Die Aula - Roman

von: Hermann Kant

Aufbau Verlag, 2011

ISBN: 9783841202703 , 448 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Aula - Roman


 

[Menü]

 

Aber Robert war schon lange nicht mehr in Paren gewesen. Es gab dort auch kaum noch jemanden, den er näher kannte. Zuerst war Lida fortgegangen und dann seine Mutter. Und Inga war auch nicht mehr in Paren. Inga hatte gewußt, wie alles kommen würde. Als Robert abgefahren war, um ein Student zu werden, hatte sie ihn zum Bahnhof gebracht und ihn immerfort angesehen und in seinem Gesicht etwas gesucht. »Ist etwas?« hatte er gefragt und sich dabei über die Stirn gewischt. Aber sie sah ihn nur weiter so an, und erst als der Zug schon anfuhr, sagte sie: »Was soll schon sein?«

Sie stand mit hängenden Armen neben dem rollenden Zug, und sie weinte, und Robert begriff nicht, warum.

Wegen der lumpigen dreihundert Kilometer braucht sie doch nicht zu heulen, dachte er hilflos, und sonntags komme ich nach Hause, das weiß sie doch!

Zuerst war er auch wirklich fast jedes Wochenende nach Paren gefahren, aber es war doch eine lange und teure Reise, und für Paren blieb immer nur ein kurzer Tag, und wenn es mit dem Anschluß nicht klappte, dann war es nur ein halber Tag. Beim ersten Mal wollte Angelhoff ihn nicht fortlassen. »Wir haben eine Kundgebung«, sagte er, »und du willst dich drücken? So mach nur weiter! Du bist dir wohl nicht im klaren über die historische Bedeutung dieses Tages: Wir feiern die Geburt der Deutschen Demokratischen Republik! Das ist historisch so einschneidend wie die Kanonade von Valmy, und du kommst mit Familiengeschichten.«

»Diese Kanonade kenne ich nicht, aber die Zeitung lese ich auch, und man müßte wohl behämmert sein, wenn man den Beschluß nicht begreift.«

»Begriffe«, sagte Angelhoff.

»Ich will sehen, was mit meiner Schwester ist«, sagte Robert, »sie war immer ein netter Kerl, und sie war schlimm dran, das kannst du mir glauben.«

Angelhoff sagte, er erwarte am Montag einen detaillierten Bericht, und Robert konnte gehen.

Aber in Paren wußten alle nur, daß Lida verschwunden war und in ihrem Zimmer einen Zettel zurückgelassen hatte, auf dem stand, sie sei nach Hamburg gegangen und werde nicht wiederkommen.

Mehr wußte auch Roberts Mutter nicht, und Nußbank, ihr Mann, war ehrlich gekränkt. Habe er nicht immer bewiesen, fragte er, daß er für die Familie alles zu tun bereit gewesen sei und auch für die Kinder; habe er sich etwa nicht als richtiger Vater gezeigt, habe er sich vielleicht jemals vor irgendwelchen Verpflichtungen gedrückt und den Stiefvater hervorgekehrt? Aber dieses Mädchen sei von Anfang an störrisch gewesen und habe kein Ohr gehabt für seine Mahnungen, politisch zu denken und das Fraternisieren sein zu lassen. Und dann diese Unlogik: Weil das Mädchen nicht mit ihrem Sascha nach Osten kann, läuft es nach Westen, den Verbrechern in die Arme. Noch dazu jetzt, wo die Republik gegründet ist! Das muß doch politisch aufgefaßt werden, und das wird einigen Leuten Wasser auf die Mühlen leiten, die nur darauf warten, dem Genossen Nußbank ein Bein zu stellen. »Erwartet nicht, daß ich mich da weiter engagiere; ich habe es schon schwer genug, und außerdem werde ich jetzt Tag für Tag auf den Dörfern sein, um den Bauern die Bedeutung der Stunde einzublasen. Und nun muß ich los, den Klampfenchor für die Kundgebung heute nachmittag auf Trab bringen. – Lieschen, hast du meine Schuhe geputzt?«

Roberts Mutter brachte ihrem Mann die Schuhe, und sie sagte: »Du sollst dich nicht so abhetzen, Ernst, der Klampfenchor ist doch gut, aber das mit Hamburg ist bestimmt nicht politisch. Wenn man darüber nachdenkt, kann man es sogar erklären, warum Lida ausgerechnet da hingelaufen ist. Es ist nicht nur wegen der Verwandtschaft dort. Es ist, weil sie da keine Russen trifft.«

Ernst Nußbank ließ seinen Schnürsenkel fahren und sah sie entgeistert an.

»Guck nicht so«, sagte seine Frau, »es ist doch ganz erklärlich: Wenn ich in den letzten Wochen mit ihr durch die Stadt gegangen bin und irgendwo tauchte eine russische Uniform auf, dann wurden ihre Schritte länger und ihr Hals auch, und wenn sie nahe genug ran war, dann sackte sie richtig zusammen: kein Sascha. Das hält man doch nicht lange aus, und in Hamburg gibt es keine Russen.«

»Leider«, sagte Nußbank.

»Schön, leider«, sagte seine Frau, »aber es ist so, und darum ist das mit Lida nicht politisch.«

Nußbank versuchte, ihr zu erklären, daß alles politisch sei, aber als Robert ihn an den Klampfenchor erinnerte, hatte er keine Zeit mehr.

Nachdem er gegangen war, sagte Roberts Mutter: »Jetzt hab ich dich noch gar nicht gefragt, wie dir das Studium gefällt. Strengt es auch nicht zu sehr an? Kriegt ihr ordentliches Essen? Ich habe dir noch Bettzeug zurechtgelegt, das nimmst du mit. Habt ihr nette Lehrer? Haben sie schon gemerkt, wie gut deine Aufsätze sind? Wenn dein Vater das noch erlebt hätte, daß sein Junge studiert, ich glaube, er hätte vor Freude geheult. Ach, dein Vater …«

Jetzt weinte sie, und Robert hatte Mühe, sie zu beruhigen, und dann lieh er sich das Rad von ihr und fuhr nach Bardekow zu Inga.

Unter dem offenen Fenster der Bodenkammer, in der Ingas Mutter wohnte, pfiff er und wartete.

Inga kam aus dem Haus und ging durch das Dorf bis zum Ellernteich.

Robert hatte zuerst versucht, ihr die Heimlichtuerei auszureden, aber er hatte nichts damit erreicht.

Sie hatte ein schwarzes Kostüm an, und Robert fragte: »Willst du in die Kirche?«

»Ich war schon.«

»Krieg ich trotzdem einen Kuß?«

»Versuch’s mal.«

»Hm, du schmeckst gut. Du müßtest öfter in die Kirche gehen.«

»Der Pastor hat gesagt, ihr wollt Deutschland auslöschen.«

Robert breitete seine Uniformjacke über einen Baumstumpf und setzte sich. »Komm her«, sagte er, »und sag mir: Glaubst du das? Glaubst du, daß ich Deutschland auslöschen will?«

Sie setzte sich neben ihn und sagte: »Du nicht«, aber sie sah ihn nicht an dabei.

Robert drehte sie zu sich herum: »Nun nicht drücken. Eben hast du ›ihr‹ gesagt, und jetzt willst du mich ausnehmen. Das mußt du doch wissen, daß du mich nicht ausnehmen kannst. Ich gehöre dazu, und ›ihr‹ ist schon richtig, aber ›Deutschland auslöschen‹, das ist Quatsch. Euer Pastor ist entweder blöde oder gefährlich.«

»Jetzt sagst du auch ›ihr‹«, sagte Inga, »ich sage ›ihr‹, und du sagst ›ihr‹, und für ›du‹ und ›du‹ scheint kein Platz zu sein. Was soll das werden?«

»Setz dich näher.«

Aber als Inga sich nicht rührte, sagte Robert: »Wenn der Pastor großzügig mit der biblischen Geschichte umspringt, dann nehme ich ihm das nicht übel, er war ja nicht dabei, aber hier war er doch dabei, hier hat er mit beiden Augen zusehen können, und wenn er jetzt so etwas sagt, dann heuchelt er einfach, siehst du das nicht?«

Inga sagte: »Laß uns nicht mehr davon reden.«

Sie gingen zur Chaussee zurück, und bald alberten sie herum, und als Inga eine vergessene Kartoffel aufgelesen hatte, versuchten sie, mehr davon zu finden, und sie erzählten dabei Geschichten von Feuern, die sie als Kinder angezündet hatten auf den Äckern vor Königsberg und in einem Garten bei Hamburg, und sie flunkerten von der Größe der Kartoffeln und ihrem Marzipangeschmack, »aber, ätsch, bei uns gab es solche, die schmeckten nach Kakao, und statt mit grünen Bohnen konnte man sie auch mit Vanillesoße essen«; doch das war noch gar nichts, denn bei dem anderen hatte es welche gegeben, wenn man die einer Glucke zum Brüten unterlegte, dann kamen am Ende Kücken heraus – es dauerte etwas länger als bei Eiern, weil es ja Kartoffeln waren, und die Kücken waren Perlhuhnkücken –, nur auf dem Acker vor Ingas Dorf fanden sie nichts mehr, und anders wäre es auch ein Wunder gewesen.

Robert zog sein Rad aus dem Gebüsch am Ellernteich, und er saß schon im Sattel, als Inga sagte: »Es sind Fragebogen ausgegeben worden für das Abitur im nächsten Jahr. Da wird gefragt, ob wir Verwandte im Ausland haben. Muß ich da jetzt reinschreiben: Ja, einen Bruder in Göttingen und in Bayern zwei Tanten? Seit dem siebenten Oktober neunzehnhundertneunundvierzig, ja?«

Robert lehnte das Rad an eine Pappel und sagte: »Was für ein Unsinn, das ist doch nur ein Übergang …«

»Von wo nach wo? Von Deutschland nach Rußland und Amerika?«

»Nein, von … ach … Verflucht noch mal, du siehst das alles mit ich weiß nicht wessen Augen. Nimm doch mal deine Augen, was hast du denn in deinen zwanzig Jahren von diesem Deutschland gesehen, um das du jetzt...