Reiterhof Eulenburg - Mondscheingeflüster - Band 4

von: Charlotte Link

Baumhaus, 2010

ISBN: 9783838706863 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 5,99 EUR

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Reiterhof Eulenburg - Mondscheingeflüster - Band 4


 

Die junge Stute hatte schreckgeweitete Augen, aus denen sie unruhig, fast hysterisch, um sich blickte. Sie schwitzte heftig, das Fell am Hals war schwarz vor Nässe. Immer wieder stampfte sie mit den Füßen, ließ ein leises, verzweifeltes Wiehern hören. Ganz offensichtlich litt sie unter heftigen Schmerzen. Wer den unförmig geschwollenen Leib betrachtete, wusste: Die braune Lucia mit dem schönen weißen Stern auf der Stirn hatte eine schlimme Kolik.

In der Eulenburg, dem Ferien-Reiterhof an der Nordsee, brannten in dieser kühlen Aprilnacht alle Lichter. In Windeseile hatte es sich bei den jugendlichen Gästen, die ihre Osterferien hier verbrachten, herumgesprochen, dass eines der Pferde erkrankt war, und natürlich mochte jetzt niemand mehr schlafen. Alle hatten sie hinüber in den Stall gewollt, aber Frau Andresen, die Besitzerin des Hofes, hatte sie sofort abgefangen und zurückgeschickt.

»Bitte, legt euch wieder in eure Betten. Es geht Lucia sehr schlecht, aber sicher dreht sie vollkommen durch, wenn sich plötzlich eine Schar aufgeregter Menschen vor ihrer Box drängelt. Seid vernünftig. Wir tun alles, was wir können. Der Tierarzt muss gleich kommen.«

Im Stall waren jetzt nur Frau Andresen, ihr Sohn Tom und Pat, eines der Mädchen, das hier zu Besuch war. Pat zählte schon zu den Stammgästen, und seit über einem Jahr war sie mit Tom eng befreundet. Sie verstand sehr viel von Pferden und konnte wunderbar mit ihnen umgehen. Jetzt hatte sie eine Hand ganz leicht auf Lucias Nase gelegt und redete leise auf sie ein. Tatsächlich wurde die Stute etwas ruhiger. Aber dann versuchte sie - zum dritten Mal in den vergangenen fünf Minuten -, die Beine einknicken zu lassen und sich hinzulegen. Tom konnte sie gerade noch daran hindern. Lag sie erst, würde es äußerst schwierig sein, sie wieder aufzustellen, er wusste, dass sich ein Pferd mit Kolik niemals und unter keinen Umständen hinlegen darf.

»Wir gehen jetzt doch hinaus«, bestimmte Pat, »und führen sie im Hof herum. Sie muss sich bewegen. Wo ist denn ihr Halfter?«

Frau Andresen gab es ihr. Sie sah blass und verärgert aus.

»Ich werde Klaus gleich morgen früh entlassen«, sagte sie. »Es reicht mir jetzt. Die ganze Zeit schon bringt er hier alles durcheinander, aber das ist jetzt wirklich der Gipfel. Und bezeichnenderweise ist er nicht einmal zur Stelle!«

Klaus war ein junger Mann aus dem nahen Dorf, ein netter, aber vollkommen unzuverlässiger und leichtsinniger Bursche, der keinen Job länger als eine Woche behielt. Seine Mutter hatte sich bei Frau Andresen in der Eulenburg für ihn eingesetzt und tatsächlich erreicht, dass er dort probeweise als Pferdepfleger eingestellt wurde. Seitdem klappte hier nichts mehr. Klaus erschien entweder überhaupt nicht zur Arbeit, oder er tat völlig andere Dinge als die, die ihm aufgetragen waren. Er wollte eigentlich nichts Böses anstellen, aber alles, was man ihm sagte, ging zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus, und er konnte sich nichts merken. Frau Andresen hatte ihm hundertmal gesagt, dass Lucia zu Koliken neigte und nur ganz wenig Gras bekommen durfte, aber bevor er heute auf seinem Motorrad in die Disko abgebraust war, hatte er die ganze Futterkrippe überquellend mit Gras gefüllt, mit frischem Frühlingsgras, das zudem noch feucht war. Wahrscheinlich hatte er es auch noch gut gemeint, denn er liebte Pferde und fütterte sie grundsätzlich zu üppig.

Bei aller Sympathie für den liebenswerten und leichtsinnigen jungen Mann, das musste ein Ende haben!

Es war Pat gelungen, Lucia das Halfter überzustreifen. Das Pferd zitterte jetzt am ganzen Körper, schien aber Tom und Pat zu vertrauen. Jedenfalls ließ es willig alles mit sich geschehen. Frau Andresen, die die beiden jungen Leute beobachtete, dachte, wie gut sie doch zueinander passen und wie gut sie sich verstehen. Tom war vor wenigen Tagen sechzehn geworden, er sah schon sehr erwachsen aus und benahm sich meistens auch so. Viele der weiblichen Feriengäste verliebten sich in ihn, aber er sah nur Pat. Sie war ein knappes Jahr jünger als er und so zierlich und klein, dass sie ihm gerade bis zur Schulter reichte. Pat ließ sich von niemandem etwas vorschreiben und reagierte mit wütendem Trotz auf jeden Versuch, sie in irgendeiner Form einzuengen oder zu gängeln. Nur Tom konnte manchmal bei ihr etwas erreichen; auf ihre spröde, eigensinnige Art hing sie sehr an ihm. Ihre unverbrüchliche Treue gegenüber Lebewesen, die sie sich einmal auserkoren hatte, wirkte fast rührend. Ob es sich um ihren Hund Tobi handelte, ohne den sie keinen Schritt tat, oder um ihr Pferd Fairytale, das sie immer mit auf die Eulenburg brachte, ob es um Tom ging oder ihre anderen Freunde: Pat hätte sich für jeden von ihnen vierteilen lassen.

Sie führten Lucia auf den Hof. Die Aprilnacht war klar, die Wolken vom Tag hatte der Wind hinweggefegt. Sterne blitzten, der Mond, beinahe voll und unverdeckt, tauchte das Land in ein blassgelbes Licht. Man konnte über die flachen Wiesen bis hin zu den Deichen blicken, hinter denen das Meer lag und auf denen die großen wolligen Winterschafe grasten.

Lucias Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Sie atmete keuchend, hatte es aber, für den Moment wenigstens, aufgegeben, sich hinlegen zu wollen.

»Kopf hoch, Lucia«, sagte Pat. »Nicht schlappmachen. Wir kriegen das schon!«

Im selben Moment tauchten Scheinwerfer auf, die sich rasch dem Hof näherten. Ein Auto. Der Tierarzt kam endlich.

Oben, in einem der Schlafräume, saßen vier junge Leute beieinander und starrten vor sich hin. Angie und Diane Heller, die beiden Schwestern aus Kiel, die jedes Jahr in die Eulenburg kamen, Chris, Toms bester Freund, dessen Eltern ganz in der Nähe eine Ferienpension betrieben, und natürlich Kathrin, ebenfalls schon zum vierten Mal in der Eulenburg, obwohl sie, wie die anderen fanden, gar nicht hierher gehörte. Kathrin stand kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Sie war sehr hübsch, aber ein bisschen hochnäsig, das einzige Kind reicher Eltern, das zu oft von Gleichaltrigen abgeschottet worden war. Nun versuchte sie, ihre Kontaktschwierigkeiten durch wilde Angebereien zu vertuschen, wie Diane einmal altklug bemerkt hatte.

Auch jetzt bemühte sich Kathrin um eine gelassene Miene.

»Ich verstehe nicht, weshalb ihr euch wegen dieses Pferdes so verrückt macht«, sagte sie, »als ob die meisten Pferde nicht schon einmal eine Kolik gehabt hätten. Und sie haben es auch überstanden!«

»Du redest, als hättest du den Pferdeverstand mit Löffeln gefressen«, sagte Angie ärgerlich.

Sie konnte Kathrin am wenigsten leiden und fand, dass diese mindestens einmal pro Woche richtig zurechtgeschüttelt werden musste.

»Es sind schon Pferde an Koliken gestorben«, fügte sie nun hinzu, »auch wenn Fräulein Neunmalklug davon noch nichts gehört hat!«

»Nun, ich …«, begann Kathrin, aber Chris unterbrach sie.

»Jetzt streitet nicht. Es ist schon nach Mitternacht, und ich glaube, keiner von uns hat jetzt Lust auf einen Krach!«

»Du kannst ja gehen«, sagte Kathrin sofort. »Um diese Zeit hast du ohnehin nichts in unserem Schlafzimmer zu suchen!«

Chris hatte schon den ganzen Tag mit seinen Freunden verbracht, war mit ihnen geritten und später am Meer spazieren gegangen. Sie hatten sich aufgeregt und voller Vorfreude über die Fuchsjagd unterhalten, die am nächsten Tag stattfinden sollte: keine richtige Fuchsjagd natürlich, sondern eine Schnitzeljagd zu Pferd, bei der es darum ging, den als ersten gestarteten Reiter aufzustöbern und ihm das Band zu entreißen, das er an seinem Arm befestigt trug - den Fuchsschwanz.

Ohne auf Kathrins Worte einzugehen, sagte Chris nun: »Die Fuchsjagd morgen können wir wahrscheinlich vergessen. Außerdem hätten wir sowieso keinen Spaß daran, wenn eines der Pferde so krank ist!«

»Oder gestorben ist«, setzte Angie düster hinzu.

Ein paar Minuten schwiegen alle.

»Jetzt haben wir in all den Ferien schon so viel erlebt«, sagte Diane schließlich, »aber noch nie etwas richtig Trauriges. Wenn Lucia stirbt, dann sind das die ersten schrecklichen Ferien!«

Sie hatten wirklich schon eine Menge erlebt. Immer wenn sie zusammenkamen, Angie und Diane, Pat, Tom und Chris und notgedrungen auch Kathrin, stolperten sie in irgendeine verrückte und gefährliche Geschichte. Eine Diebesbande hatten sie schon zur Strecke gebracht und einer zwielichtigen Familie das Handwerk gelegt, die vor keinem Mittel zurückschreckte, um in den Besitz eines vermeintlichen Schatzes zu gelangen. Und im letzten Sommer, auf Teneriffa, waren sie skrupellosen Tierfängern in die Quere gekommen, die mit Papageien, Elfenbein und Raubkatzenfellen handelten. Damals hatten sie ganz schön in der Klemme gesessen und waren erst in letzter Sekunde davongekommen. Aber Diane hatte recht: Etwas richtig Trauriges war nie passiert.

Tobi, Pats Hund, der bei Angie auf dem Bett lag, hob den Kopf und bellte leise. Die trübe Stimmung schien ihn angesteckt zu haben. Er war ein gewaltiger Hund geworden, grau-braun-schwarz gefärbt, zottelig und von undefinierbarer Rasse. Um den Hals herum verdichtete sich sein Fell zu einer dicken Krause, wie bei einem Löwen. Seine großen weißen Pfoten lagen wie unschuldig gefaltet übereinander.

Angie kraulte ihn unter dem Kinn. »Ja, du wunderst dich, wo Pat ist. Du kannst jetzt nicht zu ihr, das würde Lucia nervös machen. Verstehst du?«

Tobi verstand nicht, sah Angie aber aufmerksam an. Kathrin schüttelte ihre soeben frisch gelackten Nägel.

»Ich finde nicht, dass wir in unseren Ferien schon so viel erlebt haben«, sagte sie. »Als ich an Weihnachten mit meinen Eltern in New York war, habe ich weiß Gott ein ganz anderes Abenteuer durchgestanden, das kann ich...