Die Chronolithen - Roman

von: Robert Charles Wilson, Wolfgang Jeschke

Heyne, 2014

ISBN: 9783641149246

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Die Chronolithen - Roman


 

1


EINS


Hitch Paley schob sein ramponiertes Daimler-Motorrad über den festgetretenen Sandstrand hinter dem Haat-Thai-Tanzzelt;1 er hatte mich eingeladen, mich vom Ende einer Epoche zu überzeugen. Nicht nur der meinen. Doch ich mache Hitch keinen Vorwurf.

Es gibt keinen Zufall. Jetzt weiß ich das.

Er kam näher und grinste, was bei Hitch gewöhnlich nichts Gutes verhieß. Er trug, was man als Amerikaner in Thailand in diesem letzten intakten Sommer zu tragen pflegte: Militärshorts und Jesussandalen, ein schlottergroßes Khaki-T-Shirt und ein geblümtes Spandex-Stirnband. Er war ein Mordskerl, ein Ex-Marinesoldat, der sich der hiesigen Lebensweise angepasst hatte, bärtig und mit Bauchansatz. Eine furchteinflößende, fast schon bedrohliche Erscheinung.

Ich wusste genau, dass Hitch die Nacht im Partyzelt verbracht und mit Hasch verschnittene Gewürzplätzchen gefuttert hatte; eine Beamtin des deutschen diplomatischen Korps hatte sie ihm geschenkt und ließ sich damit füttern, bis sie bei Flut mit ihm nach draußen ging, um den Mondschein auf dem Wasser zu bewundern. Hitch wäre besser nicht wach gewesen um diese Stunde, geschweige denn vergnügt.

Auch ich wäre besser nicht wach gewesen.

Nach ein paar Stunden am Lagerfeuer war ich heimgegangen zu Janice, doch geschlafen haben wir nicht. Kaitlin war stark erkältet und Janice hatte den ganzen Abend abwechselnd unsere Tochter beruhigt und es mit lauter daumengroßen Küchenschaben aufgenommen, die in den warmen und fettigen Hohlräumen des Gasherds siedelten. Das und die Hitze der Nacht und die Spannung, die bereits zwischen uns herrschte, machten es wohl unausweichlich, dass wir fast bis Tagesanbruch stritten.

Folglich waren Hitch und ich ganz und gar nicht ausgeschlafen, vielleicht nicht einmal eines klaren Gedankens fähig, obwohl mich die Morgensonne munter stimmte und mich darin bestärkte, eine so strahlend helle Welt müsse auch verlässlich und von Dauer sein. Die Sonne legte Glanz auf das bleierne Wasser der Bucht, ließ die Fischerboote wie Punkte auf dem Radarschirm erscheinen und verhieß einen weiteren wolkenlosen Nachmittag. Der Strand war so breit und flach wie ein Highway, der zu einem namenlosen und vollkommenen Ziel führte.

»Also das Geräusch diese Nacht«, nahm Hitch das Gespräch auf, wie meistens ohne jede Einleitung, als wären wir nur kurz getrennt gewesen, »wie von einem Navy-Jet, hast du das gehört?«

Hatte ich. Ich hatte es gegen vier Uhr früh gehört, kurz nachdem Janice wütend zu Bett gegangen war. Kaitlin war endlich eingeschlafen und ich saß allein am vernarbten Linoleumküchentisch vor meinem bitteren Kaffee. Das Radio plauderte leise, ein US-Jazzsender.

Für etwa dreißig Sekunden wurde die Übertragung spröde und sonderbar. Es tat einen Donnerschlag gefolgt von rollenden Echos (Hitchs »Navy-Jet«) und knapp darauf ließ eine merkwürdige kalte Brise die eingetopften Bougainvilleas von Janice ans Fenster klopfen. Die Lamellen der Rouleaus hoben sich und fielen in einem leisen Salut; die Türe zu Kaitlins Schlafzimmer trat aus dem Schloss und Kaitlin drehte sich in ihrem netzverhangenen Bettchen und gab einen leisen, traurigen Laut von sich, wachte aber nicht auf.

Es war mehr ein Sommergewitter als ein Navy-Jet, ein aufkeimender oder sterbender Sturm, der vor sich hin murmelte draußen über dem Golf von Bengalen. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Jahreszeit.

»Am Duc hat heute früh ein Trupp von Caterfirmen Halt gemacht und das ganze Eis aufgekauft«, sagte Hitch. »Waren unterwegs zur Datscha eines Reichen. Soll richtig was los sein draußen an der Straße in die Berge, wie Feuerwerk oder Artillerie. Ein paar Bäume wurden umgeknickt. Kommst du mit, Scotty?«

»Ist doch egal«, sagte ich.

»Was?«

»Ja, ich komme mit.«

 

Diese Entscheidung sollte mein Leben unwiderruflich verändern, dabei traf ich sie aus einer Laune heraus. Schuld ist Frank Edwards.

Frank Edwards war ein Rundfunksprecher des vorigen Jahrhunderts, der angeblich wahre Wundergeschichten zu einem Buch zusammentrug (»Stranger than Science«, 1959), darunter solche Dauerbrenner wie das Rätsel um Kaspar Hauser und das »Raumschiff«, das 1910 über der Tunguska in Sibirien explodierte. Dieses Buch und eine Hand voll Fortsetzungen waren ein wichtiger Bestandteil unseres Haushalts, damals, als ich noch so naiv war, solche Geschichten für bare Münze zu nehmen.

Mein Vater hatte mir eine ausrangierte (weil ziemlich lädierte) Bibliotheksausgabe von »Stranger than Science« geschenkt und ich hatte sie – mit zehn – in drei Nächten ausgelesen. Wahrscheinlich hielt mein Vater diese Lektüre für geeignet, die Phantasie eines Jungen anzuregen. Wenn ja, so hatte er Recht. Tunguska war eine Welt weit weg von dem umzäunten Gehege in Baltimore, wo Charles Carter Warden sein geplagtes Weib und sein einziges Kind gepflanzt hatte.

Ich überwand die Gewohnheit, solcherart Dinge zu glauben, doch das Wort »strange« war mir zum Talisman geworden. »Merkwürdig« war mein Lebenslauf. »Merkwürdig« war der Entschluss, nach Auslaufen der Verträge in Thailand zu bleiben. »Merkwürdig« diese langen Tage und zugedröhnten Nächte an den Stränden von Chumphon, Ko Samui und Phuket; so merkwürdig wie die schlingenförmige Geometrie der uralten Wats.2

Vielleicht hatte Hitch Recht. Vielleicht war irgendein dunkles Geheimnis in der Provinz gelandet. Wahrscheinlicher war aber ein Waldbrand oder eine Schießerei zwischen narkotisierten Junkies, doch Hitch bestand darauf, die Caterleute hätten ihm erklärt, es handle sich um etwas »aus dem Weltraum« – und wer war ich, um daran zu zweifeln? Ich war nervös und sah einem weiteren Tag fruchtloser Wortgefechte mit Janice entgegen. Was mir überhaupt nicht schmeckte. Also schwang ich mich auf den Sozius von Hitchs Daimler – scheiß auf die Konsequenzen! –, und wir fuhren in einer blauen Wolke aus Auspuffgasen landeinwärts. Ich machte nicht Halt, um Janice von meiner Spritztour in Kenntnis zu setzen. Vermutlich wär es ihr egal gewesen; wie auch immer, bei Einbruch der Dunkelheit wollte ich wieder daheim sein.

In Chumphon und Satun verschwanden damals viele Amerikaner: gekidnappt, um Lösegeld zu erpressen, oder wegen Kleingeld ermordet oder als Heroinschmuggler rekrutiert. Ich war zu jung, um mich um so etwas zu sorgen.

 

Wir kamen am Phat Duc vorbei, dem Schuppen, wo Hitch angeblich Angelzeug verkaufte, in Wahrheit aber einheimisches Marihuana an die vielen Party-Touris vertickte, und bogen auf die neue Küstenstraße ab. Der Verkehr war mäßig, lediglich ein paar schwere Sattelzüge aus den C-Pro-Fischfarmen, kleine Linienbusse und Songthaews, kleine Touristenbusse geschmückt wie Karnevalswagen.3 Hitch fuhr so rasant und unbekümmert wie ein Einheimischer, was die Fahrt zu einer Feuerprobe im Wasserhalten machte. Doch der Ansturm feuchter Luft brachte Kühlung, besonders als wir auf die Zubringerstraße Richtung Landesinnere abbogen, und der Tag war jung und ging schwanger mit wundersamen Dingen.

Abseits der Küste ist Chumphon gebirgig. Landeinwärts hatten wir die Straße nahezu für uns allein, bis eine Phalanx Grenzpolizei in einem Hagel aus Kies an uns vorbeibrauste. Also war tatsächlich etwas zugange. Wir hielten an einer Tankstelle namens Hawng Nam, damit Hitch sich erleichtern konnte, derweil ich mein Taschenradio auf den englischsprachigen Sender in Bangkok einstellte. Eine Menge US- und UK-Top-Forty-Hits, kein Wort über Marsmenschen. Doch gerade als Hitch von der Pissrinne zurückkam, brauste eine Brigade königlicher Thaisoldaten an uns vorbei, drei Truppentransporter und eine Hand voll greiser Hummerjeeps, der örtlichen Polizei hinterher. Hitch sah mich an, ich sah ihn an. »Nimm die Kamera aus der Satteltasche«, sagte er, diesmal ohne zu lächeln. Er wischte sich die Hände an den Shorts ab.

Weit voraus über den zusammengewürfelten Hügeln stach eine strahlend helle Säule aus Nebel oder Rauch in den Himmel.

 

Was ich nicht wusste, war, dass meine Tochter Kaitlin, fünf Jahre alt, mit hohem Fieber aus dem Morgenschlaf erwacht war, und dass Janice gut zwanzig Minuten vergeudet hatte, mich ausfindig zu machen, ehe sie aufgab und Kait in die Charité brachte.

Der Arzt war ein Kanadier, der schon seit 2002 in Chumphon war und mit Spendenmitteln aus irgendeinem Fond der Weltgesundheitsorganisation einen ziemlich modernen OP eingerichtet hatte. Das Strandvolk nannte ihn Doktor Dexter. Der richtige Mann bei Syphilis oder Darmparasiten. Als er Kaitlin untersuchte, hatte sie über 40° Fieber und kam nur zeitweise zu sich.

Janice war natürlich außer sich. Sie musste das Schlimmste befürchtet haben: die Japanische Enzephalitis, über die man in diesem Jahr in den Zeitungen las, oder das Denguefieber, das so viele Menschen in Myanmar getötet hatte. Doktor Dexter diagnostizierte eine gewöhnliche Grippe (wie sie seit März unter den Menschenmassen von Phuket und Ko Samui kursierte) und pumpte sie voll mit Antiviralen.

Janice saß im Warteraum und versuchte wiederholt mich zu erreichen. Doch ich hatte mein Handy in der gemieteten Hütte gelassen, im Rucksack auf dem Regal. Womöglich hätte sie versucht, Hitch zu erreichen, aber Hitch hielt nichts von unverschlüsselter Kommunikation; er hatte ein GPS und einen Kompass bei sich, seiner Meinung nach mehr als genug für einen richtigen Freibeuter.

 

Als ich durch den porösen Vorhang des Waldes zum ersten Mal einen Blick auf die Säule erhaschte, hielt ich sie für den Chedi eines...