Reif und streng, Teil 2

von: C. A. Reilly

Club der Sinne, 2014

ISBN: 9783956041495 , 150 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 5,49 EUR

Mehr zum Inhalt

Reif und streng, Teil 2


 

Kapitel 2: Eine Naturveranlagung


Mr und Mrs Barnes blickten einander mit einer Mischung aus Verzweiflung und sich nicht erschöpfen wollender Güte an. Das alte Ehepaar, beide gingen sie auf das achtzigste Lebensjahr zu, wirkte fragil, und bei der Bewältigung des Alltags gab es zunehmend Probleme. Hatten sie sich zu viel zugemutet, als sie das kleine Mädchen, dessen Eltern bei einem Raketenangriff der Deutschen ums Leben gekommen waren, zu sich genommen hatten?

Seit sieben Jahren schon lebte der wunderhübsche kleine Engel, der manchmal ein schrecklicher Teufel sein konnte, mit ihnen gemeinsam in einem kleinen Häuschen am Rande Brightons. Eigene Kinder hatte das Paar nicht, und so hatten sie einfach nicht ablehnen können, als man das winzige, hilflose Ding zu ihnen gebracht hatte. Zumal sie die einzigen, wenn auch entfernten Verwandten der kleinen Christine Radcliffe waren. Aber da war mehr gewesen als nur die verwandtschaftliche Bindung.

Vom ersten Augenblick an hatte das kleine Mädchen sie bezaubert.

Eine natürliche Noblesse legte sie an den Tag, war außergewöhnlich klug und bohrend neugierig. Eine rasche Auffassungsgabe hatte sie, war bereits mit acht Monaten auf ihren winzigen Füßchen umhergewatschelt und hatte mühelos das Sprechen erlernt, wobei sie nicht mit jedem Menschen kommunizieren wollte. Leute, die ihr nicht sympathisch waren, ignorierte sie, warf ihnen missbilligende Blicke zu oder vertrieb sie gar durch unmögliches Verhalten. Im nächsten Moment wiederum konnte sie süß sein wie Honig. Es wunderte das Ehepaar Barnes dann auch gar nicht, dass Christine sich das Lesen selbst beibrachte, und mittlerweile arbeitete sie eifrig an ihrer Schreibkunst. Man durfte allerdings niemals den Fehler machen und ihr ein Kinderbuch vor die Nase halten. Dann kam es zu schrecklichen Wutausbrüchen, die sich nur durch eine herzhafte Fleisch- oder Fischmahlzeit bändigen ließen. Das war ein weiteres, sehr merkwürdiges Charakteristikum der kleinen, herrschsüchtigen Lady. Im Gegensatz zu all den anderen Kindern ihres Alters verachtete sie Süßspeisen und Zuckerwerk.

Diesmal war sie jedoch so wütend, dass kein gutes Zureden, und auch nicht das Angebot von frisch zubereiteten Fischfrikadellen, die kleine Herrin beruhigen konnte.

Stur auf den Boden blickend hockte sie im winzigen Wohnzimmer. Man konnte es förmlich um sie herum knistern hören. Wenn Christine wütend war, schien sich in ihrem Körper eine merkwürdige Form von Elektrizität aufzubauen, die sich gerne in einem furchterregenden Anfall von erbarmungslosem Zorn entlud.

Wäre da nicht auf der anderen Seite ihre zweifellos charismatische, den Lebenswillen des alten Ehepaars stärkende Seite gewesen, so hätten Mr und Mrs Barnes längst die Hoffnung verloren. Manchmal hatten sie den Eindruck, dass nicht sie Christine erzogen, sondern, dass es umgekehrt war. So hatte es sich eingebürgert, dass sie das ungewöhnliche Kind bei jeder wichtigen Kaufentscheidung zuerst um Rat fragten. Es war seltsam, doch die Entscheidungen des überdurchschnittlich intelligenten Mädchens erwiesen sich stets als richtig. Als Mr Hughes vom Pub ihnen nicht mehr genießbare Räucherheringe hatte andrehen wollen, hatte ihn Christine angeschrien und als Betrüger beschimpft. Mittlerweile tat sie dies, wenn sie auch nur seine Anwesenheit ahnte. Sie stellte sich dann hin, stampfte mit den Füßen auf und brüllte: Elender Betrüger! Betrüger! Betrüger!

Bisweilen zog es sie vor seinen Pub. Sie konnte, wenn es ihrer Laune entsprach, stundenlang schreien. Mr Hughes erwog mittlerweile, seinen Pub zu schließen.

„Was ist denn los, Christine?“, fragte Clifford Barnes und beugte sich zu ihr herunter.

Eisiges Schweigen.

Mit ihren lodernden schwarzen Augen starrte sie auf den Boden, als ob sie mit ihrem Blick ein Loch in die Holzdielen brennen wollte.

„Warum bist du so wütend, Liebes? Na komm. Es wird doch wieder gut.“

Das Schweigen wurde noch drückender, und gleichzeitig schien die Spannung im Körper der kleinen Lady sich erheblich zu steigern.

„Toby soll kommen!“, brüllte sie plötzlich.

Ihre Stimme war so schrill und markerschütternd, dass Mathilda und Clifford Barnes zusammenzuckten.

„Ohje. Toby … Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass Toby ...“, stammelte der gutmütige alte Gentleman.

„Wir haben uns nicht geeinigt. Ihr habt das so entschieden. Ohne mich zu fragen. Warum darf Toby nicht mehr zum Spielen kommen?“

Jetzt starrte sie ihnen in die Augen. Ihr Blick war von einer Strenge und Dominanz, die niemand bei einem Kind ihres Alters erwartet hätte.

Zweifellos bescherte dieser Ausdruck in den glühenden Augen dem verzweifelten Paar eine Gänsehaut.

„Aber das haben wir schon besprochen. Und auch mit seinen Eltern haben wir das besprochen. Es ist nicht gut für Toby, wenn du mit ihm spielst.“

„Und warum nicht? Toby ist blöd und ein Trottel. Er kann was von mir lernen. Ich kann ihn erziehen und ihm gute Manieren beibringen.“

„Ach je, Liebes. Das ist es ja gerade. Das ist zu viel für den Jungen. Er ist zwar älter als du, aber … Deine Spiele sind zu schwierig für ihn.“

„Du willst damit sagen, Onkel Clifford, dass ich Toby überfordere?“

„Genau. Und er hat Angst vor dir. Ich glaube, er will gar nicht mehr kommen. Seine Eltern haben gesagt, dass er nach dem letzten Mal geweint hat.“

„Er soll mit mir spielen und er soll mir gehorchen. Ich bin klüger als er. Toby ist ein dummer Trottel. Er soll das machen, was ich sage. Ich bin die Königin und er ist der Lakai. Ich will mit ihm spielen. Jetzt! Jetzt, jetzt, jetzt!“

Ihre letzten Worte brüllte sie und Clifford Barnes verdrehte die Augen.

„Christine, es ist schon spät.“

„Es ist Freitag. Toby soll kommen. Jetzt! Ob er will oder nicht. Ich will mit ihm spielen. Bringt sofort Toby her.“

Clifford und Mathilda warfen sich vielsagende Blicke zu.

„Na gut. Ich kann ja mal mit seinen Eltern reden. Aber du musst versprechen, dass du ihn nicht wieder schlägst. Ist das klar, junge Dame?“

Ein honigsüßes Lächeln erschien auf Christines Lippen.

„Na gut. Ich lasse ihn in Ruhe.“

Das Ehepaar Barnes seufzte und eilte davon, um mit den Eltern des kleinen Toby zu verhandeln. Nur ihre Zustimmung konnte das Wochenende noch retten.

Als sie außer Sicht waren, grinste das kleine Mädchen fast schon diabolisch.

„Vielleicht lasse ich ihn in Ruhe“, wisperte sie. „Wenn er mir gehorcht.“

Toby war ein für sein Alter ungewöhnlich großer und kräftiger Junge. Leider war sein Verstand sehr schwerfällig, und so begriff er wahrscheinlich nicht wirklich, warum ihm seine Eltern nach vielen Diskussionen mit Mr und Mrs Barnes gestatteten, den Abend im Nachbarhaus zu verbringen.

Vorsichtig pirschte er sich in das Wohnzimmer, und als er die kleine Christine erblickte, die ihn herausfordernd anlächelte, zuckte er zusammen.

„Komm her, Diener. Wir spielen. Ich habe schon alles vorbereitet. Du weißt, was zu tun ist.“

Christine nahm auf dem Sofa Platz. Ihre Haltung war majestätisch und straff. Auf dem kleinen Kindertisch vor dem Sofa hatte sie winzige Teetassen aufgebaut und eine Schale mit Keksen. Auch Zucker und Sahne gab es dort.

Unterwürfig schlurfte Toby herbei und verneigte sich. So hatte Christine es ihm beigebracht und er wusste, dass er gut daran tat zu gehorchen.

„Na, Diener? Willst du deiner Herrin nicht ein wenig Tee anreichen?“, rief sie.

„Natürlich, Mylady“, ächzte er.

In der Küche saß das Ehepaar Barnes und hörte Radio. Ab und zu warf Clifford einen vorsorglichen Blick ins Wohnzimmer.

„Wie möchten Mylady Ihren Tee?“, fragte Toby.

„Nun, wie mag ich denn meinen Tee? Hast du das schon vergessen, Diener?“

„Oh. Ja, Mylady. Mit Zucker und Sahne?“

Christine kicherte. „Interessant. Probier doch mal, ob ich Zucker und Sahne mag.“

Also schüttete er Zucker in die winzige Teetasse, fügte dicke Sahne hinzu und goss Tee hinterher. Dann rührte er die duftende Mischung überaus sorgfältig und reichte Christine die Tasse an.

„Ist es so richtig, Mylady?“

Kurz blickte Christine in Richtung Küche. Onkel Clifford drehte am Radio herum, um den Empfang zu verbessern, und Tante Mathilda wärmte ein Glas Honigmilch. Die Luft war rein.

Jetzt starrte sie Toby mit äußerster Strenge an.

„Hör zu, Diener. Wenn du mich heute verpetzen willst oder heulst, werde ich richtig böse und gemein. Hast du das verstanden?“

„Ja, Mylady“, hauchte er.

„Also, mag ich meinen Tee mit Sahne und Zucker? Was bist du nur für ein Blödmann! Ich hasse Zucker. Setz die Tasse ab! Dafür wirst du bestraft.“

Gehorsam stellte er die Tasse auf den Tisch.

Christine kicherte und kniff und zwirbelte seine Wange.

„Aua“, ächzte er.

„Schweig still. Ertrage deine Strafe tapfer, wie es sich für einen Gefolgsmann der Königin gehört. So ist es fein. Und jetzt Tee bitte, wie es sich gehört. Und danach kauerst du zu meinen Füßen. Ich werde dich mit diesen Keksen füttern wie einen Hund. Runter mit dir.“

Toby gehorchte und bald wurde er von seiner Herrin getätschelt und gefüttert wie ein Schoßhund.

Clifford Barnes kontrollierte hin und wieder die Lage.

Er sah, dass Christine sich vermeintlich liebevoll um ihren Spielgefährten kümmerte und ihn mit Haferkeksen vollstopfte....