Das Kapital im 21. Jahrhundert

von: Thomas Piketty

Verlag C.H.Beck, 2014

ISBN: 9783406671326 , 817 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

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Preis: 15,99 EUR

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Das Kapital im 21. Jahrhundert


 

1.
EINKOMMEN UND PRODUKTION


Am 16. August 2012 greift die südafrikanische Polizei in den Konflikt zwischen den Arbeitern der Platinmine in Marikana in der Nähe von Johannesburg und den Bergwerksbesitzern, den Aktionären der in London ansässigen Lonmin Inc., ein. Die Ordnungskräfte schießen auf die Streikenden. Die Bilanz: 34 tote Minenarbeiter.[1] Wie häufig in vergleichbaren Fällen drehte sich der Konflikt um die Lohnfrage: Die Bergarbeiter verlangten eine Anhebung ihrer Löhne um 500 Euro auf 1000 Euro im Monat. Nach dem Drama schlug die Gesellschaft schließlich eine Erhöhung um 75 Euro monatlich vor.[2]

Dieser Vorfall ruft uns in Erinnerung, dass die Frage der Aufteilung der Produktion auf Löhne und Gewinne, auf Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen stets die erste Stufe eines Verteilungskonflikts war. Schon in den traditionalen Gesellschaften war der Gegensatz zwischen dem Grundbesitzer und dem Bauern, zwischen demjenigen, dem der Boden gehört, und demjenigen, der seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt, zwischen demjenigen, der die Bodenrente erhält, und demjenigen, der sie erarbeitet, der Kern sozialer Ungleichheit und Ursache aller Aufstände. Die Industrielle Revolution hat den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit verschärft, was vielleicht daran liegt, dass kapitalintensivere Produktionsformen (Maschinen, Rohstoffe usw.) aufgekommen sind, oder vielleicht auch daran, dass die Hoffnungen auf eine gerechtere Verteilung und eine demokratischere Ordnung enttäuscht wurden – wir werden darauf zurückkommen.

Die tragischen Ereignisse in Marikana verweisen auf ähnliche Vorfälle und Gewalttaten in der Vergangenheit: Am 1. Mai 1886 auf dem Haymarket Square in Chicago; am 1. Mai 1891 in Fourmies in Nordfrankreich, als die Ordnungskräfte streikende Arbeiter, die Lohnerhöhungen forderten, erschossen. Gehört der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit der Vergangenheit an, oder wird er zu den prägenden Faktoren des 21. Jahrhunderts gehören?

In den beiden ersten Teilen dieses Buches werden wir uns mit der Verteilung des Nationaleinkommens auf Arbeit und Kapital und ihren Veränderungen seit dem 18. Jahrhundert befassen. Wir werden die Frage der Ungleichheit innerhalb der Arbeitseinkommen (beispielsweise zwischen Arbeiter, Ingenieur und Werksleiter) oder innerhalb der Kapitaleinkommen (etwa zwischen kleinen, mittleren und großen Aktionären und Eigentümern) vorerst außer Acht lassen und darauf erst im dritten Teil eingehen. Jede dieser beiden Dimensionen der Vermögensverteilung – die «faktorielle» Verteilung, bei der sich die beiden «Produktionsfaktoren» Arbeit und Kapital gegenüberstehen, die dabei künstlich als homogene Blöcke betrachtet werden, und die «individuelle» Verteilung, die die Ungleichheit der Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen auf der Ebene von Einzelpersonen betrifft – spielt in der Praxis eine wichtige Rolle, und es ist unmöglich, zu einem zufriedenstellenden Verständnis des Verteilungsproblems zu kommen, wenn man sie nicht zusammen analysiert.[3]

Im August 2012 streikten die Bergarbeiter von Marikana übrigens nicht nur gegen die ihrer Meinung nach exorbitanten Gewinne der Gruppe Lonmin, sondern auch gegen die Ungleichheit der Löhne von Arbeitern und Ingenieuren und gegen das üppige Gehalt des Bergwerksdirektors.[4] Wenn das Kapitaleigentum nach streng egalitären Gesichtspunkten verteilt wäre und jeder Arbeitnehmer den gleichen Anteil an den Gewinnen zusätzlich zu seinem Lohn erhielte, würde die Frage des Verhältnisses zwischen Gewinnen und Löhnen (fast) niemanden interessieren. Wenn die Trennung zwischen Kapital und Arbeit so viele Konflikte verursacht, dann vor allem wegen der extrem hohen Konzentration des Kapitaleigentums. In allen Ländern ist die Ungleichheit der Vermögen – und der daraus erzielten Kapitaleinkommen – stets größer als die Ungleichheit der Löhne und der Arbeitseinkommen. Dieses Phänomen und seine Ursachen werden wir in Teil 3 analysieren. Zunächst werden wir die Ungleichheit innerhalb der Arbeitseinkommen und des Kapitalbesitzes als gegeben betrachten und unser Augenmerk auf die globale Verteilung des Nationaleinkommens zwischen Arbeit und Kapital legen.

Damit eines klar ist: Es ist nicht meine Absicht, im Namen der Arbeitnehmer gegen die Besitzenden zu Felde zu ziehen, sondern ich möchte jedermann helfen, genauer nachzudenken und sich ein eigenes Bild zu machen. Keine Frage: Die Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeit hat eine große symbolische Bedeutung. Sie verstößt eklatant gegen die gängigen Vorstellungen von «gerecht» und «ungerecht», so dass es nicht verwunderlich ist, dass es manchmal zu physischer Gewalt kommt. Diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft besitzen und häufig in bescheidenen, ja armseligen Verhältnissen leben, wie die Bauern im 18. Jahrhundert oder die Minenarbeiter von Marikana, können nur schwer akzeptieren, dass die Kapitalbesitzer – die mitunter selber bloß Erben sind – sich einen beträchtlichen Teil der erwirtschafteten Werte aneignen können, ohne selbst zu arbeiten. Der den Kapitalbesitzern zufließende Anteil kann häufig ein Viertel oder die Hälfte der Produktion, in kapitalintensiven Wirtschaftszweigen wie dem Bergbau mitunter sogar mehr als die Hälfte ausmachen, und er ist noch höher, wenn Monopole es den Kapitalbesitzern erlauben, einen noch größeren Teil abzuschöpfen.

Gleichzeitig ist jedem klar: Wenn man die gesamte Produktion unter den Arbeitnehmern verteilte und keine Gewinne erzielt würden, wäre es schwer, Kapital zur Finanzierung neuer Investitionen anzuziehen, zumindest im bestehenden Wirtschaftssystem (es sind durchaus andere denkbar). Hinzu kommt, dass es nicht unbedingt gerechtfertigt ist, jenen, die mehr sparen als andere, jegliche Vergütung zu verweigern – wobei angenommen wird, dass unterschiedliche Sparquoten eine wichtige Ursache der Vermögensungleichheit sind. Auch diese Frage werden wir untersuchen. Und nicht zu vergessen: Ein Teil dessen, was als «Kapitaleinkommen» bezeichnet wird, stellt zudem mitunter – zumindest teilweise – eine Entlohnung der «unternehmerischen» Arbeit dar und müsste daher wie andere Arbeitsformen behandelt werden. Dieses klassische Argument wird ebenfalls näher zu untersuchen sein. Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren stellt sich die Frage, welche Verteilung der Wertschöpfung auf Kapital und Arbeit «richtig» ist. Kann man sicher sein, dass die «freie» Entfaltung von Marktwirtschaft und Privateigentum immer und überall wie durch Zauberhand zu diesem optimalen Niveau führt? Wie müsste man diese Verteilung in einer idealen Gesellschaft organisieren, und wie könnte man diesem Ideal näherkommen?

Die Instabilität der langfristigen Verteilung des Nationaleinkommens auf Kapital und Arbeit


Um in diese Richtung weiterzudenken und zumindest zu versuchen, die Begriffe einer scheinbar ausweglosen Diskussion präziser zu fassen, sollten zunächst die Fakten möglichst exakt ermittelt werden. Was genau weiß man über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit seit dem 18. Jahrhundert? Lange Zeit besagte die unter Ökonomen am weitesten verbreitete These, die ein wenig zu schnell Eingang in die Lehrbücher fand, dass die Verteilung des Nationaleinkommens auf Kapital und Arbeit langfristig sehr stabil gewesen sei und im Allgemeinen bei einem Drittel/zwei Drittel lag.[5] Aufgrund des historischen Abstands und neuer Daten werden wir zeigen können, dass die Wirklichkeit viel komplexer ist.

Einerseits war diese Verteilung im Laufe der letzten hundert Jahre großen Schwankungen unterworfen, die durch die chaotische politische und wirtschaftliche Geschichte des 20. Jahrhunderts bedingt waren. Die bereits in der Einleitung beschriebenen Entwicklungen im 19. Jahrhundert (Anstieg des Kapitalanteils in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, dann leichter Rückgang und darauf folgende Stabilisierung) scheinen im Vergleich dazu in ruhigeren Bahnen verlaufen zu sein. Die Schocks in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (1914–1945), nämlich der Erste Weltkrieg, die bolschewistische Revolution von 1917, die Weltwirtschaftskrise seit 1929, der Zweite Weltkrieg, die neuen politischen Initiativen zur Regulierung, Besteuerung und staatlichen Kontrolle des aus diesen Umwälzungen hervorgegangenen Kapitals haben zu einem historisch niedrigen Umfang des Privatkapitals in den 1950er Jahren geführt. Es kommt dann sehr schnell zur Wiederherstellung der Vermögen, und diese Entwicklung beschleunigt sich mit der konservativen angelsächsischen Revolution von 1979/80, dem Zusammenbruch des Sowjetreichs 1989/90, der Globalisierung des Finanzwesens und der Deregulierung in den 1990er Jahren. Diese Ereignisse markieren einen politischen Wendepunkt, der genau in die entgegengesetzte Richtung der vorausgegangenen Umwälzungen führt, und machen es möglich, dass sich das Privatkapital zu Beginn der 2010er Jahre trotz der Krise von 2007/08 in einer Weise vermehrt, die es seit 1913 nicht mehr gegeben hat. Nicht alles ist negativ an dieser Entwicklung und an dieser Wiederherstellung der Vermögen, die teilweise natürlich und wünschenswert ist. Aber sie ändert die Sicht...