Die Feinde der Hansetochter - Historischer Roman

von: Sabine Weiß

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732515042 , 702 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Feinde der Hansetochter - Historischer Roman


 

1


Schonen, Anfang Juni

Der Mann hastet über den Strand. Er bemerkt weder, dass Sand in seine Lederschuhe dringt und sie ausbeult, noch, dass der Strandhafer seine Seidenstrümpfe zerreißt. Die finsteren Blicke seiner Schuldner treiben ihn weiter, genau wie deren Verwünschungen. Würde man es wirklich wagen, ihn anzugreifen? Verfolgte man ihn bereits? Er will lauschen, doch sein eigenes Keuchen übertönt alle Geräusche. Eilig erklimmt er die Düne. Niemand zu sehen. Schnell auf der anderen Seite hinab! Strauchelnd fällt er in den klammen Sand. Jetzt könnte sich jemand auf ihn stürzen! Er rappelt sich auf. Weiter, nur weiter, obgleich die Flanken schmerzen. Eine Düne noch, dann durch das Buchenwäldchen, und er hätte es geschafft.

Deutlich spürt er die schweren Geldbeutel an seiner Hüfte. Die Schonische Messe fängt erst in einigen Wochen an, aber er hat schon ein kleines Vermögen verdient. Am Strand um Falsterbo und Skanör tummeln sich bereits unzählige Menschen. Kaufleute konkurrieren um die besten Lagen für ihre Buden und feilschen mit den Fischern um ein Vorkaufsrecht auf ihren Fang. Alle treffen Vorbereitungen für die bedeutendste Handelsmesse der nordischen Welt. Nicht nur die Lage am wichtigsten Schifffahrtsweg der südlichen Ostsee macht Schonen so begehrt. Ein schlanker Fisch, der in den Sommermonaten hier dicht an dicht im flachen Wasser schwimmt, hat die dänische Halbinsel zu ihrer Bedeutung gebracht: »König Hering« ist die wichtigste Speise der Christenmenschen zur Fastenzeit – und die macht insgesamt immerhin etwa ein Drittel eines Jahres aus. Kein Kaufmann kann es sich leisten, die Schonischen Messen auszulassen, und so finden sich Tausende ein und bringen Waren aus aller Herren Länder mit. Im Moment arbeiten neben den Fischern und Fischweibern vor allem Zimmerleute hier, um die von den Winterstürmen weggefegten Holzschuppen wieder aufzubauen. Die Kaufleute haben, nach Städten geordnet, eigene Vitten, um Handel zu treiben und Salz, Bier, Tuche und andere Güter zu lagern. In einigen Buden wird der Fisch verarbeitet, in anderen der Grum, die Fischabfälle, zu Tran gekocht. Und natürlich können auch die Huren ihrem Gewerbe nicht im Freien nachgehen.

Er rennt über die letzte Düne in die Senke, in der kühle Schatten zwischen den jungen Buchen hängen. Der Kaufmann fröstelt und zieht sein samtenes Wams zusammen, damit der Kragen aus weichem Marderfell seinen Hals umschließt. Er braucht seine Stimme. Sie ist sein wichtigstes Handwerkszeug.

Seine Gedanken wandern zu seinen letzten Geschäften zurück. Er hatte Stangeneisen und Holz geliefert, beides zu einem hohen Preis. Die Nachfrage war so groß, dass er noch heute sein Schiff klarmachen und zurückreisen würde. Vielleicht würde es ihm gelingen, ein weiteres Mal vor seinen Konkurrenten in Schonen einzutreffen und ebenso viel Gewinn zu machen.

Der Waldrand ist erreicht. Endlich ist die Kirche in Sicht! So hell leuchtet die weiße Fassade des Gotteshauses gegen das Blau, dass er die Augen zusammenkneifen muss. Er spürt den Himmel über sich. Gott scheint ihm nah, zu nah. Jeden Winkel seiner Seele prüft der Allmächtige, und was er erblickt, dürfte ihm nicht gefallen …

Denn der Handel ist nicht das Einzige, mit dem er Geld verdient. Oft wird er als Wucherer geschmäht. Und in einem sind sich alle einig, ob Adelige oder Tagelöhner: Geld wollen sie borgen, aber ihre Schulden nicht bezahlen. Wie der Zimmerer, der ihn vorhin mordlustig beschimpft hat. Aber warum soll er keine Entschädigung erhalten, wenn er Geld verleiht? Schließlich haben seine Kunden auch nur ihren Vorteil im Sinn.

Doch allmählich wird ihm bang um sein Schicksal. Erst letzte Nacht war er wieder aus dem Schlaf geschreckt. Ihm träumte, der Erzengel Michael habe seine Seele gewogen und für zu leicht befunden, weil er angeblich einen unrechten Zins verlangt hatte. Im Traum hatte er versucht, sich zu verteidigen, doch seine Stimme hatte versagt. Auch hatte der Engel die winzigen Teufel nicht gesehen, die sich keckernd und feixend an die andere Seite der Waage krallten und mit ihren Hufen ausschlugen. Sie wollten ihn zu sich in die Hölle reißen, wo er die Qualen der Wucherer erleiden würde. Noch immer meint er ihr Lachen zu hören. Um die Teufel auf Abstand zu halten und eine sichere Schiffsreise zu erflehen, muss er in die Kirche. Gott muss gnädig gestimmt werden.

Eine Böe peitscht Sand in seinen Nacken. Der metallische Geruch des Fischbluts hängt ihm in den Kleidern. Wie gleißend das Licht ist! Als würde er direkt vor den himmlischen Heerscharen stehen …

Erleichterung durchflutet ihn, als er durch die offene Kirchentür tritt. In Sicherheit! Hier würde ihm niemand etwas antun. Wenn er erst gebeichtet hatte, würden auch die Teufelsstimmen in seinen Ohren verstummen.

Die Kirche scheint leer. Nervös nestelt der Kaufmann das Perlenpaternoster aus seiner Tasche. Die schimmernden Kugeln des Rosenkranzes fliegen über seine Fingerkuppen. Erst als sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnen, bemerkt er den Mönch, der bäuchlings mit ausgebreiteten Armen vor dem Altar liegt.

»Bruder Thomas?«, fragt der Kaufmann heiser. Bei ihm hatte er in den letzten Tagen gebeichtet. Der Priester hatte sich als gutwillig erwiesen und ihn nach großzügigen Spenden gerne von seinen Sünden freigesprochen. Er bevorzugt verständige Seelenhirten und meidet jene, die ihn maßregeln.

Der Priester erhebt sich. Er ist ihm unbekannt. Im Zwielicht im Gesicht des Geistlichen zu lesen, fällt ihm schwer.

»Ich will beichten. Ist Bruder Thomas nicht da?«

»Bruder Thomas hat sich zurückgezogen, um zu Gott zu sprechen. Zögert nicht, wenn Ihr Eure Seele erleichtern wollt. Wisst Ihr denn nicht: Wir sind nur Diener unseres Herrn. Jeder von uns dient ihm so gut wie der andere«, antwortet der Priester mit samtener Stimme.

Er weist auf den Stuhl, der seitlich des Altares steht. Worte und Tonfall beruhigen den Kaufmann etwas. Zögernd folgt er dem Gottesmann und lässt sich zu seinen Füßen auf die Steinplatten sinken. Wie kalt ihm ist! Aber von dem Geld, das er verdient, würde er sich etliche neue Pelze leisten können und einige Huren noch dazu, die ihm des Nachts das Bett wärmten. Noch etwas, das er beichten muss …

Die Hand legt sich auf seinen Kopf, überraschend schwer. Der Priester murmelt die lateinischen Sätze, die die Beichte einleiten. Die Anspannung des Kaufmanns lässt nach. Gleich wird er sich besser fühlen.

»Oh allerliebster Herr und allergerechtigster Gott. Meine Schuld ist groß, meiner Sünden sind viele. Meine Zeit ist kurz, und ich bin ein armer Mensch. Diese Sünden habe ich getan seit meiner letzten Beichte«, beginnt er. Zügig führt er die Vergehen auf, derer er schuldig geworden ist. Unkeusche Gedanken und unzüchtige Taten einzugestehen, fällt ihm leicht. Aber seine Geschäfte umschreibt er lieber nur. Es ist vertrackt, als Kaufmann steht man immer mit einem Bein im Fegefeuer! Der Priester ist jedoch einer von der Sorte, die es genau wissen will. Unbarmherzig bohrt er nach. Wie diejenigen Beichtiger, die sich in allen Einzelheiten den Ablauf einer Liebesnacht schildern lassen, um danach mit erhitzten Wangen die Bußsumme festzulegen.

»Ihr sprecht also von schändlichem Gewinn und Wucher, deren Ihr Euch schuldig gemacht habt?«, fragt der Priester streng.

Vielleicht hätte er doch auf Bruder Thomas warten sollen. Aber dann hätte er seine Abreise verschieben müssen. Und ohne Beichte loszusegeln, wagt er nicht …

»Ich bin ein Geschäftsmann, Bruder. Auch ich muss von etwas leben, muss meine Knechte und Mägde bezahlen«, versucht er sich herauszuwinden. Er zwinkert mit den Lidern, um Tränen herauszuquetschen. Zeichen der Reue, die von jedem Büßer bei der Beichte erwartet werden.

»Es heißt bei Mose: Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volke, an einen Armen neben dir, so sollst du an ihm nicht wie ein Wucherer handeln; du sollst keinerlei Zinsen von ihm nehmen.«

»Wucher ist ein hartes Wort.«

»Windet Euch nicht: Ihr seid ein Wucherer!«

»Ich möchte eine Altarkerze spenden, um meine Sünden abzumildern. Großzügige Almosen geben. Ablass erwerben. Und für Euch …«

Der Priester fällt ihm ins Wort: »Wollt Ihr mit Gott feilschen?«, donnert er.

»Natürlich nicht. Verzeiht, Bruder.« Zerknirscht tastet der Kaufmann nach seinem Rosenkranz. Warum erlegt der Priester ihm nicht endlich die Buße auf und spricht ihn frei?

Der Priester beugt sich vor. Bevor der Kaufmann weiß, wie ihm geschieht, packt der vermeintliche Gottesmann seinen Schopf und spricht: »Gott mag dir vielleicht vergeben. Aber mein Auftraggeber tut es nicht. Jetzt zahlt er dir seine Schulden zurück.«

Der Kaufmann will aufspringen, um sich schlagen. Sich wehren. Fliehen. Aber die Angst lähmt ihn, bis es zu spät ist. Ein Ruck, und es ist vorbei. Sein letzter Blick gilt dem Gesicht, das die Schatten nun freigegeben haben. Es ist ein Allerweltsgesicht, in dem er einen beinahe amüsierten Ausdruck von Gleichgültigkeit liest. Leises, höhnisches Lachen perlt in seinen Ohren. Des Teufels Spießgesellen – da sind sie wieder. Springen an den Rand der Waagschale, in der seine Seele liegt. Reißen sie hinunter, unaufhaltsam, der Hölle entgegen …

Der Mörder zieht die Kutte über seinen Kopf und stopft sie in die Nische hinter dem Altar. Das Perlenpaternoster und den Geldbeutel des Kaufmanns steckt er ein. Er ist kein Dieb – warum aber diese Schätze zurücklassen? Der Priester würde sie sich später auch nur...