie Sumpfratten an Bord, überrannten die kleine Mannschaft und schlachteten alle ab. Nur den Kapitän ließen sie am Leben und befahlen ihm, genau nach Osten Kurs auf die indische Malabarküste zu nehmen.

Der Anführer hatte einen halben Tag gebraucht, um den verängstigten Kapitän davon zu überzeugen, dass er nicht dasselbe Schicksal erleiden würde wie seine Mannschaft. Wenn er ihn jetzt tötete, würde sich das natürlich als Lüge erweisen, aber als der Anführer zur dunklen Brücke hinaufstieg, machte ihm dieser Vertrauensbruch nicht im Mindesten zu schaffen. Seine Gedanken waren schon längst an Land und galten nur noch der Zielphase seiner Operation.

Der Anführer war ein Unterkommandeur der Essedin-al-Kassam-Brigaden, des militärischen Arms der Hamas. Man hatte ihn auf diese Mission geschickt, um einen einzigen Mann auszuschalten, aber er wusste von Anfang an, dass viele andere wie etwa der Kapitän und seine Mannschaft bei dieser Aktion notwendigerweise geopfert werden mussten.

Bisher hatte er vollständige Kontrolle über seinen Einsatz gehabt. Die nächste Phase lag jedoch in der Hand von jemand andres, was ihm große Sorge bereitete. Alles hing jetzt von der Kompetenz einer lokalen Kontaktperson ab – einer Frau. Bei der Einsatzbesprechung hatte man ihm mitgeteilt, dass sie die Anwesenheit der Zielperson festgestellt und die Einsatzbereitschaft der örtlichen Polizei überprüft hatte und, Inschallah, ein Fahrzeug zu seiner Landestelle bringen würde und, Inschallah, daran denken würde, die Schlüssel unter den Fahrersitz zu legen.

Am Ende der Treppe zum äußeren Brückendeck verlor der Anführer kurzzeitig das Gleichgewicht und streckte den Arm aus, um sich aufzufangen. Die Männer hinter ihm auf der Treppe hatten sein Stolpern nicht mitbekommen. Darüber war er froh, denn sie könnten sich sonst fragen, ob es sich dabei um ein Zeichen von Nervosität handelte, und das durfte auf keinen Fall geschehen. Tatsächlich hatte ihn nur ein leichter Schwenk des Schiffes nach Steuerbord aus dem Gleichgewicht gebracht. Im Übrigen war es kein Wunder, dass seine Beine nicht unbedingt seefest waren. Er stammte zwar aus dem Gazastreifen, wo er in unmittelbarer Nähe des Meeres aufgewachsen war, hatte jedoch vor dieser Woche nichts Größeres als ein Fischerboot mit Außenbordmotor betreten.

Man hatte ihn wegen seiner Intelligenz, Rücksichtslosigkeit und Entschlossenheit, aber bestimmt nicht wegen irgendwelcher seemännischen Fähigkeiten ausgewählt.

Oben auf dem Brückendeck hielt der Anführer kurz an, um aufmerksam in alle Richtungen in die Dunkelheit zu spähen. An Land gab es außer einigen Bretterbuden kaum Anzeichen von Zivilisation. Nur im Süden war im Dunst der Lichtschein der fünfundvierzig Kilometer entfernten riesigen Küstenmetropole Kochi zu erkennen.

Zufrieden, dass es niemand gab, der einen Schrei über das offene Wasser hören würde, griff er nach dem Türriegel.

Der nicht mehr ganz junge indische Kapitän schaute sich nicht einmal um, als der Anführer die Brücke betrat. Er hielt weiterhin das Steuerrad fest und schaute unverwandt geradeaus. Nur sein schwerer Atem zeigte seine Angst.

Er wusste Bescheid.

Der Anführer ging auf ihn zu und hielt sein Messer hinter dem Oberschenkel versteckt. Eigentlich wollte er ihn mit lockerer Stimme irgendetwas fragen, um ihn abzulenken, damit er einen Augenblick ruhig blieb. Aber jetzt sagte er kein Wort, sondern hob nur die Klinge in seiner rechten Hand.

Drei Schritte später stand er direkt hinter dem Rücken des Mannes, umfasste ihn mit dem rechten Arm, stieß ihm das Messer in den Hals und zog die Klinge durch die Kehle nach hinten. Danach ließ er das Messer fallen und trat einen Schritt zurück. Der Inder wirbelte herum, und sein Blut spritzte quer über die Brücke auf die Hosen und Schuhe des Anführers, obwohl dieser bis zur Wand der Steuerkabine zurücksprang, um ihm auszuweichen.

Die beiden anderen beobachteten das Ganze durch die offene Tür und entgingen damit dem rhythmisch spritzenden Blutschwall.

Der Kapitän sank auf die Knie. Für einen Augenblick war das Zischen und Gurgeln aus seiner offenen Wunde zu hören. Dann starb er. Sein Todeskampf war Gott sei Dank nur kurz, dachte der Anführer mit einer gewissen Erleichterung.

»Allahu akbar«, rief er in ehrerbietigem Ton, stieg über die Leiche, stellte sich notgedrungen mitten in die immer größer werdende Blutlache und packte das Steuerrad.

Aber nur für einen Moment. Schließlich war er kein Kapitän. Tatsächlich wusste keiner seiner Männer, wie man den Frachter sicher in einen Hafen bringen konnte. Der Kapitän hatte ihnen allerdings erzählt, dass es dort überhaupt keinen Hafen gab. Der Anführer schaltete also nur die Motoren in den Leerlauf und befahl seinen Männern, das Beiboot, in das sie bereits ihre gesamte Ausrüstung geladen hatten, zu Wasser zu lassen.

Zwanzig Minuten später kletterten die Männer in die leichte Küstenbrandung hinaus und zogen das kleine Beiboot auf den Ufersand hinauf, bis es die anbrandenden Wellen nicht mehr erreichen konnten.

Das Boot hier einfach zurückzulassen war kein Problem. Sie würden es nicht mehr benötigen. Laut Plan würde die Abzugsroute in Richtung Osten über Land nach Madurai verlaufen, wo sie mit gefälschten Papieren von einem Flugzeug ausgeflogen werden würden. Außerdem fiel das Boot hier gar nicht auf und konnte deshalb auch nicht ihren Einsatz gefährden, da auf diesem Uferstreifen mehrere kleine Wasserfahrzeuge unbeaufsichtigt herumlagen. Netzfischer hatten sie dort über Nacht zurückgelassen. Nur die Außenbordmotoren hatten sie entfernt und in ihre heimischen Strohhütten mitgenommen, um sie vor Dieben zu schützen.

Die Männer holten schwarze Segeltuchtaschen aus dem Beiboot und legten ihre Ausrüstung an. Drei zogen sich schwere Schutzwesten und darüber große schwarze Windjacken an. Die anderen vier hängten sich kleine Maschinenpistolen an Gurten um den Hals und schnallten sich Munitionstaschen um. Ihre Waffen waren Micro-Uzis, 9-mm-Maschinenpistolen, die ausgerechnet in Israel hergestellt worden waren. Aber die Ironie ihrer Auswahl wurde von der unbestreitbaren Zuverlässigkeit der Waffen in den Schatten gestellt.

Drei Minuten später hatten sie den Sandstrand verlassen und liefen eine dunkle Uferstraße entlang, die von Kokospalmen gesäumt war.

Die örtliche Kontaktperson hatte tatsächlich ihr Fahrzeug auftragsgemäß direkt neben der Straße an einen schmalen Graben gestellt. Wie man es dem Anführer während der Einsatzbesprechung mitgeteilt hatte, handelte es sich um einen großen braunen Lieferwagen, der normalerweise Milch aus einem örtlichen Bauernhof zu den Einwohnern von Kochi beförderte. Die Kühlanlage hatte man aus dem Laderaum ausgebaut, was den fünf Männern, die jetzt durch die Seitentür einstiegen, gerade genug Platz ließ.

Auch die Schlüssel lagen wie ausgemacht unter dem Fahrersitz. Der Anführer war ebenso erfreut wie erstaunt über die Tüchtigkeit dieser Frau. Er rutschte auf den vorderen Beifahrersitz, sein Stellvertreter klemmte sich hinter das Lenkrad, und die anderen setzten sich nach hinten. In dieser ganzen Zeit sprachen sie kein einziges Wort.

Sie verließen die Uferzone und fuhren nach Osten über eine enge befestigte Straße, die durch die sogenannten Backwaters führte, ein System von natürlichen und künstlich angelegten Brackwasserseen und Kanälen, wo sich das Salzwasser aus dem Arabischen Meer mit dem Süßwasser des Periyar-Flusses vermischte. Auch diese Straße säumten auf beiden Seiten Kokospalmen. Dichter Dunst zerstreute das Licht der Scheinwerfer.

Der Anführer schaute auf die Uhr und auf sein tragbares GPS-Gerät, in das er die Koordinaten eingegeben hatte, die ihnen die örtliche Kontaktfrau übermittelt hatte. Ihr erster Halt war der Mobilfunksendemast an der Landstraße von Paravur nach Bhoothakulam. Da zu ihrer Zielperson keine Telefonleitung hinführte, würde sie die örtliche Polizei nicht mehr alarmieren können, nachdem sie den Sendemast außer Funktion gesetzt hatten.

Der Anführer besprach sich kurz mit seinem Fahrer und drehte sich danach zu den Männern hinter ihm um. Er sah...