Still - Thriller

von: Zoran Drvenkar

Eder & Bach, 2014

ISBN: 9783945386019 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Still - Thriller


 

ICH


1


Ich will nichts Falsches sagen. Ich habe mein drittes Bier vor mir stehen und will auf keinen Fall was Falsches sagen. Die Jukebox wiederholt Eye of the Tiger zum achten Mal an diesem Abend, der Dartautomat dudelt seine Melodie, das Licht ist gedimmt. Ich starre auf die Theke. Die Worte in meinem Kopf sind poliert wie Flußkiesel, die vom Wasser glattgerieben wurden. Keine Kanten, keine Ecken. Ich sortiere sie immer wieder neu und suche nach der richtigen Ordnung. Die Worte müssen mir ins Blut übergehen. Ich muß ein Teil des Flusses sein.

Der Mann links von mir murmelt, daß nichts mehr so ist, wie es einmal war, seitdem keiner mehr rauchen darf, wann er will, wo er will, und sind wir denn hier in der DDR oder was? Er wiederholt sich wie einer von diesen mechanischen Papageien, die auf dem Volksfest die Besucher anlocken sollen. Die Leute ignorieren ihn, der Barkeeper wischt über die Theke, ich sehe auf.

Sie sind zu zweit an einem der Tische. Sie sitzen im Halbdunkel und reden, wie Männer gerne reden – mit beiden Händen ums Glas, ohne sich anzusehen, versunken im Bierschaum oder in der Maserung des Tisches und manchmal auch im Raum, als wäre da ein unsichtbarer Zuhörer. Einer der Männer fängt meinen Blick auf, ich nicke ihm zu und hebe mein Glas. Er nickt zurück, läßt sein Glas aber stehen.

Der Anfang ist gemacht. Ich zahle und gehe.

 

Zu Hause stelle ich mich unter die Dusche und warte, daß die Kälte weicht. Das Bad ist eine Nebellandschaft, meine Haut steht in Flammen, die Fingerspitzen sind aufgequollen. Nach zehn Minuten gebe ich auf. Die Kälte sitzt so tief in meinen Knochen, daß ich frierend aus der Dusche steige. Nichts hilft.

 

Die nächsten Stunden verbringe ich im Internet, bis meine Beine unruhig sind und ich saure Übelkeit auf der Zunge schmecken kann. Ich will die Augen nicht verschließen. Ich will sehen, was es zu sehen gibt. Nach sechzehn Downloads kann ich nicht mehr. Es ist keine gute Zeit für mich. Ich balanciere auf einem schmalen Grat entlang, dabei weiß ich es besser. Es gibt Regeln. Wir sollten immer jemanden an unserer Seite haben, der uns vor dem Absturz bewahrt. Immer. Meine Frau fehlt mir. Sie ist bitter, sie ist wütend. Ich kann mich nicht gut erklären. Sie nennt mich krank, sie nennt mich pervers und hat mir mit der Polizei gedroht. Ich konnte sie nur ansehen. Ich bin nicht der, der ich sein wollte. Ich wurde zu dem, der ich bin, weil der Wind sich gedreht hat, weil ein Stern verlöscht ist oder irgendwo in Afrika ein Blatt vom Baum fiel. Ich weiß, es wird nicht ewig so weitergehen. Ich arbeite daran.

 

Meine größte Sorge ist im Moment, daß man mich so kurz vor meinem Ziel ausfindig machen könnte. Auch wenn alle sagen, daß das Usenet sicher ist, gibt es keine Garantien. Nichts im Internet ist sicher. Vielleicht bin ich paranoid, vielleicht reichen die neu installierten Programme völlig aus. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, es ist das Risiko wert. Jeden Tag aufs Neue.

Das Notebook fährt mit einem Seufzer herunter, ich klappe es zu und gehe schlafen.

 

 

2


Der Pub befindet sich in Friedenau und wirkt sehr stilvoll. Er ist keine von diesen Kneipen mit Spitzengardinen und Stammtisch. Sie haben Guinness und Murphy ’s vom Faß, und zu jedem Bier gibt es eine kleine Schale mit Chips oder Erdnüssen. Zu Weihnachten befanden sich Lebkuchenherzen in den Schalen, und den ersten Glühwein gab es umsonst. Obwohl der Pub schon ab zwei geöffnet hat, kommen die Gäste erst zum späten Nachmittag. Anfangs habe ich jeden dritten Tag vorbeigeschaut, jetzt lasse ich kaum einen Abend aus. Ich trinke, werfe Geld in die Jukebox, trinke mehr. Ich werde gesehen, denn ich lasse mich sehen, und spricht mich jemand an, antworte ich, ansonsten bin ich für mich allein.

 

Die Barkeeper wechseln sich die Woche über ab. Gunter. Ivan. Ferris. Jeder von ihnen hat seine Art, seinen Humor, sein eigenes Publikum. Ich beobachte, an welchen Tagen welche Gäste in den Pub kommen. Studenten, Vereinsleute, Junggesellen, Pärchen, Dartspieler, Säufer. Die, die sich langweilen, die sich einsam fühlen, und dann die, die so sehr mit der Umgebung verschmelzen, daß man mehrmals hinschauen muß, um sie zu bemerken. Leute wie ich. Leute, die an dem Tisch in der Ecke sitzen. Ich weiß, wer sie sind. Ich bin bereit für sie. Und was auch passiert, ich darf nichts Falsches sagen. Keine Ecken, keine Kanten.

 

Am nächsten Abend hebt einer der Männer sein Glas und prostet mir zu. Auch der andere sieht mich an. Geduldig. Ich nicke nicht. Ich lächle nicht. Ich halte seinem Blick stand. Das habe ich vor dem Spiegel geübt, bis mir schwindelig wurde und ich Tränen in den Augen hatte. Der Blickkontakt bricht ab, weil der eine Mann was zum anderen Mann sagt. Als ich erneut aufsehe, winken sie mich zu sich.

 

Heute sind sie zu zweit, manchmal sind sie zu dritt, aber ich weiß, daß sie erst zu viert komplett sind. Ich kenne ihre Namen. Seit einem Jahr studiere ich diese Männer wie einen Splitter, der sich mir unter die Haut gebohrt hat – ich spüre ihn, sehe ihn aber nicht. Seit zwei Monaten besuche ich diesen Pub regelmäßig. Ich darf es nicht vermasseln. Sie müssen mich verstehen. Das ist die ganze Wahrheit: ich lechze nach ihrem Verständnis.

 

Hagen ist groß und schlank. Er hat das Gesicht einer Statue und lockiges blondes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt. Seine Hände sind groß und sehen aus, als wären sie unter eine Walze gekommen, die Finger sind erschreckend dünn, die Nägel flach und lang. Er sagt, das kommt vom Rudern. Wenn er vom Tisch aufsteht und zur Toilette geht, drehen sich die Frauen nach ihm um. Er erinnert an einen dieser Engel aus alten Gemälden, der gegen das Böse ankämpft und nie unterliegt. Seine Wangen sind immer leicht gerötet, als würde er sich für seine Gedanken schämen. Vor vier Jahren hat er das Studium abgebrochen, nachdem ihm sein Vater ein gutgehendes Antiquariat im Herzen von Charlottenburg vererbt hat. Hagen ist seit dem Frühjahr ein fester Teil der Gruppe und mit Ende zwanzig der Jüngste von ihnen.

– Hagen von Rhys, sagt er und reicht mir die Hand, sein Lächeln ist warm, der Griff schwielig und sicher.

– Mika, sage ich.

– Mika wer? fragt der andere Mann.

Er heißt Achim und er ist das Gegenteil von Hagen – niemand dreht sich nach ihm um, niemand würde ihn für einen Engel halten. Achim hat die Statur eines Rammbocks und bleckt gerne die Zähne. Es ist seine ganz eigene Form der Einschüchterung. Ich zucke ein wenig zurück, er ist zufrieden mit meiner Reaktion. Achim verkauft Solarund Satellitenanlagen, seine Frau ist Steuerberaterin und Mutter von zwei Jungen. Sie war dabei, als Achim vor acht Jahren ein Hund angefallen hat. Die Narbe ist von vorne nicht zu sehen, sie beginnt am rechten Ohr, geht um den Kopf herum, wo sie am Nacken endet. Früher trug Achim sein Haar halblang, jetzt rasiert er sich den Schädel, damit jeder sehen kann, daß mit ihm nicht zu spaßen ist. Er sagt: »Ich habe den Köter überlebt, ich überlebe alles.« Seine Frau war auch mit dabei, als Achim den Hund danach erwürgt hat. Niemand erstattete Anzeige. Der Köter war ein Streuner und hatte es verdient zu sterben. Es scheint, als wäre das Wesen des Hundes auf Achim übergegangen. Sein Gesicht ähnelt einer müden Bulldogge. Die Schatten unter seinen Augen liegen tief und schimmern lila. Ich weiß, daß er ein Schlafproblem hat.

– Mika Stellar, sage ich und reiche ihm die Hand.

– Achim, sagt er, und ich frage nicht, wie er weiter heißt. Ich habe mir Regeln zurechtgelegt. Regeln der Bescheidenheit. Sein voller Name ist Achim Brockhaus. Mein Name ist nicht Mika Stellar.

– Setz dich doch, sagt Achim.

Die Kellnerin kommt, Hagen fragt, was meine Sünde sei. Ich werde rot, schaue auf die Tischplatte und sage Wodka Lemon. Hagen bestellt drei Wodka Lemon. Ich schaue wieder auf, sie sehen mich fragend an. Ich weiß, was sie wissen wollen.

– Ihr werdet es nie erraten, sage ich. Sie warten.

– Lehrer, sage ich.

Hagen stößt einen Pfiff aus. Achim schlägt mir auf die Schulter.

– Scheiße, ein Lehrer! ruft er. Es ist ein guter Anfang.

 

Nichts weiter geschieht an diesem Abend. Wir trinken, wir lernen uns kennen und tauschen Geschichten, Abenteuer, Vorlieben aus. Ich erfahre kaum etwas Neues. Die Oberfläche ist dünn, aber sie bricht nicht. Die Chemie zwischen uns stimmt. Mit Hagen gibt es überhaupt keine Probleme. Achim wird erst mit der Zeit privat und läßt die Deckung nur zögerlich sinken. Sie spüren meine Einsamkeit, auch sie haben mich über die letzten zwei Monate hinweg beobachtet, wie ich da am Tresen saß und für mich war. Ich bin gut vorbereitet.

 

Die folgenden Abende verlaufen ähnlich. Wir reden, trinken, reden. Am fünften Abend kommt der dritte Mann gegen Mitternacht dazu. Er ist gebaut wie ein Grizzly und mit einem Jahr Unterschied zu Achim der Älteste in der Gruppe – silbergraues Haar, das immer zu einem Zopf geflochten ist, und eine Brustbehaarung, die aus dem Hemdkragen emporwächst. Plötzlich steht er in seiner Lederkluft am Tisch, sieht auf mich herab und stellt fest:

– Das ist also der Neue.

Ich komme ungeschickt auf die Beine und stoße gegen den Tisch, Bier schwappt aus den Gläsern, ich schwanke und es sieht aus, als ob ich nach zwei Wodka Lemon schon angeschlagen wäre. Die Männer lachen, ich strecke die Hand aus.

– Der ist Lehrer, sagt Achim, Die sind alle ein wenig wacklig.

– Mika, sage ich.

Seine Hand schließt sich fest um meine. Ein richtiger Kumpelgriff. Dann dreht er meine Hand, so daß sich unsere Handballen treffen, zwei...