Kinder der Freiheit - Roman

von: Ken Follett

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838757131 , 1036 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 14,99 EUR

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Kinder der Freiheit - Roman


 

2

KAPITEL

Zum Frühstück machte seine Mutter ihm Blaubeerpfannkuchen und Maisgrütze mit Speck als Beilage. »Wenn ich das alles esse, muss ich aufs Schwergewicht umsteigen«, sagte George Jakes. Er wog hundertsiebzig Pfund und war im Weltergewicht der Star der Ringermannschaft von Harvard gewesen.

»Lang ordentlich zu und gib das Ringen auf«, sagte Jacky. »Ich habe dich nicht großgezogen, damit aus dir eine geistig minderbemittelte Sportskanone wird.« Sie setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch und schüttete Cornflakes in eine Schale.

Doch geistig minderbemittelt war George keineswegs, und niemand wusste das besser als Jacky. Er stand kurz vor seinem Abschluss an der juristischen Fakultät in Harvard. Seine Examina hatte er abgelegt; nun wartete er auf die Ergebnisse und war sich ziemlich sicher, bestanden zu haben. An diesem Tag besuchte er seine Mutter in ihrem bescheidenen Haus in Prince George’s County, Maryland, außerhalb von Washington.

»Ich möchte in Form bleiben«, sagte er. »Vielleicht betreue ich später mal eine Highschool-Ringermannschaft.«

»Das wäre bestimmt was für dich.«

George blickte sie liebevoll an. Jacky Jakes war eine schöne Frau gewesen. Er wusste es, weil er Fotos von ihr im Teenageralter gesehen hatte. Damals hatte sie eine Filmkarriere angestrebt. Jung sah sie noch immer aus. Ihre Haut besaß die Farbe dunkler Schokolade und war faltenlos und samtig. »Good black don’t crack«, sagten die schwarzen Frauen, gute Schwarze werden nicht runzlig. Nur ihr voller, breiter Mund, der auf den alten Fotos so strahlend lachte, hatte mit den Jahren einen bitteren Zug bekommen.

Eine Schauspielerin war nie aus Jacky geworden. Vielleicht lag es daran, dass sie nie eine Chance erhalten hatte. Die wenigen Rollen für Schwarze bekamen zumeist kaffeebraune Schönheiten, keine Frauen, deren Haut so dunkel war wie die Jackys. Ihre Karriere wäre ohnehin vorzeitig zu Ende gegangen, denn im Alter von sechzehn Jahren war sie mit George schwanger geworden. Während der ersten zehn Jahre seines Lebens hatte sie ihn allein aufgezogen, hatte als Kellnerin geschuftet und in einer winzigen Bruchbude hinter dem Bahnhof Union Station gewohnt. Diese leidvolle Erfahrung sorgte dafür, dass sie George immer wieder ermahnte, wie wichtig eine gute Ausbildung sei, und dass man dafür sorgen müsse, ein geachtetes Mitglied der Gemeinschaft zu sein.

»Ich habe dich lieb, Mom«, sagte George nun, »aber ich mache trotzdem bei der Freiheitsfahrt mit.«

Jacky presste missbilligend die Lippen zusammen. »Du bist fünfundzwanzig. Tu, was du willst.«

»Das mache ich auch, aber ich habe bisher noch jede wichtige Entscheidung vorher mit dir besprochen.«

»Was nützt es, wenn du doch nicht auf mich hörst?«

»Das tue ich nicht immer, ich weiß. Trotzdem bist du der klügste Mensch, dem ich je begegnet bin, einschließlich der Professoren in Harvard.«

»Jetzt schmierst du mir wieder Honig um den Mund«, sagte sie, doch George merkte, dass sie geschmeichelt war. »Aber erzähl mal, was wollt ihr mit eurer Busfahrt erreichen?«

»Der Oberste Gerichtshof hat entschieden, dass in Überlandbussen und an den Haltestellen die Rassentrennung verfassungswidrig ist, aber viele Südstaatler halten sich nicht daran. Also müssen wir was dagegen unternehmen.«

»Und eure Freiheitsfahrt soll das ändern?«

»Ja. Wir steigen hier in Washington ein und fahren nach Süden. Wir setzen uns vorne in den Bus, wo wir nicht sitzen dürfen, benutzen die Wartesäle, die für Weiße reserviert sind, und verlangen, in den weißen Diners bedient zu werden. Wenn jemand sich weigert, dann sagen wir ihm, dass das Gesetz auf unserer Seite steht und dass die Weißen die Verbrecher und Unruhestifter sind.«

Jacky seufzte. »Ich weiß, dass du im Recht bist, Sohn. Die Verfassung habe ich schon verstanden. Aber was denkst du, was dann passieren wird?«

»Wahrscheinlich werden wir früher oder später verhaftet. Dann gibt es einen Prozess, und wir können unseren Fall vor der Öffentlichkeit vertreten.«

Jacky schüttelte den Kopf. »Dann kann ich nur hoffen, dass ihr so glimpflich davonkommt.«

»Wie meinst du das?«

»Du hast es besser gehabt als die meisten anderen schwarzen Jungs. Jedenfalls, nachdem dein Vater wieder in unser Leben getreten war, als du sechs warst. Du weißt nicht, wie die Welt für die meisten Schwarzen aussieht.«

»Warum sagst du das?« George war ein wenig beleidigt. Die gleichen Vorhaltungen machten ihm schwarze Aktivisten, und das ärgerte ihn jedes Mal. »Dass ich einen reichen weißen Großvater habe, der für meine Ausbildung zahlt, macht mich doch nicht blind.«

»Dann weißt du vielleicht auch, dass dir sehr viel mehr passieren kann, als verhaftet zu werden.«

George wusste, seine Mutter hatte recht. Die Freedom Riders riskierten weit Schlimmeres als das Gefängnis. »Keine Bange, Mom, wir halten uns an unseren Grundsatz des passiven Widerstands«, sagte er, um seine Mutter zu beruhigen. Alle Teilnehmer an den Freiheitsfahrten hatten Erfahrung als Bürgerrechtsaktivisten; tatsächlich hatte man sie einem speziellen Ausbildungsprogramm unterzogen, zu dem auch Rollenspiele gehörten. »Ein Weißer, ein rassistischer Schläger, hat mich als Nigger beschimpft, hat mich zu Boden gestoßen und an den Füßen über den Boden geschleift. Ich habe ihn gewähren lassen, obwohl ich ihn mit einem Arm aus dem Fenster hätte werfen können.«

»Wer war der Kerl?«, stieß Jacky hervor.

»Ein weißer Bürgerrechtler.«

»Dann war das gar nicht echt?«

»Natürlich nicht. Wir haben es nur gespielt.«

»Dann ist es ja gut«, sagte sie, doch George hörte aus ihrer Stimme heraus, dass sie das Gegenteil meinte.

»Alles wird gut gehen, Mom.«

»Ich sag lieber nichts mehr. Isst du deine Pfannkuchen auf?«

»Sieh mich an«, sagte George. »Mohairanzug, Krawatte, kurzes Haar und die Schuhe so glänzend geputzt, dass ich mich drin spiegeln kann.« Die Riders waren angewiesen worden, möglichst respektabel auszusehen – für George kein Problem, denn er kleidete sich stets elegant.

»Ja, du siehst prima aus, bis auf dein Blumenkohlohr.« Georges rechtes Ohr war vom Ringen deformiert.

»Na, siehst du. Wer würde so einem netten schwarzen Burschen wehtun?«

»Du machst dir keine Vorstellung!«, fuhr sie in plötzlichem Zorn auf. »Diese weißen Südstaatler …« Zu Georges Bestürzung traten ihr Tränen in die Augen. »Oh, lieber Gott, ich hab so Angst, dass sie dich umbringen!«

Er griff über den Tisch und nahm ihre Hand. »Ich passe auf mich auf, Mom, das verspreche ich dir.«

Sie tupfte sich die Augen mit der Schürze ab. George aß von dem Speck auf seinem Teller, um sie zu versöhnen, doch er hatte kaum Appetit. Er war nervöser, als er sich anmerken ließ. Er wusste, seine Mutter übertrieb nicht, zumal sich auch in den eigenen Reihen Widerstand regte: Einige Bürgerrechtsaktivisten hatten gegen den Freedom Ride Einwände erhoben mit dem Argument, er könne Gewalttätigkeiten provozieren.

»Wirst du lange in dem Bus sitzen?«, fragte Jacky.

»Dreizehn Tage, von hier nach New Orleans. Wir haben jeden Abend Versammlungen und Kundgebungen.«

»Was hast du zu lesen dabei?«

»Die Autobiografie von Mahatma Gandhi.« George fand, dass er mehr über Gandhi wissen sollte, dessen Philosophie die schwarzen Bürgerrechtler zu gewaltfreien Protestaktionen inspiriert hatte.

Jacky nahm ein Buch vom Kühlschrank. »Vielleicht findest du das hier ein bisschen unterhaltsamer. Es ist ein Bestseller.«

Sie hatten immer schon ihren Lesestoff ausgetauscht. Jackys Vater war Literaturprofessor an einem College für Schwarze gewesen; sie war schon als junges Mädchen eine Leseratte. Als George noch klein gewesen war, hatten Jacky und er zusammen die Geschichten über die Bobbsey-Zwillinge und die Hardy Boys verschlungen, auch wenn die Helden in diesen Büchern weiß waren. Jetzt tauschten sie regelmäßig Bücher aus, die ihnen gefallen hatten.

George blickte auf den Roman, den Jacky ihm in die Hand gedrückt hatte. Der durchsichtige Plastikumschlag verriet, dass das Buch in der öffentlichen Bibliothek ausgeliehen war. »Wer die Nachtigall stört«, las er den Titel laut vor. »Der hat doch gerade den Pulitzer-Preis bekommen, oder?«

»Und er spielt in Alabama. Da, wo du hinfährst.«

»Danke, Mom.«

Ein paar Minuten später küsste George seine Mutter zum Abschied, verließ das Haus mit einem kleinen Koffer in der Hand und nahm den Bus nach Washington. Am Greyhound-Busbahnhof in der Innenstadt stieg er aus. Im dortigen Café hatte sich eine kleine Gruppe von Bürgerrechtsaktivisten versammelt. George kannte einige von ihnen aus den Arbeitssitzungen. Es waren Schwarze und Weiße, Männer und Frauen, Alte und Junge. Außer den Riders, die etwa ein Dutzend zählten, waren Organisatoren vom Congress of Racial Equality gekommen, dem Kongress für Rassengleichheit, kurz CORE, außerdem zwei Journalisten von der Negerpresse und eine Handvoll Sympathisanten. CORE hatte beschlossen, die Gruppe zu teilen; die eine Hälfte fuhr mit der Greyhound-Linie, die andere Hälfte würde von der Busstation der konkurrierenden Trailways-Linie auf der gegenüberliegenden Straßenseite losfahren. Weder Transparente noch Fernsehkameras waren zu sehen. Alles war beruhigend still und friedlich.

George begrüßte Joseph Hugo, einen Kommilitonen aus dem...