Der Teufel vor meiner Tür - Zehn Jahre missbraucht und manipuliert. Wie ich der Hölle meiner Kindheit entkam

von: Annabelle Forest

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732514052 , 300 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Der Teufel vor meiner Tür - Zehn Jahre missbraucht und manipuliert. Wie ich der Hölle meiner Kindheit entkam


 

Kapitel 2


Mama


Ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem meine Mutter nett zu mir war. Meine jüngere Schwester und ich wurden nie geküsst oder umarmt. Sie brachte uns nicht ins Bett und sagte uns nie, dass sie uns liebte. Sie sprach nicht einmal viel mit uns. Sie las uns nichts vor oder spielte mit uns. Tatsächlich war meine Mutter derart wenig präsent, dass ich mich bis zu meinem siebten Lebensjahr kaum daran erinnere, dass sie überhaupt anwesend war. Groß und schlank mit langem goldbraunen Haar hatte Mama das Tattoo eines Hais auf der Schulter, und rückblickend war sie während dieser ersten Jahre genau wie dieser Fisch. Sie glitt geräuschlos wie ein Hai durch meine Kindheit: als geschmeidiges, dunkles und grübelndes Wesen; als leicht bedrohliche Silhouette am Horizont. Wenn ich gelegentlich einen inneren Blick auf meine Erinnerungen werfe und Mama zu erhaschen suche, ist dort nichts, sie ist weg. Nichts außer dem Kräuseln des Wassers als Zeichen, dass es sie überhaupt gab.

Mama war die mittlere von drei Schwestern aus Ost-London, und bevor wir nach Wales zogen, hielt ich mich immer in der Nähe des Hauses von Tante Becca auf, Mamas älterer Schwester. Tante Becca war anders als meine Mutter. Sie war mollig und warmherzig, während Mama dünn und kalt war. Und das Beste war, dass Tante Becca so lieb zu mir war – sie ging mit mir in den Park, und wir veranstalteten gemeinsame Picknicks. Wir schauten uns Filme an und kuschelten dabei auf dem Sofa, und sie nahm mich sogar in den Urlaub mit ihrem Partner Alex mit.

Einmal waren wir auf einem Campingplatz in Devon, und das gesamte Areal wurde von Wasser überflutet. Es war ein seltsamer Urlaub, die ganze Zeit in Gummistiefeln herumzulaufen, aber ich weiß noch, dass wir viel gelacht haben. Tante Becca verfügte über ein ansteckendes Lachen, und es kam oft und leicht.

Tante Becca hatte noch keine eigenen Kinder. Allerdings wusste ich, dass sie irgendwann welche haben wollte. Und sobald wir zusammen waren, übte sie sich als gute Mama, indem sie mich mit Liebe überschüttete. Ich genoss es von ganzem Herzen.

»Eigentlich bist du meine Tochter«, pflegte sie zu sagen und zwinkerte mir zu, bevor sie mich in die Arme schloss. Das war unser gemeinsamer Scherz – wir taten so, als sei Tante Becca meine richtige Mama, und Mama sei nur die Frau, bei der ich wohnte. Irgendwie erschien mir dies realistischer als die Wahrheit. Zu Hause gab es nie Picknicks, Filme oder Spaß. Ich kann mich nicht einmal erinnern, dass ich irgendwelches Spielzeug hatte. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich zwei war, und ein paar Jahre später lernte Mama einen neuen Freund kennen, Alan. Er war sehr viel jünger als sie – gerade mal neunzehn, während sie vierundzwanzig war –, doch er war nett und süß. Zusammen bekamen sie meine Schwester Olivia, die fünf Jahre jünger ist als ich. Es war Alan, der mich jeden Tag von der Schule abholte und oft mit mir in den Park ging.

Alan war groß und stämmig und hatte einen geschorenen Kopf. Er war die überwiegende Zeit glücklich und munter. Ich mochte ihn. Alan begleitete mich am Wochenende zu meiner Tante und band mir die Schnürsenkel meiner knallroten Turnschuhe zu. Alan war es auch, der mich abends ins Bett brachte und mir einen Gutenachtkuss gab. Doch ich nannte ihn nicht »Papa« – ich kannte meinen richtigen Vater. Er hieß David, und ein oder zwei Mal im Monat holte er mich ab, damit ich einen Tag bei ihm zu Hause mit seiner neuen Frau und ihrem kleinen Jungen verbrachte.

Sie besaßen einen großen Garten mit einem Swingball-Gerät und einem Trampolin – in diesem Garten konnte ich stundenlang spielen. Jedes Mal, wenn mich mein Vater zu Fuß nach Hause brachte, hatte er Spaß daran, mir Furcht einzujagen, indem er erzählte, der Ort, wo man den neuen Docklands Light Bahnhof baue, sei eigentlich der geheime Schlupfwinkel des Schreckgespenstes Bogie Man. Ich schrie aus Leibeskräften. Natürlich empfand ich keine richtige Angst, es war vielmehr dieses lustige, genussvolle Schaudern, das man bei einer guten Schauergeschichte spürte. Wir riefen »Buh«, wenn jemand um die Ecke kam, wenn wir Achterbahn fuhren oder wenn wir jemanden die Treppe hochjagten. Erlebnisse, bei denen ich erst schreien musste, danach lachen. Damals wusste ich noch nicht, was echte Furcht ist.

Wenn mich mein Vater am Fuße des Häuserblocks verließ, mischte sich in sein Lächeln Traurigkeit.

»Wir sehen uns in Kürze wieder«, sagte er dann und streichelte mein Gesicht mit den Sommersprossen. »Spinnenkacke« nannte er sie, und danach lachte er sich halbtot, während ich mein Gesicht verzog und so tat, als müsse ich kotzen.

Das war mein Vater. Er war nett und närrisch, und ich liebte ihn. Doch im Gegensatz zu Alan war er nicht jeden Tag für mich da.

In Wirklichkeit fehlte es mir damals nicht an Liebe. Ich hatte meine Tanten, meinen Vater, und für alles andere gab es immer noch Oma und Opa. Oma war eine winzige kleine Lady. Selbst als kleines Mädchen konnte ich einschätzen, wie winzig und fürchterlich dünn sie war. Doch sie hatte die gleiche ungewöhnliche Haarfarbe wie ich – rötlich braun. Und sie war definitiv die Herrin im Haus.

Opa sah mit seinem altmodischen Schnurrbart aus wie Blakey in der Filmkomödie Aufruhr im Busdepot – immer großkotzig und laut und voller Witz. An den Wochenenden nahmen mich die beiden mit zu ihren Bowl-Turnieren, und ich schaute ihnen gerne zu, wenn sie in ihren engen weißen Hemden und Hosen spielten. Sie waren wahrlich gut, und ihr Haus war voll mit Medaillen und Pokalen, die sie im Laufe der Jahre gewonnen hatten.

Weihnachten feierten wir immer in ihrem Haus, und Opa schob dann sämtliche Tische zusammen, um für die ganze Familie Platz fürs Festessen zu schaffen. Er nannte es den »Raumschiff-Enterprise-Tisch«. Opa liebte seinen Drink. Er genoss es, den Clown zu spielen, indem er so tat, als laufe er gegen eine Tür, oder er stotterte, damit ich zu lachen begann und meinen Saft ausspuckte.

Ich fand es toll, mit meinem Opa zusammen zu sein. In den Ferien nahm er mich mit an den Strand in Southend, und dann saßen wir dort und schleckten das schmelzende Eis von unseren klebrigen Händen. Oder wir machten uns nach London auf, um Museen zu besuchen, und anschließend setzte er mich auf seine Schultern und zeigte mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Opa arbeitete am Empfang einer Universität, und manchmal durfte ich ihn in dieses große und sehr belebte Gebäude begleiten. Auf dem Nachhauseweg spielten wir in der U-Bahn I-Spy, bis ich völlig erschöpft war und ausgestreckt auf seinen Beinen einnickte.

Später schlichen wir dann zusammen in die Küche und stürzten uns auf den Kühlschrank – wir aßen gekochten Schinken direkt aus der Packung, obwohl wir wussten, dass Oma das hasste. Oma und Opa hatten immer herrliche Sachen im Kühlschrank – Schinken, Cocktail-Würstchen und leckere Käse-Snacks. Die Törtchen waren mit Kirschen gefüllt. Ich liebte Kirschen.

Ich kann mich nicht erinnern, bei uns zu Hause leckeres Essen bekommen zu haben. Es gab nur Billigware aus dem Discounter Asda. Alan nannte unsere Wohnung immer das »Kopfsteh-Haus«, weil die Schlafzimmer unten und das Wohnzimmer oben waren. Dabei war es überhaupt kein Haus; es war eine Maisonette-Wohnung in einer Siedlung von Hochhäusern. Wir wohnten im 14. Stock, und ich fuhr jeden Tag mit dem Fahrstuhl rauf und runter.

Wenn ich an diese Zeit denke, halte ich auch immer Ausschau nach meiner Mutter. Doch ich kann sie nirgends entdecken. In unserem »Kopfsteh-Haus« sehe ich sie nicht, am »Raumschiff-Enterprise-Tisch« zu Weihnachten ist sie auch nicht, und im Park in der Nähe unserer Wohnung finde ich sie ebenfalls nicht. Einzig ihren Schatten nehme ich wahr. Man erzählt mir, in London sei sie eine gute Mutter gewesen, sie habe sich sehr um mich und meine Schwester gekümmert. Ich glaube, für eine gewisse Zeit arbeitete sie sogar als Zahnarzthelferin. Aber aus der Zeit vor unserem Umzug nach Wales, bevor Colin Batley in unser Leben trat, habe ich so gut wie keine Erinnerung an sie. Daher weiß ich nicht, ob sie sich geändert hat, nachdem sie Colin begegnete, oder ob ich mich nur nicht an die guten Dinge erinnere, weil sie durch alles Spätere überlagert werden. Mit Sicherheit kann ich lediglich sagen, dass Mama für mein Leben erst von Bedeutung zu werden begann, nachdem Colin auf der Bildfläche erschienen war. Und das spricht nicht für sie.

Einige Tage nach der mitternächtlichen Begegnung wachte ich auf, weil ich dringend pinkeln musste. Das Haus, in dem wir damals wohnten, war nicht nur spärlich ausgestattet, es war auch seltsam geschnitten. Es gab nur eine Toilette, die man nur durch das Wohnzimmer erreichen konnte. Aus irgendeinem Grund befand sich an der Wohnzimmertür ein Riegel. Ich rannte die Treppe hinab und wollte das Wohnzimmer betreten – es war verschlossen. Daher lief ich wieder nach oben und öffnete Mamas Tür. Sie lag im Bett, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, das lange Haar um ihren Kopf drapiert.

»Mama, ich muss aufs Klo«, flüsterte ich flehend.

»Hm?«, murmelte Mama, doch sie hielt die Augen geschlossen. Ich kroch neben ihren Kopf und begann zu zucken, da der Druck meiner Blase immer stärker wurde.

»Bitte, Mama, öffne bitte die Wohnzimmertür. Ich muss Klein. Es ist wirklich dringend.«

Mama drehte den Kopf. »Geh weg.«

»Aber ich muss. Ich muss ganz, ganz dringend.«

Ich war verzweifelt. Ich verschränkte die Beine und versuchte das Pinkeln mit aller Macht zu unterdrücken.

»Gleich«, murmelte sie.

»Mama,...