Lone Survivor - SEAL-Team 10 - Einsatz in Afghanistan. Der authentische Bericht des einzigen Überlebenden von Operation Red Wings

von: Marcus Luttrell, Patrick Robinson

Heyne, 2014

ISBN: 9783641141394 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 13,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Lone Survivor - SEAL-Team 10 - Einsatz in Afghanistan. Der authentische Bericht des einzigen Überlebenden von Operation Red Wings


 

Kapitel 2

Baby-SEALs und große Alligatoren

E inmal nur musste ich mit einem Alligator kämpfen und war ziemlich erleichtert, als es ihm reichte und er sich in ruhigere Gewässer verzog. Aber mein Bruder ringt heute noch gerne mit Reptilien. Einfach so aus Spaß.

Wir flogen hoch über die südlichen Ausläufer des Golfs von Oman. 400 Meilen weit ging es in knapp 14 000 Metern Höhe auf Kurs Ostnordost über das Arabische Meer. In den frühen Morgenstunden überquerten wir südlich des an der iranischen Grenze gelegenen Hafens Galater den 61. Längengrad. Hier verläuft am Pazifik die pakistanische Grenze.

Chief Healy schnarchte leise. Axe löste ein Kreuzworträtsel in der New York Times. Es grenzte an ein Wunder, dass Shanes Kopfhörer trotz seiner lauten Rock ’n’ Roll-Musik nicht explodierten.

»Musst du diesen Scheiß wirklich so laut hören, Kleiner?«

»Das ist coole Musik, Dude, reg dich ab.«

»Meine Güte!«

Die C-130 Hercules dröhnte weiter, jetzt auf einem etwas nördlicheren Kurs auf Belutschistan zu, das sich auf einer Länge von 470 Meilen an der Küstenlinie des Arabischen Meeres entlangzieht und dank dieser strategischen Lage die Ölrouten am Persischen Golf kontrolliert. Gegen den Willen vieler ungehaltener Stammesfürsten wurde Belutschistan bei der Teilung Indiens 1947 Pakistan zugeschlagen.

Es ist vermutlich sinnvoll, daran zu erinnern, dass es keiner Nation, Osmanen ebenso wenig wie Tartaren, Persern, Arabern und Engländern, je gelungen ist, Belutschistan gänzlich zu erobern. Diese Stammeskrieger konnten sogar Dschingis Khan zurückschlagen, und seine Leute waren die Navy SEALs des 13. Jahrhunderts.

Weder wir noch andere Leute kennen die genaue Route der US Special Forces in ein Land. In der belutschischen Küstenstadt Pasni befindet sich jedoch ein großer amerikanischer Stützpunkt. Vermutlich vollzog sich dort in der Gegend lange vor der Morgendämmerung unser erneuter Landkontakt, woraufhin wir unseren Flug über vier Gebirgsketten zu einem US-Militärstützpunkt in der Nähe der Stadt Dalbandin fortsetzten.

Auch hier machten wir keine Zwischenlandung, aber Dalbandin liegt nur 50 Meilen südlich der afghanischen Grenze und bietet sicheren Luftraum, zumindest so sicher, wie es in diesem seltsamen, wilden, zwischen dem Iran, Pakistan und Afghanistan eingekeilten Land nur irgend möglich ist.

Die endlosen Berge Belutschistans sind ein Zufluchtsort für versprengte al-Qaida-Rekruten und Taliban-Kämpfer im Exil. Im Augenblick halten sich bis zu sechstausend dieser potenziellen Terroristen dort auf. Obwohl Chief Healy, die Kameraden und ich Tausende von Metern über diesem riesigen, dünn besiedelten und geheimnisvollen Land schwebten, schauderte es mich, und die Durchsage, dass wir uns endlich in afghanischem Luftraum befänden und nur noch 400 Meilen Richtung Norden nach Kabul zurückzulegen hätten, erfüllte mich schließlich mit Erleichterung.

Irgendwo über der Regestan-Wüste und östlich des größten Flusses Afghanistans, des 750 Meilen langen Hilmend, der das Ackerland im Norden bewässert, schlief ich ein.

Ich erinnere mich nicht an meine Träume, aber vermutlich träumte ich von zu Hause wie meist, wenn ich in Übersee stationiert bin. Zu Hause, das ist eine kleine Ranch in den Kiefernwäldern von East Texas in der Nähe des Sam Houston National Forest. Wir wohnen am Ende eines roten Sandweges in einem einsamen Teil des Landes. In der Nähe liegen noch ein paar andere Ranches. Die unseres nächsten Nachbarn ist viertausendmal so groß wie unsere, was zur Folge hat, dass unsere manchmal viel größer wirkt, als sie tatsächlich ist. Eine ähnliche Wechselwirkung besteht zwischen mir und meinem eineiigen Zwillingsbruder Morgan.

Er ist etwa sieben Minuten älter als ich und etwa genauso groß (1,95 Meter, 105 Kilogramm). Irgendwie werde ich immer wie das Baby der Familie behandelt. Kaum zu glauben, wie viel sieben Minuten ausmachen können! Nun, so ist es nun einmal, und Morgan zweifelt keine Sekunde an seiner Stellung als der Ältere und Erfahrenere.

Auch er ist ein Navy SEAL, allerdings von etwas niedrigerem Rang, da ich mich einige Zeit vor ihm meldete. Trotzdem schlägt er einen lockeren Befehlston an, wenn wir zusammen sind, was ziemlich oft der Fall ist, da wir in Coronado, Kalifornien, ganz in der Nähe der SEAL-Teams, gemeinsam ein Haus bewohnen.

Auf unserem Grundstück in Texas stehen mehrere Gebäude, dessen wichtigstes ein einstöckiges Ranchhaus aus Stein inmitten eines Gemüsegartens ist. Soweit das Auge in alle Richtungen reicht, gibt es Weideland, gesprenkelt mit riesigen Eichen und grasenden Rindern. Ein friedlicher Ort.

Von klein auf wurden Morgan und ich im Glauben an Gott erzogen, mussten aber nicht in die Kirche gehen oder Ähnliches. Bis heute besucht meine Familie keine Gottesdienste, ich bin der Einzige, der halbwegs regelmäßig in die Kirche geht. Wenn ich zu Hause bin, fahre ich sonntagmorgens zur katholischen Kirche, wo man mich kennt. Ich bin zwar nicht katholisch getauft, doch mir gefällt es dort, der Glaube und die Lehre überzeugen mich. Seit meiner Kindheit kann ich den 23. Psalm und einige weitere auswendig.

Außerdem war Papst Johannes Paul II. der heiligste Mann der Welt, ein unbeugsamer Stellvertreter Christi, ein Mann von unerschütterlichen Prinzipien. Ich fand immer, dass er, wäre er nicht Geistlicher geworden, einen guten Navy SEAL abgegeben hätte.

Zu Hause in unserer Hinterwäldlerregion wirkt das Leben sorglos. Ärgernisse sind selten, davon betreffen die meisten Schlangen. Unser Dad brachte uns vor Jahren bei, wie man mit ihnen fertigwird, insbesondere mit den Korallenottern und den Mokassinschlangen. Außerdem gibt es Klapperschlangen und Diamantklapperschlangen und Milchschlangen, die alle anderen auffressen. In dem nahe gelegenen See wohnen ferner Wassermokassinschlangen, mit denen wirklich nicht zu spaßen ist. Sie jagen ihrem Opfer hinterher, aber ich fürchte sie nicht, obwohl ich sie nicht unbedingt mag. Morgan verfolgt sie zum Zeitvertreib, schreckt sie auf, hält sie munter.

Etwa eine Meile von uns entfernt gibt es eine riesige Herde Texas Longhorns. Hinter unserem Haus liegen etwa ein halbes Dutzend Koppeln für die Pferde meiner Mutter, einige gehören ihr, andere betreut sie für andere Leute.

Sie vertrauen meiner Mutter ihre Pferde an, weil sie die fast mystische Kraft besitzt, kranke oder schwache Tiere wieder in Topform zu bringen. Niemand weiß, wie sie das anstellt, sie ist ganz klar eine Pferdeflüsterin. Sie füttert kranke Rennpferde mit einer Algenrezeptur, die, wie sie beteuert, ein Pony in ein Vollblut verwandeln kann. Sorry, Mom, war nur ein Witz.

Aber ganz im Ernst: Holly Luttrell ist eine hervorragende Pferdekennerin. Sie verwandelt elende Klepper wieder in glänzende, gesunde Rennpferde. Ich vermute, dass aus diesem Grund der Strom neuer Pferde nie versiegt. Sie kann jedoch immer nur zehn gleichzeitig betreuen. Um fünf Uhr früh ist sie zum ersten Mal im Stall und kümmert sich um sie. Wer sich die Zeit nimmt, sieht, welche Wirkung sie auf die Tiere hat und welche Ergebnisse ihre Fähigkeiten erzielen.

Meine Mutter ist Texanerin in siebter Generation, obwohl sie einige Zeit in New York City lebte. In unserer Gegend entspricht das einer Emigration nach Schanghai. Meine Mutter war immer eine ziemlich glamouröse Blondine und hatte es sich in den Kopf gesetzt, Stewardess zu werden. Dieser Wunsch hielt allerdings nicht lange an, und recht bald war sie wieder zu Hause im weitläufigen East Texas, um Pferde zu züchten. Es geht ihr wie uns allen, Texas ist ein Teil unserer Seele. Texas ist ein Teil von mir, ein Teil meines Vaters und hundert pro ein Teil Morgans.

Keiner von uns könnte sich vorstellen, woanders zu leben. In Texas sind wir zu Hause, hier umgeben uns Menschen, die wir seit Jahren kennen und denen wir vertrauen. Hinsichtlich Offenheit, Optimismus, Freundschaft und Anständigkeit kann es niemand mit den Texanern aufnehmen. Mir ist klar, dass es darüber andere Auffassungen geben mag, aber uns kommt es nun einmal so vor. Andernorts wirken wir stets deplatziert. Es ist sinnlos, sich etwas anderes einreden zu wollen.

Dieser Umstand kann zur Folge haben, dass wir schneller Heimweh bekommen als andere Leute. Ich werde hierher zurückkehren, wenn ich das Militär verlasse. Und ich gedenke irgendwann einmal hier zu sterben. Kaum ein Tag vergeht, ganz gleichgültig, wo auf der Welt ich mich gerade aufhalte, an dem ich nicht an unsere kleine Ranch, meine große Familie und meinen großen Freundeskreis denke. Ich träume davon, ein Bier auf der Veranda zu trinken und Geschichten zu erzählen, wahre und unwahre und allesamt lustig.

Da ich nun einmal bei diesem Thema bin, will ich auch gleich erläutern, wie aus einem Hinterwäldler aus Texas ein Petty Officer First Class (Oberfeldwebel) und Team Leader der US Navy SEALs wurde.

Die Kurzfassung lautet wahrscheinlich: Talent. Aber davon besitze ich eigentlich auch nicht mehr als jeder andere. In der Tat ist alles, was mir mitgegeben wurde, recht durchschnittlich. Ich bin recht groß, was dem Zufall zuzuschreiben ist. Ich bin recht stark, weil sich eine Menge Leute viel Mühe mit meinem Training gegeben haben. Ich bin unglaublich willensstark, denn verfügt man über so wenige herausragende Eigenschaften wie ich, dann muss man sich halt anstrengen, nicht wahr?

Ich halte länger durch als jeder andere. Ich mache einfach weiter, bis sich der Staub legt. In der Regel bin ich...