Cosm - Roman

von: Gregory Benford

Heyne, 2014

ISBN: 9783641126582

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Cosm - Roman


 

1

 

Die 1965 gegründete University of California in Irvine war der jüngste Campus im ganzen Verbund, aber ihre Unschuld hatte sie längst verloren. Ursprünglich hatte man den Campus um eine kreisrunde, bewaldete Grünanlage herum angelegt und hohe, hellbraune Gebäude mit gefälliger Linienführung errichtet, deren Fenster an halbgeschlossene Lider erinnerten. Zwanzig Jahre später hatte sich dann ein Biologiegebäude dazwischengedrängt, das seine Wasserrohre und Stromleitungen voller Stolz offen zur Schau stellte und genauso fehl am Platz war wie ein Pickel auf der Nase einer Prinzessin. Damals hatte es noch so ausgesehen, als würde die Biotechnik alle anderen Forschungszweige, die sich rings um das Universitätsgelände etablierten, in den Schatten stellen. Seither hatten die Wissenschaft und ihr Domizil jedoch gleichermaßen an Ansehen verloren.

Inzwischen war das Rund des ursprünglichen Campus längst zu klein geworden, und die asphaltierten Parkplätze und die vielen, nach Art des späten zwanzigsten Jahrhunderts bunt zusammengewürfelten Gebäude fühlten sich sichtlich beengt. Neben den neuen, gedrungenen Klötzen mit den nachträglich angeklebten, futuristischen Stahlkonstruktionen wirkten die maurischen Türme wie alte Tanten, die aus luftiger Höhe würdevoll auf das Treiben einer ausgelassenen Kinderschar herabsahen.

Die fünf Gebäude der Physikalischen Fakultät strebten vom Rand der zentralen Grünanlage fächerförmig nach außen. Wo nur ein Plätzchen frei war, hatte man Baracken aus hellem Holz dazwischengezwängt, ›Provisorien‹, die mit zunehmender Verwahrlosung mehr und mehr zur festen Einrichtung wurden. Studenten saßen kaffeetrinkend auf harten Betonbänken und lernten. Niemand schaute auf, als ein Lastwagen auf den Personalparkplatz fuhr und vorsichtig um einen widerrechtlich abgestellten Wagen herumrangierte.

Behutsam manövrierte Alicia Butterworth den UC-Irvine-eigenen Laster rückwärts in die Toreinfahrt des Physikalischen Forschungstrakts. Zak sprang aus dem Führerhaus und wies sie ein. Es war 7 Uhr morgens, noch lag erst ein Hauch der feuchten Frühlingswärme in der Luft, und auf dem Forschungsgelände war kein Mensch zu sehen. Alicia konnte das nur recht sein.

Mit dem Deckenkran hoben sie die Kiste von der Lastwagenpritsche. In den Jahren in Berkeley und am RHIC hatte Alicia einige Erfahrung im Umgang mit schweren Lasten gesammelt. Als der große Würfel auf dem blanken Betonboden stand, beförderten sie ihn mit einem Gabelstapler in eine der kleineren Seitennischen. Damit war er erst einmal aus dem Weg, und sie konnten arbeiten, ohne dass ihnen jemand über die Schulter schaute. Mit einem Brecheisen hebelte Alicia das erste Stahlband auf. Die Ladung war tags zuvor, am 3. Mai, spät abends am John Wayne Airport eingetroffen, und als der Flughafen an diesem schönen Mittwochmorgen seine Tore öffnete, hatten sie und Zak bereits gewartet. Der Transport war offenbar ohne Zwischenfälle verlaufen, jedenfalls stand nichts in den Papieren. Trotzdem war Alicia nicht sicher, ob die Kugel noch immer fest in ihrem Magnetfeld hing. Oder hatte sie sich gelöst? Äußerlich war jedenfalls kein Schaden festzustellen …

Ihre Armbanduhr begann zu piepsen. »Verdammt«, murmelte sie. »Schluss jetzt, Zak! Wir machen weiter, wenn ich zurückkomme.«

Er nickte verschlafen und trollte sich, um sich irgendwo eine Tasse Kaffee zu besorgen. Sie ging kurz im Labor vorbei und holte sich die Folien und Vorlesungsnotizen, die sie vor drei Wochen in ihrem Schreibtisch deponiert hatte, um sie auf dem Weg zum Hörsaal mitnehmen zu können. Beim Durchblättern rief sie sich in Erinnerung, wie weit sie mit dem Stoff gekommen war, und welche Übungsaufgaben sie zuletzt gestellt hatte. Idealerweise sollte bei Einführungskursen wie diesem die Illusion vermittelt werden, die Naturwissenschaften schritten stetig voran, erforschten systematisch alle Grenzbereiche und eröffneten ständig neue Horizonte. Sie ging über den Innenhof und betrat den großen Hörsaal. Fünfhundert Gesichter schauten ihr entgegen.

Sie legte gleich ihre erste Folie mit der Skizze eines quantenmechanischen Effekts auf, um dem bezahlten Mitschreiber aus der Klonfabrik genügend Zeit zu geben, die Zeichnung liebevoll abzupinseln. Am nächsten Morgen würde er dann die ersten Fotokopien ihrer Vorlesung verkaufen. Auf diese Weise konnten einige Studenten es sich leisten, heute zu fehlen. Die klassische, akademische Vorlesung, bei der man sich Notizen machte, ging bis auf die irischen Mönche zurück und hatte mehr schlecht als recht bis ins einundzwanzigste Jahrhundert überlebt. Lautsprecheranlage anschalten, ein paar Mal probeweise aufs Mikrofon klopfen. Sie schaute zur Audiovisionskabine hin, wo ein Techniker ihre Vorlesung mitschnitt, um die Aufzeichnung tags darauf ebenfalls zum Verkauf anzubieten. Ob die Studenten wohl in allen Vorbereitungskursen auf das Medizinstudium nur passiv mit Wissen vollgestopft wurden? Sie seufzte. Lautstärke einstellen und anfangen.

Zunächst entschuldigte sie sich dafür, dass sie die Vorlesung in den vergangenen Wochen nicht selbst gehalten hatte. Clare Yu hatte hart verhandelt, bevor sie sich bereiterklärte, den Kurs zu übernehmen: Alicia musste sich nicht nur verpflichten, drei Wochen lang in einem Fortgeschrittenenseminar zu unterrichten, das Clare für den kommenden Herbst plante, sondern ihre Kollegin auch noch zu einem Abendessen ins Four Seasons einladen, eine gute Gelegenheit für die beiden, genüsslich über die Marotten ihrer Kollegen herzuziehen.

Aber der Aufwand hatte sich gelohnt, dachte Alicia, während sie die Theorie der Quantenmechanik umriss. Nach nur drei Wochen im kühlen Klima Long Islands fühlte sie sich wie nach einem dreimonatigen Urlaub in frischer Luft und Sonnenschein. Nichts gegen die Lehre, aber im Grunde schlug ihr Herz doch für die Forschung.

Als sie die Acht-Uhr-Vorlesung beendet hatte – die Studenten verabscheuten den Termin, aber sie hatte auf diese Weise den Rest des Tages frei und konnte sich anderen Dingen widmen – meldete sie sich im Sekretariat zurück. Ihr Postfach quoll über, und bei der Sekretärin stand noch eine weitere Schachtel mit Post aus den vergangenen drei Wochen für sie bereit. Sie war schon auf dem Weg zurück ins Labor, als der Fachbereichsvorsitzende den Korridor entlanggeschlendert kam. Offenbar hatte ihm seine Führungsassistentin (normale Berufsbezeichnungen gab es heutzutage ja nicht mehr) mitgeteilt, dass sie zurück war.

»Ach, Alicia«, seine Freude wirkte etwas aufgesetzt, »ich wollte Sie um einen kleinen Gefallen bitten.«

Martin Onell erschien wie üblich in voller Paradeuniform: dreiteiliger Anzug, heute in Grau, marineblaues Button-Down-Hemd, Krawatte in dezentem Bernsteingelb mit Bronzenadel, und als Kontrast ein hellgrünes Einstecktuch, das frech in die Welt der Modemuffel hinausblinzelte.

»Martin, ich bin erst gestern Abend von Brookhaven zurückgekommen …«

»Ist mir bekannt.« Er zeigte auf das Weißbrett, auf dem die Namen aller abwesenden Professoren mit Reisezielen und Abwesenheitsdaten verzeichnet waren. Vier Lehrkräfte trieben sich in der Weltgeschichte herum, in Kobe, Genf, Cambridge und Washington D.C. – nicht mehr als üblich. »Sie kommen wohl eben aus Ihrer 3-B-Vorlesung?«

»Klar.« Worauf wollte er hinaus?

»Die Vorsitzende des Ausschusses für Gleichberechtigungsfragen …«

»Nicht schon wieder.« Sie seufzte.

»… hat mich angerufen und, nun, man wäre dort sehr an einem Gespräch mit Ihnen interessiert …«

»Ich habe im Moment …«

»… wenigstens zu den Ausschusssitzungen …«

»… überhaupt keine Zeit.«

»… Sie haben sich immerhin bereiterklärt, als es darum ging, eine Angehörige einer Minderheit für diesen Posten …«

»Man hat mich gefragt, und ich habe ja gesagt, aber das war vergangenes Jahr.«

»Sie wussten aber, dass es sich um eine zweijährige Amtszeit handelt.«

»Und der Vizekanzler sagte, man hätte so gut wie keine Arbeit damit.«

Ein spöttisches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Stimmt das denn nicht? Ich meine, Sie brauchen doch nur mit abzustimmen.«

»Aber zuerst muss man sich die Anträge anhören. Und ich habe nicht geahnt, wie unerträglich das ist.«

Martin Onell zog die Augenbrauen hoch und warf ihr einen Blick zu, der sie beschämen sollte, ihn aber nur ziemlich verdattert aussehen ließ. »Sie haben zugesagt.«

»Ich werde sie anrufen.« Damit war sie aus dem Schneider, und er hatte das Problem vom Tisch. Mehr hatte er im Grunde gar nicht gewollt.

»Gut, gut.« Ein hörbarer Seufzer. »Äh … wie ist eigentlich Ihr Versuch gelaufen?«

»Enttäuschend. Wir mussten schon in der Anfangsphase abbrechen.«

»Tatsächlich? Ich hatte den RHIC immer für besonders zuverlässig gehalten.«

»Das ist er auch, aber … nun, ich muss erst noch herausfinden, was tatsächlich passiert ist. Die Ringröhre konnte das Vakuum nicht halten.«

»Das ist sonderbar.« Onell war Festkörperphysiker, aber vielseitig interessiert.

»Ich werde in meinem Labor Platz schaffen, um mir den Schaden anzusehen. Mein Detektor ist ziemlich hinüber.«

»Ein Jammer.« Er schüttelte den Kopf.

»Aber das bleibt unter uns. Brookhaven will es so.«

»Hmm.« Ein wissendes Lächeln verzog seine Lippen. »Nicht unverständlich. Die großen Teilchenbeschleuniger stehen derzeit unter scharfer Beobachtung.«

»Ich erwarte keine größeren Schwierigkeiten«, sagte sie, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen. Onell war eine schreckliche Klatschbase und ein alter Gegner der Elementarteilchenphysik. Wahrscheinlich hatte er auch in Brookhaven Freunde...