Kolibri

von: Kati Hiekkapelto

Heyne, 2014

ISBN: 9783641142919 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Kolibri


 

2

Die dicke Wolke, die nun schon seit vier Tagen den Himmel verdunkelte, schleuderte unermüdlich Regen auf die Stadt. Es war grau und kühl. Die Fußgänger, die sich mit ihren Schirmen durch das morgendliche Gedränge kämpften, wichen den Fontänen aus, die von den Autoreifen aufspritzten. Die Klügsten trugen Gummistiefel. Der Sommer schien unwiderruflich vorbei zu sein, obwohl die Haut noch längst nicht auf die Hitze und die Berührung des Meerwassers verzichten wollte. Die Schule hatte wieder begonnen, die Berufstätigen waren aus dem Urlaub zurück, und die Gesellschaft lief wieder auf vollen Touren: zur Arbeit, nach Hause, zur Arbeit, nach Hause, keine Faulenzerei auf den Badestegen und kein Pusteblumenpusten mehr.

Um Viertel vor acht öffnete Anna die Tür zu dem großen Amtsgebäude in ihrer ehemaligen Heimatstadt und betrat das konstant hellwache Foyer. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass ihr neuer Chef sich verspätet hatte. Sie holte die Puderdose aus der Handtasche, zupfte die Ponyfransen zurecht und legte ein wenig Lipgloss auf. Dann atmete sie tief durch. Ihr Magen zwickte, und sie hatte Druck auf der Blase.

Die Neonleuchten sirrten hinter den Gittern der Lampenschirme. Anna hatte letztlich doch schlecht geschlafen. Sie war schon in den frühen Morgenstunden aufgewacht und immer nervöser geworden. Das Adrenalin putschte ihre Sinne auf.

Vor einer Woche war ihr einstiger Wohnort wieder zum aktuellen geworden, als Anna mit einem gemieteten Kleintransporter und der Hilfe von zwei Kollegen ihre wenigen Möbel und Habseligkeiten viele Hundert Kilometer von der Stadt wegbrachte, in der sie ihre Ausbildung durchlaufen und nach dem Abschluss verschiedene befristete Jobs gehabt hatte. Das meiste hatte sie schon vor zehn Jahren besessen, als sie mit der Ausbildung begonnen hatte.

Anna hatte eine Wohnung in Koivuharju gemietet, der Vorortsiedlung, in der sie ihre Jugend verbracht hatte und wo Ákos immer noch wohnte. Die Gegend hatte keinen besonders guten Ruf, aber die Mieten waren erschwinglich. Annas Familienname, der mit Plastikbuchstaben an ihrem Briefschlitz angebracht war, erzeugte bei den anderen Hausbewohnern keinerlei Irritation. Nicht einmal ihr relativ hoher Bildungsstand wich wesentlich vom Mittelwert des Mieterprofils ab, denn in Koivuharju wohnten überraschend viele Lehrer, Ärzte, Ingenieure und Physiker mit Migrationshintergrund. Der einzige statistisch bedeutende Unterschied war, dass Anna berufstätig war und eine ihrer Ausbildung entsprechende Festanstellung gefunden hatte. Die Physiker aus Koivuharju waren schon froh, wenn sie irgendwo aushilfsweise putzen gehen durften.

Koivuharju war keine Gegend, für die man sich freiwillig entschied. Man geriet dorthin. Diejenigen, die in der Innenstadt oder an deren Peripherie wohnten, kannten Namen und Ruf des Vororts, wussten aber nicht, wie es dort aussah. Das bunte Spektrum der schwer auszusprechenden Namen in den Treppenhäusern hätte ihnen vielleicht sogar Angst gemacht.

Anna sehnte sich nicht nach den teuren Wohnungen mit den hohen Decken im Stadtzentrum. Jenseits der glänzenden Fassaden, in den Schatten und Nebenstraßen hatte sie sich von jeher heimischer gefühlt.

Vielleicht war sie deshalb Polizistin geworden.

Kriminalhauptkommissar Pertti Virkkunen kam fast zehn Minuten zu spät. Der kleine schnauzbärtige Mann, der die fünfzig bereits überschritten hatte, wirkte ausgesprochen fit. Er begrüßte Anna mit einem strahlenden Lächeln und schüttelte ihr so kräftig die Hand, dass ihr Schultergelenk knackte.

»Wir sind so froh, dass Sie bei uns gelandet sind«, sagte er. »Wirklich toll, eine Polizistin mit Migrationshintergrund in unserem Team zu haben. In den Strategiepapieren ist davon ja schon seit Jahren die Rede, aber hier hat sich bisher nicht ein Einziger blicken lassen, nicht einmal als Polizeimeister. Kein Migrant, meine ich. Ansonsten machen wir mit Leuten wie Ihnen ja durchaus Bekanntschaft, also, ähm …«

Virkkunen brach verlegen ab. Anna hätte gern eine bissige Antwort gegeben und den Mann dazu gebracht, sich vor Scham zu winden, doch da ihr auf die Schnelle nichts einfiel, ließ sie es auf sich beruhen.

»Lassen Sie es in den ersten paar Tagen locker angehen, lernen Sie das Haus und die Leute kennen. Wir haben momentan keine dringlichen Fälle, daher können Sie sich in aller Ruhe einarbeiten«, erklärte Virkkunen. Er führte Anna von einer Abteilung zur anderen. »Das hier ist ja Ihre erste feste Stelle und überhaupt Ihr erster Job bei der Kripo, insofern brauchen Sie sicher Zeit, sich einzugewöhnen und sich mit unseren Arbeitsmethoden vertraut zu machen. Wir beginnen um acht Uhr mit der Morgenbesprechung. Dabei geht es hauptsächlich um Lageberichte und die Aufgabenverteilung. Die Besprechung der Analysegruppe findet einmal wöchentlich statt. Die genaueren Zeitpläne und Ihren Schichtplan bekommen Sie von unserer Sekretärin.«

Anna nickte. Während sie Virkkunen folgte, versuchte sie, sich die Anordnung der Gänge und Abteilungen einzuprägen, eine Art Grundriss zu skizzieren. Im Sommer nach dem Abitur hatte sie hier als Aushilfe bei der Meldestelle gearbeitet, in einem großen Büro im Erdgeschoss, und bei der Bearbeitung einer Flut von Passanträgen geholfen – dass ihr Pass abgelaufen war, merkten die meisten immer erst kurz vor einer Urlaubsreise. Sie hatte die Anträge abgeheftet und abgestempelt, Regale aufgeräumt und Kaffee gekocht und zum Schluss sogar die Abläufe bei der Passherstellung selbst kennengelernt. Aber ansonsten war ihr das Gebäude fremd geblieben. Es hatte wie ein Labyrinth auf sie gewirkt, wie es große Gebäude am Anfang immer taten.

Virkkunen führte Anna in den dritten Stock, in das Dezernat für Gewaltdelikte und in sein Dienstzimmer, einen großen, hellen Raum auf halber Höhe des Korridors gegenüber der Kaffeeküche. Unterlagen und Ordner standen wohlsortiert in den wandhohen Regalen, der Computer war ausgeschaltet. Am Fenster hingen drei Ampeln mit üppigen Grünpflanzen, und auf dem Fußboden stand eine baumgroße Yuccapalme. An der Wand hing das Foto einer blonden Frau und dreier blonder Kinder an einem sonnigen, exotischen Sandstrand. Sie lächelten, wie es sich für eine glückliche Familie gehörte.

Auf einem Servierwagen aus Edelstahl standen eine Thermoskanne und Kaffeetassen bereit. Das obligatorische Hefegebäck in einem Korb war mit einem Tuch bedeckt. Anna überlegte, ob sie so unhöflich sein durfte, das Gebäck abzulehnen. Der Raum war so groß, dass neben Virkkunens Schreibtisch auch ein Besprechungstisch Platz hatte. An diesem Tisch saßen drei Personen. Polizisten in Zivilkleidung.

»Guten Morgen allerseits«, sagte Virkkunen. »Darf ich euch unsere neue Kriminalmeisterin vorstellen, Anna Fekete.«

Zwei der drei standen sofort auf und traten auf Anna zu.

»Guten Morgen und herzlich willkommen bei uns! Wie gut, dass wir jetzt eine zweite Frau im Team haben, die Kerle gehen mir manchmal wirklich auf die Nerven. Ich bin Sari. Sari Jokikokko-Pennanen. Warum musste ich mir bloß dieses Monster von einem Namen antun?«

Die große blonde Frau, ungefähr im gleichen Alter wie Anna, schien mit ihrem ganzen Wesen zu lächeln. Sie streckte ihren schlanken Arm aus und nahm mit angenehm festem und warmem Griff Annas Hand.

»Hallo allerseits. Meinen Namen spricht man übrigens wie Fäkätä aus. Echt toll, dass ich hier arbeiten darf, allerdings bin ich ein bisschen nervös.«

»Dazu hast du überhaupt keinen Grund. Nach allem, was man hört, bist du eine verdammt gute Polizistin, und wir sind wirklich froh, dass du bei uns gelandet bist. Aber hör mal, du sprichst ja irrsinnig gut Finnisch, man hört gar keinen Akzent«, sagte Sari.

»Danke. Ich lebe schon ziemlich lange in Finnland.«

»Ach so, wie lange denn?«

»Seit zwanzig Jahren.«

»Dann warst du ja noch ein Kind, als du gekommen bist.«

»Ich war neun. Wir sind im Frühjahr hergezogen, im Sommer wurde ich zehn.«

»Wow. Davon musst du mir irgendwann mehr erzählen. Das hier ist Rauno Forsman.«

Der ebenfalls etwa dreißigjährige, freundlich aussehende Mann streckte die Hand aus und begrüßte Anna. Seine blauen Augen musterten sie neugierig.

»Guten Morgen und auch meinerseits herzlich willkommen.«

»Guten Morgen, freut mich«, sagte Anna und spürte, wie die Schmetterlinge in ihrem Bauch allmählich aufhörten zu flattern und ihre Nackenmuskeln sich entspannten. Sie mochte diese Leute, besonders Sari.

Die dritte Person war am Tisch sitzen geblieben. Ein Mann, der gerade in dem Moment den Mund aufmachte, als Virkkunen sich empört zu ihm umwandte.

»Tag«, sagte er vage in Annas Richtung und wandte sich dann an Virkkunen: »Die Notrufzentrale hat letzte Nacht einen Anruf reinbekommen. Irgendeine Neufinnin, oder wie man die heutzutage nennt, meinte, man wolle sie umbringen. Machen wir uns also langsam mal an die Arbeit?«

Virkkunen räusperte sich. »Esko Niemi«, sagte er zu Anna. »Ihr Partner.«

Esko, dessen von Couperose gemaserte Wangen schlaff herabhingen, schnaubte. Vielleicht hat er Schnupfen, dachte Anna und begrüßte...