Ich bin der Schmerz - Thriller

von: Ethan Cross

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783732514045 , 430 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Ich bin der Schmerz - Thriller


 

1


Ihr richtiger Name war Rhonda Haynie, aber ihre Kunden nannten sie nur »Scarlett«. Keiner von ihnen hatte sie je nach ihrem Nachnamen gefragt oder wissen wollen, ob wirklich Scarlett in ihrer Geburtsurkunde stand. Die Männer, die sie bezahlten, interessierten sich nicht für sie als Person. Sie zahlten für ein Fantasiebild, und das bekamen sie auch. Einige dieser Fantasien stießen an die Grenzen dessen, was Rhonda für Geld zu tun bereit war; sie offenbarten in manchen Menschen, die nach außen ganz normal wirkten, Abgründe an Perversion.

Als Rhonda die Tür des Motelzimmers öffnete, wusste sie sofort, dass der Job in dieser Nacht sie wieder an diese Grenzen führen würde.

Die Farbe an den Wänden hatte ihr Leben vermutlich als Mattweiß begonnen, war jedoch zu einem hässlichen Gelb gealtert. Eine einsame Lampe erhellte die hinterste Ecke des Zimmers, ließ den größten Teil aber im Dunkeln. Unter der Decke hingen keine Lampen, und das war gut so, denn auf diese Weise blieben die fleckige Bettwäsche und der Fußboden, der vermutlich einmal im Jahr gefegt wurde, vor den Blicken verborgen. Billige Drucke, die plätschernde Bäche und einsame Wälder zeigten, verdeckten ausgebesserte Stellen, wo betrunkene Bewohner Löcher in die Wände geschlagen hatten. Aus irgendeinem Grund waren sämtliche Bilder entfernt und in einer Ecke gestapelt worden. Das Bett war unberührt, aber eine Decke und ein Kopfkissen lagen zerknüllt vor der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden. Im Zimmer roch es, als hätte der Teppich tagelang draußen im Regen gehangen.

Kein Wunder, dass die anderen Zimmer des Motels frei zu sein schienen und auf dem Parkplatz kein Auto stand.

Dann sah Rhonda den Kunden. Er hatte einen alten Schreibtischstuhl mitten ins Zimmer gestellt und sich mit Handschellen darangekettet. Nun saß er da, ohne Hemd, und starrte an die Wand – eine in Dunkelheit gehüllte, gespenstische Gestalt.

Rhonda überkam ein ungutes Gefühl, aber die Miete musste bezahlt werden, also trat sie vorsichtig ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Hallo, Darling. Offenbar bist du schon bereit für mich«, säuselte sie, trat an die Kommode und schaltete eine weitere kleine Lampe ein.

Als sie sah, was das Licht offenbarte, schnappte sie nach Luft.

Narben bedeckten Brust und Arme des Mannes. Als Rhonda noch auf den Straßen gelebt hatte, hatte sie vieles gesehen, aber so etwas nie: Verbrennungen, Schnittwunden, Schusswunden. Mehr Narbengewebe als gesunde Haut. Der Körper des Mannes war ein lebender Leitfaden für Schmerz und Leid.

»Stimmt was nicht?«, fragte er mit tiefer, fester Stimme.

Rhonda zwang sich, dem Mann zum ersten Mal ins Gesicht zu blicken. Es passte nicht zum verunstalteten Körper. Es war ein attraktives Gesicht. Jung. Ausdrucksstark. Wache, kluge Augen.

Rhonda fragte sich oft, was ihre Kunden dazu bewog, die Dienste einer Frau in Anspruch zu nehmen, wie sie eine war. Bei diesem Mann waren die Gründe offensichtlich. Wer wagte sich mit solchen Narben schon ans Tageslicht?

Rhonda schenkte ihm ihr verführerischstes Lächeln. »Nein, Süßer, alles in Ordnung. Gib mir ’ne Minute, um mich frisch zu machen, dann fangen wir an.«

Sie ging zum Bad, doch seine nächsten Worte ließen sie innehalten. »Das brauchen Sie nicht. Zwischen uns wird es keinerlei sexuelle Aktivität geben.«

»Was?« Rhonda erstarrte. »An was für Aktivitäten hast du … haben Sie denn gedacht?«

»Auf der Kommode liegt ein Messer. Ich möchte, dass Sie mich damit schneiden. Drücken Sie mir die Spitze ins Fleisch und machen Sie einen schönen langen Schnitt. Fangen Sie an einem Trizeps an.«

Rhonda hatte in ihrem Job mehr als genug verrückte Aufforderungen erhalten. Manche Männer wollten geschlagen, ausgepeitscht oder sonst wie gedemütigt werden, oder sie, Rhonda, musste sich die abgefahrensten Outfits anziehen, um den Typen ihre kranken Fantasien zu erfüllen. Aber noch nie hatte ein Kunde sie gebeten, ihn körperlich zu verletzen. Allein der Gedanke verursachte Rhonda Übelkeit.

»Ihre Agentur hat mir versichert, dass Sie die abenteuerlustigste Dame sind, die sie zu bieten hat. Neben dem Messer liegt Geld. Da, auf der Kommode. Es ist das Dreifache des vereinbarten Betrages.«

Rhonda blickte auf die Kommode und sah die Geldscheine. Nach der Dicke der Rolle zu urteilen, sagte der Mann die Wahrheit. Dennoch, sie kannte ihre Grenzen. So etwas konnte sie nicht machen. Sie wollte nicht einmal in der Nähe eines Perversen bleiben, der sie zu so etwas aufforderte.

Dann kam ihr eine Idee. »Sind die Handschellen echt?« Ein ängstlicher Unterton ließ ihre Stimme zittern.

»Standardausführung der Polizei.«

»Und wie wollen Sie die Dinger loswerden, wenn wir fertig sind? Sind Sie Zauberer?« Rhonda versuchte zu lachen, doch selbst in ihren eigenen Ohren klang es gezwungen.

Der Mann lächelte, ohne dass die Heiterkeit seine Augen erreichte. »Ich bin davon ausgegangen, dass Sie so freundlich wären, die Handschellen zu öffnen. Der Schlüssel liegt ebenfalls auf der Kommode.«

»Schön. Das habe ich gehofft.«

Rhonda klopfte ihm auf die Schulter, schnappte sich Geld und Schlüssel und hetzte zur Tür. Ihre Finger schlossen sich um den Knauf. Im gleichen Augenblick traf sie etwas von hinten. Starke Hände packten sie bei den Schultern, rissen sie herum, rammten sie mit dem Rücken gegen die Türfüllung.

Der verunstaltete Mann drückte Rhonda eine Messerklinge an den Hals, ohne die Haut zu ritzen. Sein Atem war heiß auf ihrer bloßen Haut. »Ich möchte mich entschuldigen, sollte ich den Eindruck erweckt haben, an den Stuhl gekettet zu sein. Wegen der vielen Narben auf meinen Unterarmen sind meine Handgelenke so dick, wie meine Hände breit sind. Das ist sehr praktisch, wenn ich mich von Handschellen befreien möchte. Sie sollten verhindern, dass ich im Reflex zuschlage, wenn Sie die Schnitte machen. Sie dienten zu Ihrem Schutz.«

Rhonda liefen Tränen über die Wagen und hinterließen Streifen in ihrem Make-up. »Bitte, ich …«

Der Mann nahm das Messer von ihrer Kehle und beugte sich näher an sie heran. »Ich sollte mit meinem Urteil wohl nicht allzu streng sein. Ich bewundere Frauen mit Initiative, deshalb werde ich Ihnen den Versuch, mich übers Ohr zu hauen, nicht übel nehmen. Aber zwischen uns beiden besteht ein mündliches Abkommen, und Sie haben Ihren Teil noch nicht erfüllt.«

Rhondas Hand wanderte hinauf zum Oberschenkel. Sie zog ihren schwarzen Minirock hoch. Darunter hielt sie ein kleines Springmesser versteckt – für Situationen wie diese. »Sie wollen von mir geschnitten werden?« Sie ertastete den Metallgriff, zog das Messer und drückte den Knopf, der die Klinge herausspringen ließ. »Wie wär’s für den Anfang damit?«

Rhonda rammte ihm das Messer ins Bein und stieß ihn von sich weg. Sie rechnete fest damit, dass er zu Boden ging, aber er blieb auf den Beinen und warf sich gegen die Zimmertür, sodass Rhonda nicht hindurchkam. Mit einem schrillen Schrei rannte sie zum Bad und wäre beinahe über den Stuhl in der Zimmermitte gestürzt. Kaum war sie im Bad, knallte sie die Tür hinter sich zu und schloss ab.

Mintgrüne Fliesen bedeckten die Wände. In dem kleinen Raum stank es nach Schimmel und Urin.

Ein wuchtiger Schlag ließ den Türrahmen erzittern. »Sie strapazieren meine Geduld«, sagte der Mann auf der anderen Seite der Tür mit ruhiger Stimme.

Rhonda zitterte am ganzen Körper und wischte sich die blutigen Hände am Kleid ab, während sie sich hastig nach einem Ausweg umsah. Der weiße Duschvorhang war dünn; Licht schimmerte hindurch. Sie riss ihn so wild beiseite, dass die Vorhangringe zersprangen und mit leisem Klirren auf den gefliesten Boden regneten.

In der Wand hinter der Dusche war ein Fenster. Rhonda kletterte in die Wanne und versuchte, den Fensterrahmen hochzuschieben. Er rührte sich nicht. Sie entdeckte einen Riegel, legte ihn um, schob noch einmal. Das Fenster bewegte sich keinen Millimeter. Offenbar hatten Lack oder Farbe es verklebt.

Die Badezimmertür flog auf. Das Holz splitterte, der Knauf schmetterte gegen die Kacheln an der Wand. Die grüne Keramik bekam Risse, splitterte und prasselte zu Boden.

Rhonda schrie auf, doch der Mann war bereits bei ihr. Sein Griff war fest wie ein Schraubstock. Er drückte ihr die Luftröhre zusammen, schnitt ihren Schrei ab und hob sie aus der Wanne.

Rhonda kratzte an seiner Hand und trat ihn, doch er war viel zu stark für sie. Ihre Gegenwehr erlahmte. Ihr wurde schwarz vor Augen.

In diesem Moment erkannte Rhonda, dass sie sterben würde. Sie würde ihr kleines Mädchen nie wiedersehen, würde ihrer Großmutter nie sagen können, wie leid es ihr tat, nach dem Tod ihrer Eltern durchgebrannt zu sein.

Rhonda fragte sich benommen, was der Mann mit ihrer Leiche anstellte. Würde er sie verstümmeln? Sie irgendwo verscharren, wo die Käfer sie fraßen? Sie stellte sich vor, wie Maden sich durch ihre Adern wanden …

Der Mann hob das Messer, betrachtete versonnen die Klinge. Das Licht, das durchs Fenster fiel, funkelte und tanzte über das Metall.

So also ist der Tod …

Rhonda versuchte, nicht an die Schmerzen zu denken, die ihr bevorstanden. Würde er ihr das Messer in den Bauch rammen, wieder und wieder, und jeden Stoß auf perverse Weise genießen? Oder würde er ihr die Kehle durchschneiden und sie rasch verbluten lassen? Stumm erflehte sie einen schnellen Tod.

Die Klinge näherte sich ihr. Rhonda wollte die Augen schließen, wollte sich den Anblick des eigenen Blutes ersparen. Doch aus irgendeinem Grund weigerten sich ihre Lider, dem Befehl zu gehorchen, den ihr Hirn ihnen erteilte. Rhonda beobachtete, wie...