Die beste Zeit unseres Lebens - Roman

von: Maeve Haran

Blanvalet, 2015

ISBN: 9783641159085 , 640 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die beste Zeit unseres Lebens - Roman


 

Kapitel 1

»Okay, Mädels.« Claudia sah ihre drei besten Freundinnen an, die sich zu ihrem üblichen Treffen im Grecian Grove versammelt hatten. Es war ein Kellerlokal, das sich hauptsächlich durch miserable Wandgemälde auszeichnete. Die darauf abgebildeten, von lüsternen Schäfern gejagten Nymphen machten nicht den Eindruck, als gäben sie sich große Mühe, den Verfolgern zu entkommen. »Kann mir eine von euch sagen, welches Datum wir heute haben?«

Claudia wusste, dass die Anrede »Mädels« ein wenig übertrieben war. Schließlich waren sie keine Mädchen mehr, sondern Frauen. Im vorgerückten mittleren Alter, um genau zu sein. Noch vor ein paar Jahrzehnten hätte man sie sogar als alt bezeichnet, doch seit sechzig die neue vierzig war, hatte sich das geändert.

Sal, Ella und Laura zuckten die Achseln und wechselten fragende Blicke.

»Geburtstag hast du nicht, richtig? Nein, der ist erst im Februar, und dann wirst du …«, begann Ella.

»Sprich es nicht aus«, unterbrach Sal, der ihr Alter am meisten zu schaffen machte, die Freundin. »Jemand könnte dich hören.«

»Wer denn? Irgendein zukünftiger junger Liebhaber mit wiegenden Hüften?«, frotzelte Laura. »Ich würde mich verpflichtet fühlen, ihm die Wahrheit zu sagen.«

»Es ist der 30. September«, verkündete Claudia, als zöge sie ein Kaninchen aus dem Hut.

»Na und?« Die anderen musterten sie verdattert.

»An einem 30. September haben wir uns kennengelernt.« Aus ihrer Handtasche förderte Claudia ein ausgeblichenes Foto zutage. »Im ersten Semester. Vor über vierzig Jahren.«

Sal machte ein Gesicht, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen, während die anderen sich sofort neugierig über den Schnappschuss beugten. Und da waren sie. Vier vor Optimismus sprühende Achtzehnjährige mit langen Ponyfransen, kurzen Röcken und kniehohen Stiefeln. Ihre frischen, jungen Gesichter strahlten vor Zuversicht und Hoffnung.

»Ich muss zugeben«, stellte Ella stolz fest, »dass wir nicht schlecht ausgesehen haben. Warum glauben junge Leute einfach nie, wie schön sie sind? Ich erinnere mich eher daran, dass ich unter meiner miesen Haut gelitten habe und unbedingt fünf Kilo abnehmen wollte.«

Claudia schaute zwischen ihren Freundinnen und dem Foto hin und her.

Auf den ersten Blick schien sich Sal mit ihren schicken Klamotten und der modischen Frisur am besten gehalten zu haben. Allerdings hatte sie auch nie einen Mann und Kinder gehabt, die an ihren Nerven gezerrt hätten. Zudem kam Sals Optik ein wenig übertrieben daher, als würde sie sich allzu sehr ins Zeug legen.

Laura hingegen war zwar hübsch, aber konservativer als sie alle mit ihrem Faible für pastellfarbene Pullis und Perlenketten. Zweifellos hatte sie als Kind eines dieser Schmuckkästchen besessen, auf deren Deckel sich, begleitet von Musik, eine Ballerina drehte. Und diese anmutige Figur war offenbar für immer Lauras modisches Vorbild geblieben.

Ella nahm früher die Rolle eines Kobolds ein. Zumindest bis vor drei Jahren, als aus heiterem Himmel ein schwerer Schicksalsschlag sie getroffen und seinen Tribut gefordert hatte. Inzwischen war sie zum Glück fast wieder die Alte, und weil sie nicht krampfhaft versuchte, so zu tun als ob, sah sie sogar eher etwas jünger aus.

Und last not least Claudia selbst mit ihrem sorgfältig kolorierten Haar. Seit Jahren wählte sie immer denselben Ton. Nicht etwa weil das ihre echte Haarfarbe gewesen wäre – an die konnte sie sich gar nicht mehr erinnern –, sondern weil sie fand, dass Dunkelbraun natürlich aussah. Ansonsten trug sie stets ihre üblichen Schlabberpullis mit einem Shirt darunter, Jeans und Stiefel.

»So lange kann es doch noch nicht her sein«, jammerte Sal und machte ein Gesicht, als würde sie wie gelähmt darauf warten, von einem herannahenden Bus überrollt zu werden.

»Eine schöne Zeit, oder?«, seufzte Ella.

Sie wusste, dass ihre beiden Töchter die Dinge anders betrachteten. In ihren Augen war die Generation der Eltern egoistisch, promisk und, nicht zu vergessen, vermutlich drogenabhängig gewesen. Die frühen Babyboomer hätten Glück gehabt, klagten sie. Ihnen seien Vollbeschäftigung, dicke Renten und günstige Immobilienpreise noch in den Schoß gefallen, während ihre Kinder sich mit befristeten Jobs und Wuchermieten herumschlagen müssten und vielleicht erst mit siebzig in Rente dürften.

Ella überlegte. Was das Promiske anging, hatten sie gar nicht so unrecht. Niemals würde sie ihren Töchtern beichten, dass sie mit zwanzig einen Mann daran gehindert hatte, ihr im Bett seinen Namen zu nennen. Anonymer Sex war schließlich viel prickelnder gewesen. Wie entsetzlich. Hatte sie wirklich je so etwas getan? Ganz zu schweigen davon, dass es sowieso viel zu viele Männer gewesen waren, um sich ihre Namen überhaupt zu merken.

Ach, die rauschhaften Tage nach Erfindung der Pille und vor der Entdeckung von Aids!

Ella ertappte sich dabei, dass sie schmunzelte. Es war eine unbeschreibliche Zeit gewesen. Die Musik. Die Festivals. Das Gefühl, dass die Jugend plötzlich an der Macht war und dass sich die Gesellschaft wirklich änderte. Doch seitdem waren viele Jahre vergangen.

Claudia steckte das Foto wieder weg. »Ich hätte mal eine Frage.« Sie schenkte allen Wein nach. »Und zwar, was zum Teufel wir mit dem Rest unseres Lebens anfangen sollen. Schließlich haben wir schätzungsweise noch etwa dreißig Jahre vor uns.«

»Möchtest du nicht weiter an der Schule arbeiten?«, erkundigte sich Ella überrascht. Claudia liebte ihren Beruf als Französischlehrerin. »Ich dachte, heutzutage würde man nicht mehr zwangsweise in Rente geschickt.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich das weiterhin will«, erwiderte Claudia zögernd.

Die anderen starrten sie erschrocken an.

»Aber du unterrichtest doch so gerne«, wandte Laura ein. »Hast du zumindest immer behauptet. Weil du auf diese Weise den Kontakt zur Jugend hältst.«

»Offenbar nicht genug …« Claudia gab sich Mühe, nicht sarkastisch zu klingen. »Anscheinend findet man, dass meine Unterrichtsmethoden nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind. Meine Lieblingsklasse wurde gerade einem jungen Lehrer zugeteilt, damit er mit den Schülern Slang auf YouTube übt. Laut Aussage der Schulleitung reißt man so die schwächeren Schüler besser mit.«

Claudia versuchte, nicht an den gönnerhaften Vortrag der Stellvertreterin des Direktors zu denken. Diese hatte ihr gestern in einem Ton, als spräche sie mit einer Altenheimbewohnerin, diese Änderung mitgeteilt. Peter Dooley, dieses dreißigjährige Bürschchen, das unter den Kollegen den Spitznamen Sabber-Dooley trug wegen seiner üblen Angewohnheit, seine Gesprächspartner mit Speichel zu besprühen.

»Peter«, hatte Claudia empört ausgerufen. »Der war nie in seinem Leben in Frankreich und bezieht sein Wissen allein aus dem Internet.«

Zu spät wurde ihr klar, dass das ein Fehler gewesen war.

»Genau.«

Offenbar tat das die Stellvertretende ebenfalls. Sie war erst dreißig und konnte nicht einmal ein richtiges Lehramtsstudium vorweisen, sondern bloß den MBA-Abschluss von einer Uni im Nordosten. Einer ehemaligen Fachhochschule, wie Claudia in Gedanken hämisch hinzufügte.

»Aber du hast immer Wunder bei deinen Schülern bewirkt«, ergriff Sal entrüstet für sie Partei. »Ich denke nur daran, wie du vor Einführung des Internets Videos von dir und Gaby aufgenommen hast, auf denen ihr euch auf Französisch unterhaltet. Die Schüler waren begeistert.«

Claudia wurde blass. Ausgerechnet eine dieser zwanzig Jahre alten Jugendsünden war nämlich Gegenstand der Vorwürfe, sie sei nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Während der Unterredung hatte ihre junge Vorgesetzte plötzlich eine Kassette hervorgezogen, sie vor ihrer Nase herumgeschwenkt und in zuckersüßem Ton anzüglich gefragt: »Sicher halten Sie die altbewährten Methoden nach wie vor für die besten, oder, Claudia?«

Am liebsten hätte sie Sonia an den Kopf geworfen, dass sie in Sachen moderne Lehrmethoden sehr wohl auf dem neuesten Stand sei, doch sie brachte nicht die Kraft auf. Fühlte sich zermürbt und irgendwie alt. Zum ersten Mal seit jenen glückseligen Tagen, in denen das Foto entstanden war. Und das lag nicht etwa an Gedächtnisschwäche oder am Kampf gegen graue Haare.

Nein, lediglich die verdammten Computer waren schuld.

Sartre mochte ja recht haben mit seiner Erkenntnis, dass die Hölle die anderen seien. Allerdings galt das bloß für seine Zeit, denn er war nie an einem Samstag in einem überfüllten Apple Store gewesen und musste sich nie sagen lassen, dass man einen Termin brauche, um mit einem »Genie« zu sprechen. Also mit einem dieser Jungmänner, die zu Tausenden herumliefen und alle aussahen, als wären sie in einer Fabrik für Streber vom Fließband gelaufen.

Und diese Auskunft erhielt man, bevor man nur eine einzige einfache Frage loswurde.

Desgleichen musste Sartre sich nicht mit einem »gesteuerten Lernumfeld« herumschlagen, in dem Schüler und sogar ihre Eltern von zu Hause aus online auf ihre Schularbeiten Zugriff nehmen konnten. Selbst die Technikfreaks unter den Kollegen bezeichneten dieses Programm als feindlichen Albtraum. Und als ob das nicht genug wäre, erwartete man zusätzlich von den Lehrern, die Schwächen ihrer Schüler anhand einer schauderhaften Software zu bewerten, die offenbar von einem Zehnjährigen entwickelt worden war.

»Arrogante Tussi«, rief Ella zornig aus und gab sich keinerlei Mühe, ihre Stimme zu dämpfen. »Du kennst dich mit diesem ganzen Computerkram doch ganz gut aus. Jedenfalls viel besser als ich....