Eisaugen - Kriminalroman

von: Margit Kruse

Gmeiner-Verlag, 2011

ISBN: 9783839236000 , 310 Seiten

6. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Eisaugen - Kriminalroman


 

2.


Margareta hörte auf, ihn zu küssen. Ein Blick in seine großen, braunen Augen sagte ihr, dass auch er genug hatte. Er küsste ihre erhitzte Stirn, dann drehte er sich zur Seite. Die pure Lust hatte sie wieder zusammengeführt. Gut, dass es keine Liebe ist, dachte sie.

»Was hast du Henriette erzählt, wo du hingehst?«, fragte sie ihn spröde lächelnd. »Außer in den Keller, und das nur, wenn die Luft rein ist, hast du ja keine Möglichkeiten!«

»Sie schläft tief und fest. Hat bis jetzt nichts bemerkt!«

»Wie hältst du das bloß aus? Seit einem Jahr in der Wohnung eingesperrt zu sein und nichts anderes zu machen, als Schuhe zu reparieren!«

»Ich bin froh, dass ich überhaupt was zu tun habe! Außerdem habe ich ja jetzt dich!« Mit einem Blick, der mehr als besitzergreifend war, musterte er sie lange Zeit gierig.

»Starr mich nicht so an! Ich hab dir schon mal gesagt, das mit uns hat nichts zu bedeuten. Wir bilden eine reine Zweckgemeinschaft. Du brauchst hin und wieder mal etwas Abwechslung und ich ebenfalls. Uns verbindet nur Sex, mehr nicht. Keine Verpflichtung beiderseits. Nichts. Hast du verstanden?«

»Ja, ja, das hast du mir schon mehr als einmal gesagt. Doch du wirst dich so sehr an mich gewöhnen, dass du ohne mich nicht mehr leben kannst!« Er zündete sich eine Zigarette an und zog gierig daran, sodass die Glut im Dunkeln aufleuchtete.

»Und mit dir leider auch nicht. Weil es dich praktisch gar nicht gibt. Du bist illegal hier, vergiss das nicht!«

»Es wird sich ein Weg finden!«

»Bis dahin fließt noch viel Wasser den Rhein hinunter!«

»Die Weichsel, die Weichsel hinunter!« Zärtlich versuchte er, sie an sich zu ziehen. Wahrlich, ein toller Mann, ihr polnischer Gelegenheitsliebhaber, der heute genau zum vierten Male bei ihr war, um ihr ein paar schöne Stunden zu bereiten. Wie gut, dass die Zeit der vorgetäuschten Orgasmen und des Über-sich-ergehen-Lassens vorbei war und eine Frau hemmungslosen Sex genießen durfte, freute sich Margareta.

 

Der Mann, den es gar nicht gab, hatte ihr einfach keine Ruhe gelassen. Und so hatte sie eines Abends, als sie Frau Koletzki davongehen sah, dem nicht-existenten Mann mutig einen Besuch abgestattet. Natürlich hatte er auf ihr hartnäckiges Klingeln nicht geöffnet. Deshalb musste sie bei einem Nachbarn schellen, um sich Einlass ins Nebenhaus zu verschaffen. Aber das war kein Problem. Als der Nachbar wegen der späten Störung laut fluchend wieder seine Wohnungstür schloss, schlich sie die Treppe hinauf in den ersten Stock und lauschte an Frau Koletzkis Wohnungstür. Leise Radiomusik war zu hören und gelegentlich ein Räuspern. Auf ihr Klingeln tat sich natürlich wieder nichts. So versuchte sie es mit Klopfen. Selbst nach wiederholtem Poltern gegen die Tür dauerte es eine geschlagene Stunde, bis die Wohnungstür einen Spaltbreit geöffnet wurde. Zwei braune Augen lugten neugierig und gleichzeitig ängstlich durch den Türspalt. Ein angenehmer Männergeruch zog augenblicklich in ihre Nase. Nicht übertrieben nach Parfüm oder Deo, sondern nach Sauberkeit und Seife roch der Mann. Sein Gesicht sah aus der Nähe genauso gut aus wie aus der Ferne. Gebräunte Pfirsichhaut, ein schöner, geschwungener Mund. Seine wuscheligen braunen Haare warteten nur darauf, von ihr mit der Hand durchfahren zu werden. Und so etwas versteckt sich in einem Turmzimmer! Eine Schande, fand Margareta.

»Was wollen Sie?«, fragte er leise.

Sie war erschrocken, dass er ein akzentfreies Deutsch sprach. Ja, dass er überhaupt sprechen konnte, verwunderte sie. Einen Mann, der gar nicht existierte, hatte sie sich eher stumm vorgestellt. So wie Pan Tau.

»Ich wohne nebenan und kann in Ihr Fenster sehen!« Klügere Worte wollten ihr einfach nicht einfallen.

»Ich weiß!«, sagte er nur.

»Ich muss mit Ihnen reden!«

»Wieso? Haben Sie etwa Schuhe zu besohlen?«, fragte er verwundert. Wie kam die Koletzki bloß an die vielen kaputten Schuhe?, wunderte sie sich. Ein Mann, den es nicht gab, konnte solche Arbeiten schließlich gar nicht ausführen. Dachten die Auftraggeber etwa, die Koletzki besohlte all die Schuhe selbst? Muss ich abklären, unbedingt, sagte Margareta sich.

»Nein«, lachte sie. »Kommen Sie nachher zu mir! Schellen Sie bei Sommerfeld!«

»Kann aber spät werden!«

»Macht nichts!«

Es wurde sogar sehr spät. Und er hatte nicht mal gefragt, was er eigentlich bei ihr sollte. Nie hätte sie gedacht, dass er tatsächlich kommen würde. Etwas mulmig war ihr schon zumute, als es weit nach 23 Uhr an der Tür klingelte. Ohne zu zögern drückte sie auf den Türöffner. Sie hörte leise Schritte die alten knarrenden Holzstufen hinaufsteigen. Als er oben an ihrer Wohnungstür angekommen war, öffnete sie diese und ließ ihn eintreten. Einen Mann, den sie überhaupt nicht kannte und den es eigentlich gar nicht gab. Was, wenn er ein gesuchter Verbrecher war und sich in der Wohnung der alten Frau nebenan versteckt hielt? Er trug einen Rollkragenpulli und eine enge Jeans. Er roch nach wie vor nach Seife. Sein Blick war hypnotisierend auf sie gerichtet und taxierte ihren Körper langsam von oben nach unten. An ihrem Busen verweilte er einen Augenblick und wanderte dann tiefer, um an ihrem Slip, der durch den leicht geöffneten Seidenmorgenmantel zu sehen war, hängen zu bleiben.

»Na, schläft Mutti?«, fragte sie ihn spöttisch.

»Ist nicht meine Mutter. Ist meine Tante!«

Sie ging einen Schritt auf ihn zu und seine Atemfrequenz steigerte sich augenblicklich. Schweiß trat auf seine Pfirsichhautstirn.

Schon immer wollte sie mal etwas völlig Verrücktes tun, fernab von all den anständigen Dingen, die sie sonst gewohnt war, stets zur Zufriedenheit ihrer Mitmenschen zu verrichten. Mutig wollte sie sein. Mutig und draufgängerisch. Endlich bot sich ihr die Chance dazu. Immerhin gab es den Mann, dem sie sich jetzt hemmungslos an den Hals warf, überhaupt nicht. Sie küsste stürmisch seinen duftenden Hals, wühlte heftig in seinen wilden Locken, sodass er schon Angst bekam, sie reiße ihm diese büschelweise aus. Zerrte ihm den Pulli über den Kopf und öffnete seine knallenge Jeans. Er hatte es da einfacher. Unter ihrem Seidenmorgenrock war sie, bis auf den Slip, nackt. Seine Hände zitterten, als er dieses Seidenteil einfach nach hinten fallen ließ und sich anschließend an ihrem winzigen Slip zu schaffen machte. So ein Teil hatte er bestimmt noch nie in den Händen gehalten, dachte sie kurz. Dort, wo er herkam, gab es bestimmt nur große Baumwollschlüpfer, Marke ›Hüftwarm‹.

Sie fielen übereinander her wie wilde Tiere. Aus­gehungert nach Sex kosteten sie die dargebotene Gelegenheit bis zum Letzten aus. Er vergaß seine Ledersohlen, seine Gummiabsätze und seine flinke Nähahle. Sie den tollen Bertl, der gegen den Kaloderma-Mann eine Niete war, den Friedhof, ihren Hertie-Laden, ihre Eltern und den Eisaugenmann.

Er führte sie in ein Land, das sie bisher nicht kennengelernt hatte. Ein Land, das irgendwo zwischen Tschechien und der Slowakei liegen musste. Sie stellte sich vor, dass er, bevor er dort geflüchtet war, ein toller Arzt gewesen war. Gab ihm zwischen zwei heißen Liebesnummern den Namen ›Dr. Blaschey‹.

Die Ernüchterung kam schneller als erwartet. Als sie schweißgebadet aus dem Taumel der Leidenschaft auf ihrem Bett erwachte, erzählte er ihr, dass er weder Arzt war noch Dr. Blaschey hieß, sondern Karol Wacz­marek. Ein vor 35 Jahren in Polen geborener Mann, der für gutes Geld von Autoschleppern illegal hier eingeschleust worden war, um sich auf die Suche nach seiner deutschstämmigen Mutter machen zu können, die vor vielen Jahren mit seinen beiden Schwestern als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen war. Man brachte ihn bei Nacht und Nebel erst einmal bei Tante Henriette unter. Sie kommt ja auch von drüben und wird Verständnis für seine Situation haben, dachte man. Nur für ein paar Tage, vertröstete man sie. Man würde ihm Papiere besorgen, irgendwie. Aus den paar Tagen ist fast ein ganzes Jahr geworden. Er hatte nach wie vor keine Papiere und somit keine Gelegenheit, seine Mutter zu suchen. Aus Angst, eingesperrt zu werden oder seiner Tante Ärger zu bereiten, fand er nicht den Mut, sich den Behörden zu stellen.

Hoffentlich komme ich aus der Nummer wieder raus, dachte Margareta einen letzten klaren Gedanken, bevor er sie wieder küsste, dass ihr schwindelig wurde.

Von da an besuchte er sie regelmäßig, immer mitten in der Nacht, immer nach Kaloderma-Seife riechend. Wie ein Vulkan brach die Leidenschaft jedes Mal über sie herein und machte die Nacht zu einem hellwachen energiegeladenen Tag. Der Mann ist wie eine Droge, die süchtig macht, dachte Margareta, wenn sie am nächsten Tag, ohne Schlaf, völlig unkonzentriert und müde ihrer Arbeit nachging und einen Fehler nach dem anderen machte. Du musst das beenden. Das führt zu nichts!
Du gewöhnst dich an ihn und kommst nicht von ihm los. Er ist nichts und er hat nichts. Das nächste Mal wird das letzte Mal sein, befahl sie sich. Jawohl! Doch wenn ein paar Tage vergangen waren und die Entzugserscheinungen einsetzten, sie wieder was von dieser Droge brauchte und sie als Erstes, nachdem sie von der Arbeit kommend ihre Wohnung betrat, unruhig zum Schlafzimmerfenster rannte und in sein Zimmer starrte, war alles vergessen. Wie er da auf seinem kleinen Schemel saß, einen Schuh zwischen seine Beine geklemmt und mit dem Hammer kräftig auf den soeben befestigten Absatz des Schuhs klopfte, dass seine Muskeln an den nackten Oberarmen hervortraten, war ihr Vorsatz vergessen. Sobald er, als spürte er ihre Blicke, zu ihr herübersah und...