Das verlorene Land - Roman

von: John Birmingham

Heyne, 2011

ISBN: 9783641053970 , 752 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Das verlorene Land - Roman


 

01
New York
»Nein, Mr. President, die kriegt man nicht vom Kätzchenkraulen.«
James Kipper nickte und lächelte zweifelnd, als der breitschultrige Arbeiter seine Oberarmmuskeln anspannte und jedem davon einen Kuss aufdrückte. Seine Sicherheitsleute schienen nicht weiter beunruhigt zu sein. Kipper achtete inzwischen ganz automatisch auf ihre unausgesprochenen Signale und ihre Körpersprache. Sie schienen von den Arbeitern dieser Bergungsmannschaft weniger beunruhigt als von den zerstörten Fassaden der Bürohäuser von Manhattan, zwischen denen sich die verrosteten Überreste einer Massenkarambolage türmten. Es war heiß und feucht, wie immer im Juni, und der Arbeiter war völlig durchgeschwitzt. Auch Kipper spürte, dass sein Hemd am Rücken klebte.
Nachdem er seine Ballonmuskeln liebkost hatte, streckte der Arbeiter eine seiner gigantischen, schwieligen Pranken aus, um dem 44. Präsidenten der USA die Hand zu schütteln. Kippers Lächeln war nicht mehr so breit wie einst, und es war bestimmt nie so breit gewesen wie das von diesem Gorilla, aber seine Jahre bei den Stadtwerken hatten seine Finger nicht kraftlos und seinen Händedruck nicht schlapp werden lassen. Er erwiderte die eisenharte Umklammerung mit einem immerhin bemerkbaren kräftigen Zudrücken.
»Donnerwetter, Mr. President«, sagte der Arbeiter scherzhaft. »Vorsicht, ich brauche meine Wurstfinger noch für meinen Nebenjob als Konzertpianist.«
Die Männer und Frauen, die Kipper umringten, grinsten und kicherten. Der Typ war ganz offensichtlich der Witzbold dieser Truppe.
»Ein Konzertpenis?«, gab Kipper zurück. »Ist das was Neues? Geht das denn, ohne dass man diese hübschen kleinen Klaviere ruiniert?«
Karen Milliner, seine Medienreferentin, stöhnte laut auf, wurde aber von dem vielstimmigen heißeren Gelächter der Räumungsarbeiter übertönt, die sich kaum noch einkriegen konnten. Das machte seine Sicherheitsleute ein bisschen nervös, aber der Riese, der so gern seine Muskeln abknutschte, übertönte alle anderen, als er auf den Staatschef deutete und laut brüllte. »Dieser verdammte Kerl hat mich echt überrumpelt. Das ist der beste verdammte Scheißpräsident, den wir je hatten!«
Kipper befürchtete schon, der Riese könnte ihn aus lauter Übermut in den Schwitzkasten nehmen. Dann wären die Sicherheitsleute aus gutem Grund nervös geworden.
Aber nach ein paar Minuten legte sich der Begeisterungsausbruch wieder.
Nur eine Frau war die ganze Zeit über ziemlich reserviert geblieben. Seine Sicherheitsbeamten hatten sie sicherlich schon bemerkt und behielten sie im Blick, auch wenn man ihre Augen wegen ihrer dunklen Sonnenbrille nicht sehen konnte. Kipper bemerkte den Blick der Frau und lächelte ihr milde amüsiert zu. Ganz offensichtlich gehörte sie nicht zu diesen Raubeinen. Sie hatte feine Gesichtszüge und sah nicht aus wie jemand, der Tag für Tag schwere körperliche Arbeit leistete. Immer wieder stellte er auf seinen obligatorischen Rundreisen fest, dass die »Schaulustigen«, wie seine Tochter sie nannte, ihn in ihren Bann zogen. Die ganze Nation bestand aus Entwurzelten und Verlorenen, und jeder Einzelne hatte seine eigene Geschichte. Es wäre sicherlich spannend zu erfahren, wie der Muskelmann und diese stille Frau dort in die verwilderten Straßenschluchten von New York gekommen waren, drei Jahre, nachdem die zerstörerische Energiewelle genauso rätselhaft, wie sie gekommen war, auch wieder verschwand.
»Mr. President«, sagte Karen Milliner, »wir müssen weiter. Der Terminplan, Sie wissen schon.«
Die Bemerkung der Leiterin der Kommunikationsabteilung, von ihm klammheimlich auch »nervige PR-Tante« genannt, riss ihn aus seinen Gedanken. Er nickte und lächelte den Arbeitern entschuldigend zu.
»Tut mir leid, Jungs. Ich bin genau wie ihr nur ein Diener der Gesellschaft, und meine Chefin hier …« Er deutete mit dem Daumen auf Karen Milliner. »… meint, dass ich wieder zurück an die Arbeit soll.«
Die kleine Gruppe buhte ein bisschen, klatschte aber Beifall, als er ihnen zum Abschied zuwinkte und davonging. Seine Sicherheitsleute folgten ihm wie Schatten. Rufe wie »Danke, Mr. President« und »Weiter so, Kip« folgten ihm, während er weiter über den Friedhof schritt, der einstmals das große Amerika gewesen war.
Bald schon umfing sie wieder das leere Grauen der Ruinen. Schutt und Asche knirschte unter ihren Sohlen, als die Gruppe sich einen Weg durch die verwüstete Wall Street bahnte. Nur das Gurren der Tauben war zu hören. Die Vögel waren als eine der typischen Plagen der Stadt wieder zurückgekehrt. Die Erholung des Ökosystems innerhalb des Einzugsgebiets des Effekts schien alle wissenschaftlichen Prognosen Lügen zu strafen. Büsche und Bäume säumten die Straßen. Das Dröhnen der Kettensägen vermischte sich mit dem metallischen Krachen des schweren Räumgeräts. Eine Menge Arbeit in Manhattan und anderswo bestand darin, Schneisen ins Dickicht zu schlagen, um zu den ausgebrannten Gebäuden oder ineinander verkeilten Schrottautos vorzudringen. Hier sah es nicht so aus wie in den verkohlten Wüsten, die der Feuersturm in weiten Flächen von Nordamerika hinterlassen hatte. Hier gab es Leben, zumindest von einer bestimmten Art. Er roch den Duft des frisch gefällten Holzes. Anscheinend wollte New York sich wieder in seinen einst stark bewaldeten Urzustand zurückverwandeln.
Nachdem er die deftigen Sprüche der Abbruchtruppe hinter sich gelassen hatte, versank Kipper in seinen eigenen Gedanken. Er entdeckte einen Lieferwagen mit der Werbung für »Mister Softee«-Eiskrem, der in den Eingang der Citibank an der Ecke Front und Wall Street gerast war. Unter ihm lagen zwei verbeulte Fahrräder. Die vergammelten Kleidungsstücke der verschwundenen Radfahrer waren von spitzen Glasscherben aufgeschlitzt worden. Aber sie waren eben nicht bei einem Autounfall zu Tode gekommen, erinnerte er sich, sondern einfach verschwunden, von einem Moment zum nächsten, genau wie alle anderen Bewohner der Stadt. Genau wie alle anderen Menschen in Amerika, damals vor vier Jahren.
»Hier war der Verkehr wohl nicht so stark«, sagte er zu Jed Culver, nur um irgendwas zu sagen. »Nicht wie in der … wie hieß die letzte Straße, die wir überquert haben, wo die Räumungsarbeiten stattfinden?«
»Water Street, Sir«, sagte einer seiner Sicherheitsleute. Er war neu hinzugekommen. Kipper kannte seinen Namen nicht, aber er hatte einen New Yorker Akzent. Wer weiß, was im Augenblick in seinem Kopf vorging.
»Die meisten Autos waren geparkt, als der Effekt kam«, fügte Culver hinzu. »Hier waren vor allem Fußgänger unterwegs und Fahrradfahrer, Gesundheitsfanatiker und solche Leute. Auf der Water Street war mehr los.«
Culvers Südstaatentonfall hatte einen leichten Louisiana-Touch, der sich nach einigen Auslandsaufenthalten abgeschwächt hatte. Nun schwieg er angesichts dieser gigantischen Nekropolis, in der Millionen von Menschen verschwunden waren, es war einfach zu bedrückend. Kipper wandte sich ab und ließ seinen Blick durch die schattige Häuserschlucht schweifen, die einstmals das Finanzzentrum der Welt gewesen war. Zwischen Water und Wall Street erstreckte sich ein Schrottplatz aus gelben Taxis, Privatautos und einem gepanzerten Lieferwagen, der von einem Lastwagen erfasst und umgestoßen worden war. Der Aufprall hatte die Hecktüren aufgerissen, und man konnte die sandfarbenen Säcke sehen, die herausgefallen waren und in denen sich die alten, jetzt wertlosen Geldscheine befanden. Niemand interessierte sich mehr für dieses Geld, das längst von einer neuen Währung namens New American Dollar ersetzt worden war. Sie drehten um und gingen wieder in Richtung des schweren Räumgeräts, der Presslufthämmer und des dröhnenden Lärms.
Das waren die lautesten Geräusche in der Stadt.
Kipper schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie«, sagte er. »Gehen wir weiter.«
An der Ecke, wo das Gebäude der JP Morgan Bank stand, konnte man einen Blick auf die verwitterte Fassade der New Yorker Börse werfen. Eine große, schmutzige und zerfetzte amerikanische Fahne hing schlaff zwischen den römischen Säulen des neoklassischen Portals, das von Weinranken und Nylonseilen überzogen war. Kipper war nie in der Wall Street gewesen, nicht mal in New York. Auf Fotos hatte diese Straße immer viel größer gewirkt. Aber nun stand er hier vor dem Gebäude, das einst den mächtigen Motor des globalen Kapitalismus beherbergt hatte, und es kam ihm klein, beinahe sogar mickrig vor.
Am Ende der Straße entdeckte er eine Art Kirche, die zwischen den Wolkenkratzern sehr unscheinbar aussah. Kipper war nicht religiös, aber der Anblick des Kirchturms stimmte ihn noch melancholischer, machte ihn beinahe depressiv. Mehr als nur ein paar Wirrköpfe hatten den Effekt als das Ende der Welt interpretiert. Er selbst allerdings glaubte, dass es eine rationale Erklärung für die schreckliche Katastrophe geben musste.
Aber welche Erklärung das sein könnte, wusste niemand.
Er seufzte tief.
Die Delegation war sehr klein. Nur Kipper, Jed Culver, seine Stabschefin Karen Milliner und ein halbes Dutzend Sicherheitsleute in dunklen Overalls und mit Kampfausrüstung gehörten dazu. Die konnte man einfach nicht loswerden. Jede Menge Plünderer suchten zurzeit die Ostküste heim und nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war, angefangen bei Sportwagen und schwerem Gerät bis hin zu Computer-Spielkonsolen und Schmuck. Kipper musste oft an die alten Ureinwohner Amerikas denken und ihr Schicksal, als die Europäer auftauchten. Auch jetzt war der ganze Kontinent reif für eine Übernahme, und niemand in der...