Das Geheimnis des letzten Moa - Neuseelandsaga

von: Laura Walden

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783838702339 , 528 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das Geheimnis des letzten Moa - Neuseelandsaga


 

AUCKLAND/DUNEDIN, 11. FEBRUAR 2009


Wie sehr hatte sich Grace Cameron auf ein Wiedersehen mit Barry Tonka gefreut! Doch nun stand sie bereits seit über einer Stunde in der Ankunftshalle des Aucklander Flughafens und wartete noch immer auf ihn. Zum wiederholten Mal kramte sie in ihrer Umhängetasche nach dem Ausdruck seiner letzten E-Mail. Aber da stand es schwarz auf weiß:

Hole dich in Auckland am Flughafen ab, babe, kua aroha au kia koe. Ich liebe dich. B.

Grace vergewisserte sich noch einmal, dass sie ihm auch die richtigen Ankunftsdaten geschickt hatte, aber auch die waren korrekt. Lande Mittwoch, 11. 2., um 13:50, hatte sie ihm mitgeteilt. An ihrer Kommunikation konnte es also nicht liegen, dass Barry nicht auftauchte. Was sollte sie bloß tun?

Grace versuchte, die Fassung zu bewahren. Das war gar nicht so einfach. Schließlich hatte sie gerade einen über zwanzigstündigen Flug hinter sich gebracht – dabei hasste sie das Fliegen -, und ihre innere Uhr wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ihr taten die Knochen weh, weil sie versucht hatte, in allen nur erdenklichen Positionen ein wenig zu schlafen. Außerdem summten die fremden Stimmen um sie herum wie ein Bienenschwarm, und ihr war noch immer übel von dem Essen an Bord. Beim dritten Frühstück – wieder Omelett mit Käse – hatte sie sich beinahe übergeben müssen. Und dann diese endlose Schlange, um in das Land einreisen zu dürfen. Der Höhepunkt aber war die Sache mit dem Apfel gewesen, den sie in der Handtasche vergessen hatte. Die Zöllnerin hatte sie angesehen, als wolle sie die Pest einschleppen, hatte sich Plastikhandschuhe übergestreift und den Apfel mit spitzen Fingern in einem Container entsorgt. »Sie hätten unsere Einreisebestimmungen lesen sollen«, hatte sie dabei gezischt und vorwurfsvoll auf ein überdimensioniertes Schild gedeutet, auf dem vor der Einfuhr von Lebensmitteln streng gewarnt wurde. Die Frau kannte offenbar kein Erbarmen mit jemandem, der um die halbe Welt gereist war. Und wozu das alles? Um vergeblich auf einen Mann zu warten, den sie kaum kannte?

Vielleicht hat Vater ja gar nicht so unrecht, und sein Heimatland besteht wirklich nur aus ein paar Wiesen mit Schafen, wo lediglich verschrobene Hinterwäldler leben, ging es Grace durch den Kopf, während sie erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr warf. Noch immer hatte sie seine Stimme im Ohr: Was treibt dich bloß zu den Kiwis, wenn du keinen Schafzüchter heiraten, keine Treckingtouren machen und kein Speedboot fahren willst?

Grace stieß einen tiefen Seufzer aus. Ihr Vater hatte ihr die Reise bis zuletzt ausreden wollen und nicht mit zynischen Bemerkungen gespart. Es war ihm ganz offensichtlich unbegreiflich, dass sie wegen eines Urlaubsflirts so eine Strapaze auf sich nehmen wollte.

Von ihrem beruflichen und mindestens ebenso gewichtigen Grund für diese Reise hatte sie ihm nichts erzählt. Ihr Verhältnis war derzeit nicht das beste. Wer weiß, was er dazu gesagt hätte, dass ich eine Einladung dieser neuseeländischen Professorin in der Tasche habe, dachte Grace.

Dad, du bist doch selbst ein Kiwi, hatte sie mehrfach eingewandt, wenn er sich wieder einmal abfällig über sein Heimatland äußerte.

Eben drum, hatte Ethan Cameron unwirsch erwidert.

Doch seit Grace in der Schule einmal ein Bild von Neuseeland gesehen hatte, war sie fest entschlossen, eines Tages in die Heimat ihres Vaters zu reisen, ob es ihm nun passte oder nicht! Es zog sie geradezu magisch nach Aotearoa, in jenes ferne Land der weißen Wolke am anderen Ende der Welt. Und nun hatte sie gleich zwei gute Gründe, um sich diesen Traum zu erfüllen.

Ihr Vater war nicht mehr in Neuseeland gewesen, seit er mit ihrer Mutter Claudia, die dort als Au-pair-Mädchen gearbeitet hatte, nach Deutschland ausgewandert war. Und das lag nun schon über siebenunddreißig Jahre zurück.

Lange hatte Grace geglaubt, ihre Eltern hätten nur geheiratet, weil ihre Mutter mit ihr schwanger gewesen war, denn Claudia und Ethan hatten sich nie besonders gut verstanden. Claudia hatte ihren Mann über alles geliebt, keine Frage, aber Grace wagte zu bezweifeln, dass er ihre Liebe erwidert hatte. Sonst hätte sich Claudia niemals so etwas Entsetzliches angetan. Noch immer drehte sich Grace der Magen um bei dem Gedanken, wie ihre Mutter gelitten haben musste, um nur noch den einen, den letzten Ausweg zu sehen. Und nun konnte sie Claudia nicht einmal mehr fragen: Warum habt ihr beiden überhaupt geheiratet, wenn es gar nicht meinetwegen war?

Inzwischen wusste Grace nämlich, dass Claudia niemals mit ihr schwanger gewesen war, eine schmerzliche Wahrheit, die sie zu verdrängen suchte. Manchmal wünschte Grace, Claudia hätte in ihrem Abschiedsbrief verschwiegen, dass sie adoptiert war. Auch Ethan hatte getobt, als er das Schreiben gelesen hatte: »Warum hat sie das nur getan? Warum?«, hatte er verzweifelt ausgerufen. Der Selbstmord seiner Frau hatte ihn ebenso aus der Fassung gebracht wie das Geständnis Grace gegenüber, dass sie nicht ihre leibliche Tochter, sondern ein Adoptivkind war.

»Wer sind denn meine Eltern?«, hatte Grace Ethan im ersten Schock angeschrien. »Verdammt noch mal, wer sind meine Eltern?«

Ethan hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Wir haben dich kurz nach unserer Hochzeit bekommen und sind dann mit dir nach Berlin gezogen. Woher soll ich wissen, wer diese Leute sind? Das sagen einem die Behörden nicht.« Bei diesen Worten war er rot angelaufen.

Daher ahnte Grace, dass er sie belogen hatte, doch sie hatte beschlossen, ihre Herkunft nicht weiter zu ergründen. Sie hatte seelisch genug zu verkraften mit dem, was ihr die beiden Menschen angetan hatten, die sie bislang wie Eltern geliebt hatte. Erst hatte Ethan Claudia wegen einer jungen Frau verlassen, und dann hatte sich Claudia aus dem Leben gestohlen und ihre Tochter mit ihrem Kummer alleingelassen. Das war nicht fair. Grace fröstelte.

Eine tiefe männliche Stimme riss sie aus den Gedanken. »Entschuldigen Sie bitte, kann ich Ihnen helfen? Sind Sie vielleicht Grace Cameron?«

Erstaunt bemerkte Grace einen gut aussehenden Mann Mitte dreißig, der ziemlich verlegen wirkte. »Woher kennen Sie meinen Namen?«, wollte sie wissen.

»Mein Bruder, also, der hat mich gestern angerufen und mich gebeten, Sie bis nach Dunedin mitzunehmen.«

Grace musterte den Fremden eindringlich. Ganz entfernt hatte ihr Gegenüber eine gewisse Ähnlichkeit mit Barry Tonka. Er war zwar größer und schlanker als Barry und besaß ein schmaleres Gesicht, aber wenn man genau hinsah, waren die typischen Maorizüge in seinem Gesicht unverkennbar. Besonders der ausgeprägte und schön geschwungene obere Lippenbogen verriet seine Herkunft.

»Sie sind Barrys Bruder?«, fragte sie zögernd.

Der Maori nickte.

»Er hat versprochen, mich in Auckland abzuholen. Ich hab’s sogar schriftlich.« Der Vorwurf in ihrer Stimme war unüberhörbar.

Der Fremde streckte ihr trotzdem freundlich seine Hand entgegen und lächelte sie gewinnend an. »Ich bin Hori, du kannst aber auch George zu mir sagen.«

Grace rang sich ein Lächeln ab. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Was hatte das zu bedeuten, dass er ihr seinen Bruder schickte? »Warum holt er mich nicht selbst ab? Ich bin nicht um den halben Erdball geflogen, bloß um von ihm versetzt zu werden.«

Sie war entsetzlich erschöpft und hatte sich so danach gesehnt, endlich von Barry umarmt zu werden. Ihre Enttäuschung ließ sich einfach nicht verbergen. Aber im selben Augenblick bedauerte sie bereits, dass sie ihren Ärger an seinem Bruder ausgelassen hatte.

Hori räusperte sich verlegen. »Barry hat sich gestern nicht besonders wohlgefühlt und mich angerufen. Ich war auf einer Tagung in Auckland und bin auf dem Rückweg nach Hause.« Erst jetzt bemerkte Grace seinen Rucksack. »Deshalb hat er mich gebeten, dich vom Flughafen abzuholen und mit dir nach Dunedin zu fliegen.«

»Fliegen? Er hat gesagt, er holt mich mit dem Wagen ab, und wir reisen erst mal durch das Land.« In ihrer Stimme schwang Ärger mit.

»Sorry, aber Barry ist schon anderweitig verplant. Er kann nicht weg wegen seines neuen Jobs. Er hat doch gerade erst in der Kneipe angefangen …«

»Kneipe? Ich denke, er hat einen Laden?«

Hori trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Das wird er dir bestimmt alles selbst erzählen, wenn ihr euch seht. Er freut sich jedenfalls schon riesig auf dich. Er hat mir gesagt, ich soll dich ja wohlbehalten zu ihm bringen.«

Diese Antwort befriedigte Grace ganz und gar nicht, aber sie wollte Hori nicht weiter bedrängen, dem die Situation sichtlich unangenehm war.

»Darf ich deinen Koffer tragen?«, fragte er nun höflich. »Wir sollten den nächsten Bus zum Inland-Airport nehmen, denn der Flieger geht bereits in zwei Stunden.« Er überreichte ihr ein Ticket. »Das habe ich schon mal besorgt. Nicht dass nachher alles ausgebucht ist«, erklärte er fast entschuldigend.

»Danke, das ist wirklich lieb«, erklärte Grace hastig. Sie blickte ihn offen an. »Es tut mir leid, dass ich meinen Frust an dir ausgelassen habe, aber weißt du, der lange Flug … Und ich habe mich so darauf gefreut, Barry endlich wiederzusehen.«

Hori nickte verständnisvoll, nahm ihr den Koffer ab und bat sie, ihm zu folgen.

Vor dem Flughafengebäude schlug Grace eine ungewohnte Wärme entgegen. Sie wusste wohl, dass hier, am anderen Ende der Welt, Hochsommer herrschte, aber es kam in diesem Moment trotzdem überraschend. Sie war erleichtert, dass wenigstens ein leichter Wind wehte.

Schweigend stiegen sie in den Bus zum Inlandterminal. Hori kümmerte sich wie selbstverständlich um ihr Gepäck und bot ihr...