Der Hund und sein Philosoph - Plädoyer für Autonomie und Tierrechte

von: Martin Balluch

Promedia Verlag, 2014

ISBN: 9783853718247 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 15,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Hund und sein Philosoph - Plädoyer für Autonomie und Tierrechte


 

Einleitung


Ich liebe die Natur. Und damit meine ich nicht, dass ich gerne durch städtische Parks gehe, Bücher über Naturschutzgebiete lese oder auf ausgetretenen Pfaden klassische Berggipfel besteige. Nein, ich kann nicht leben, ohne immer wieder in die Wildnis zu gehen, so oft es sich ausgeht. Und ich suche möglichst unberührte Wälder, die keine menschlichen Spuren zeigen, ich verlasse Wege und weiche Berghütten aus. Ich gehe in die Arktis in Nordskandinavien oder verbringe Wochen in den Wäldern der Südkarpaten. Der innere Drang in der Natur zu sein ist so groß, dass ich um die 100 Tage pro Jahr aus meinem beruflichen und sozialen Alltag abzweige, um die Wälder, die Berge oder die Tundra zu betreten. Einen Besuch kann man das schon fast nicht mehr nennen, es ist eher ein Nach-Hause-Kommen. Jeden Tag, den ich nicht in der Natur verbringe, empfinde ich als einen verlorenen Tag.

Eigentlich, hätte ich gedacht, ist dieses Verlangen für einen Primaten wie mich das Normalste auf der Welt. Für das Erklettern von Bäumen sozusagen gemacht, d. h. evolutionär adaptiert, ist zu erwarten, dass ich das dringende Verlangen verspüre, es auch tun zu wollen. Und tatsächlich geht es mir so. Einmal durfte ich für einige Wochen am europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf arbeiten. Das Erste, was ich bei meiner Ankunft tat, war, einen Baum im Campus zu erklettern. Jener Wissenschaftler, der mich gerade durch das Gelände führte, schaute sehr verwirrt drein. Aber von meinem Standpunkt aus verstehe ich überhaupt nicht, wie man ohne Bäume zu erklettern, ihre Rinde zu riechen, auf ihren Ästen zu liegen und ihre Strukturen mit den Händen zu greifen, leben kann. Ich könnte es nicht, wie ich nur zu gut in meiner Zeit im Gefängnis am eigenen Leib verspürte. 105 Tage wurde ich – unschuldig, wie später auch das Gericht bestätigte – in Untersuchungshaft genommen. 105 Tage Beton und Neonlicht, keine einzige grüne Pflanze, nicht einmal im Gefängnishof. Das war für mich die schlimmste Zeit meines Lebens.

Doch zumindest unter den Menschen meiner sozialen Umgebung liege ich mit diesem Verlangen außerhalb der Norm. Ich werde es zwar nie begreifen, aber den meisten anderen Menschen scheint die Natur im Sinne einer Lebenswelt für sie kaum abzugehen. Das konnte ich an jenen Personen beobachten, mit denen ich die verschiedenen Zellen während meines Gefängnisaufenthalts teilte. Kaum jemand, der, wie ich, am mangelnden Zugang zur Natur litt. Die Wildnis war für sie hauptsächlich negativ konnotiert, als etwas Kaltes, Unwirtliches, Unangenehmes, Mühsames, Nasses, Ungeschütztes. Dagegen wurde die warme Zelle als ein vergleichsweise angenehmer Ort erlebt. Als ich das einzige Mal in meinen 105 Tagen Aufenthalt aus der Gefängnisbibliothek drei Bücher zum Lesen bekam, die alle von der Wildnis handelten, stellte mein Zellennachbar voller Überzeugung fest, dass er lieber hier eingesperrt sitze, als auf 80 Grad nördlicher Breite im Franz-Josef-Land in einer winzigen Hütte zu wohnen. Mir ging es genau umgekehrt.

Dieses Natur-Defizit-Syndrom (Louv 2008) begegnet mir aber auch außerhalb der Gefängnismauern auf Schritt und Tritt. Viele Menschen zieht es überhaupt nicht in die Natur, sie sind mit einem Bildband oder einem Film darüber zufrieden. Andere gehen gerne wandern, aber nur auf breiten Wegen ohne Mühsal, maximal von Hütte zu Hütte. Und jene, die außerhalb der touristischen Bereiche unterwegs sind, scheinen die Berge mehr als Sportgerät statt als ihren Lebensraum zu betrachten. Touren sind nur interessant, wenn sie auf schwierige Gipfel, über Gletscher, vereiste Wasserfälle oder senkrechte Felswände führen. Im Wald zu wandern und dort tagelang zu verbleiben, im Dickicht ohne Wege, im Zelt ohne Hütte, ist ein Minderheitenprogramm.

Der Hauptgrund dafür dürfte in der Bequemlichkeit liegen. Wenn man ohne Schutz im Regenguss steht, lernt man ein Dach über dem Kopf so richtig zu schätzen, wenn die Insekten beißen, wirkt die Abschottung von der Natur durch dichte Fenster ideal, wenn in der Hitze die Wasserquelle ausbleibt, ist ein Wasserhahn ein Segensbringer, und wenn man durchs Dickicht kriecht, träumt man von einem asphaltierten Weg. Doch das ist zu kurz gedacht. Wer alle diese Errungenschaften der Zivilisation besitzt, schätzt sie nicht mehr. Kein Wunder, dass im luxuriösen Umfeld die Depression grassiert.

Ich möchte meinen Körper spüren. Ich will vom Regen nass werden, vom Dickicht zerkratzt und von Wasser- und Nahrungsmangel herausgefordert. Die stechenden Insekten brauche ich nicht unbedingt, aber für das Erleben der Wildnis nehme ich sie gerne in Kauf. Tatsächlich fühle ich mich pudelwohl, wenn ich im Regen ohne Zelt und Schlafsack am Waldboden die Nacht verbringe, oder im Schneesturm eine Schlafhöhle grabe. Dann erst bin ich am Leben, alles andere wirkt eher wie eine Fantasie, wie eine Seifenoper im Fernsehen.

Dieser Zugang zur Natur eröffnet mir aber auch einen anderen Blickwinkel auf Lebewesen. Kein Wunder, wenn Menschen von ihrem Sofa aus die Tiere im Wald, die sie am Fernseher sehen, als grundsätzlich anders empfinden. Hier Kultur, dort Natur. Sie selbst könnten ohne technische Hilfen gar nicht überleben, die Tiere da draußen wirken hingegen wie geschaffen für ein Überleben in der Wildbahn. Wie schnell entsteht so der Eindruck einer unüberbrückbaren Kluft, die eine völlige Andersbehandlung rechtzufertigen scheint. Wenn ich dagegen im Regen im Wald liege, begegnet mir der Fuchs in Augenhöhe. Er und ich haben die gleichen Probleme, und die sind ganz andere, als diese Wesen auf ihren Sofas hinter Doppelglasscheiben vor dem Fernseher beschäftigen. Wir haben Hunger, diese anderen müssen eher darauf achten, nicht zu dick zu werden, wir bekämpfen die Kälte, diese anderen haben das Problem, durch zu viel Heizen das Klima zu zerstören, wir überlegen uns, wie wir die nächsten Stunden weiterkommen, diese anderen langweilen sich zu Tode und suchen verzweifelt irgendwelche Formen der Unterhaltung, um die Zeit totzuschlagen. Kein Wunder, dass von meinem Blickwinkel aus der Unterschied zwischen Mensch und Tier völlig verschwimmt.

Ich bin ein Wildtier. Müsste ich mich entscheiden, auf welcher Seite ich stehe, dann für den Wald, als Tier unter Tieren. Und das ist ein tiefes, inneres Gefühl, kein intellektuell erarbeitetes Weltbild, keine rationale Absage an die Zerstörungswut und Gewalt in der Gesellschaft und kein Wegschieben meiner Verantwortung für das, was die Menschheit in der Natur angerichtet hat. Letzteres ist es ja, was mich immer wieder dazu bringt, in die Städte zurückzukehren. Die Überreste von Urwald und unberührter Natur sind zu klein geworden, als dass ich mich dort verkriechen könnte und so tun, als hätte es die letzten 20.000 Jahre Menschheitsgeschichte nicht gegeben.

Von jenen Menschen, die, wie ich, die Wildnis suchen, denken allerdings die meisten wie der Abenteurer und vielfache Buchautor Nicolas Vanier. Er schwärmt nicht nur von den PelzjägerInnen, die mit Metallfallen Wildtieren auflauern, um ihre Felle zu verkaufen, sondern er ist ebenso auf seine 2-jährige Tochter stolz, wenn sie knöcheltief im Blut eines erschossenen Elchs steht und dabei keinerlei empathische Regung zeigt. Mitgefühl sei etwas für die Weichlinge in der Zivilisation, so Vanier, draußen in der Wildnis würden andere Gesetze gelten, da heiße es töten oder getötet werden, da sei Mitleid hinderlich und eine fehlende Anpassungsleistung an die Gegebenheiten. Seltsam nur, dass er diese Ansicht nicht auf Menschen in der Wildnis ausdehnt. Entweder diese sind auch Wildtiere, und rechtfertigen so ihre Gewalt gegenüber Tieren, dann müsste es aber auch vertretbar sein, den nächsten Wanderer zu erschlagen, um an seine Reserven zu kommen. Oder die Menschen stehen außerhalb dieses Geschehens und damit außerhalb der Gesetze der Wildnis, wie Vanier sie begreift. Demzufolge sind ihre Grundrechte zu respektieren, aber dann können sie auch nicht das Recht des Stärkeren bemühen, um ihre Blutspur durch die Natur zu begründen. Entweder das Eine oder das Andere.

Die Wildnis als Ort der rohen Gewalt nimmt im menschlichen Denken eine politische Funktion ein. Am bekanntesten ist vermutlich die Betonung des angeblichen Schreckens des Naturzustandes in Thomas Hobbes’ Behemoth, in dem der Kampf aller gegen alle dargestellt wird und nur durch eine staatliche Zivilisation überwunden werden kann. Vom »survival of the fittest« und »nature red in tooth and claw« schreibt auch Richard Dawkins in seinem Buch The Selfish Gene (Dawkins 1976). Und der wegweisende deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) sieht sogar eine moralische Verpflichtung des Menschen darin, sich von der Natur loszusagen und in der menschlichen Gemeinschaft zu organisieren, um Freiheit erst zu ermöglichen. Die Wildnis sei ein ständiger Kampf ums Überleben, grausam, brutal, kurzlebig. Heute merken wir diese feindliche Einstellung zur Natur daran, dass Nutztiere in Tierfabriken weggesperrt und Haustiere, wie Hunde, aus immer größeren Bereichen der Gesellschaft verdrängt werden. Das bürgerliche Bedürfnis nach Sauberkeit, im physischen wie im psychischen Sinn, umfasst eine Distanzierung von Tieren, eine Abgrenzung der Zivilisation von der Natur.

Mein Erlebnis in der Natur ist ganz anders als die Schilderungen von Kant und Hobbes vermuten lassen. Von den unzähligen Tagen, die ich draußen verbracht habe, kann ich jene Vorfälle, in denen ich Gewalt und Leid sah, an den Fingern einer Hand abzählen. Wie oft beobachtete ich Gämsenherden friedlich grasen, Steinbockkinder fröhlich spielen, Bärenfamilien durchs Unterholz streifen, Füchse in der Sonne liegen, Dachse im Boden wühlen und Raben im Paarflug...