Hedwig Courths-Mahler - Folge 011 - Wer wirft den ersten Stein?

von: Hedwig Courths-Mahler

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838752488 , 80 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 1,99 EUR

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Hedwig Courths-Mahler - Folge 011 - Wer wirft den ersten Stein?


 

Also… Sie haben endlich Nachricht erhalten von Südwest-Afrika, Herr Justizrat?“

„So ist es, gnädigste Gräfin. Heute Morgen traf sie ein, und ich habe mich gleich auf den Weg nach Nordegg gemacht, da ich weiß, wie ungeduldig Sie darauf warten.“

„Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.“

Melanie Gräfin Nordegg hatte sich in einen Sessel niedergelassen. Ihr lang schleppendes schwarzes Witwengewand lag wie ein dunkler Schatten auf dem kostbaren Perserteppich.

Justizrat Hollweg hatte der Gräfin gegenüber Platz genommen und legte seine Aktenmappe auf den Tisch zwischen ihnen.

„Ich bin sehr gespannt auf das, was Sie zu sagen haben, Herr Justizrat.“

Er lächelte.

„Das glaube ich Ihnen, gnädigste Gräfin. Ich habe Ihre Geduld auf eine lange Probe stellen müssen. Aber es ist nicht leicht, den Spuren eines Verschollenen zu folgen, von dem man weiter nichts weiß, als dass er vor nahezu zwanzig Jahren mit seiner Familie nach Südwest-Afrika ging. Da in all der Zeit keine Kunde von ihm zu Ihnen drang, hatte ich keinerlei Anhaltspunkte für meine Nachforschungen. Trotzdem ist es mir gelungen, alles, was wir wissen müssen über die Persönlichkeit des künftigen Majoratsherrn von Nordegg, in Erfahrung zu bringen.“

„Bitte, des gegenwärtigen, Herr Justizrat.“

„Ganz recht, Harald Graf Nordegg ist seit dem Tod Ihres Herrn Gemahls der Majoratsherr von Nordegg. Daran ändert der Umstand nichts, dass er selbst wohl nichts von seiner neuen Würde weiß und das Majorat noch nicht angetreten hat.“

Die Gräfin richtete sich hastig auf. Ihre dunklen Augen blickten forschend in das Gesicht des alten Herrn. „Harald Graf Nordegg? Sie irren wohl! Der Nachfolger meines Gemahls ist doch Georg Graf Nordegg.“

Der Justizrat schüttelte den Kopf.

„Nein, Georg Graf Nordegg ist seit zwei Jahren tot. An seiner Stelle ist nun sein einziger Sohn, Graf Harald, Majoratserbe.“

Die Gräfin erblasste und lehnte sich einen Augenblick in ihren Sessel zurück.

Der Justizrat fuhr fort: „Er starb vor zwei Jahren auf seiner Farm Saßneck in Deutsch-Südwestafrika. Diese Farm hatte er gekauft, als er vor zwanzig Jahren dort ankam, und hat sie in zäher Arbeit, später unterstützt von seinem Sohn, vergrößert und kultiviert. Hauptsächlich verdankt er sein ansehnliches Vermögen einer ausgedehnten Viehzucht. Die Farm Saßneck gehört jetzt seinem Sohn Harald. Ihm habe ich nun sogleich Mitteilung vom Tod Ihres Herrn Gemahls gemacht. Ich habe ihn wissen lassen, dass Ihr Sohn, Malte Graf Nordegg, seinem Vater vor zwei Jahren im Tod voranging und dass er nun Majoratsherr von Nordegg geworden ist. Ich habe Harald Graf Nordegg gebeten, mir möglichst telegrafisch Nachricht zu geben, ob er nach Deutschland kommen wird oder was sonst hier in seinem Namen geschehen soll.“

Die Gräfin atmete tief auf und strich sich über die Augen, als wolle sie etwas verwischen.

„Das ist allerdings eine überraschende Nachricht. Sie können sich denken, dass ich ein wenig fassungslos bin“, sagte sie. „Haben Sie Näheres über Graf Georg und seine Familie gehört?“

Auf dem Gesicht des Justizrates zeigte sich leichte Verlegenheit. „Der Bericht, den ich erhielt, ist nicht eben sehr ausführlich, gnädige Gräfin.“

Sie klopfte nervös auf die Lehne des Sessels.

„Sagen Sie mir alles, was Sie wissen – alles“, bat sie, heiser vor unterdrückter Erregung. „Glauben Sie nicht, mich schonen zu müssen. Sie wissen ja als langjähriger Rechtsbeistand unseres Hauses, wie seltsam die Verhältnisse liegen. Sie kennen die peinliche Angelegenheit und wissen, welche Beziehungen zwischen mir und… der Familie des Grafen Georg herrschen. Wenn Sie mir etwas aus Schonung verheimlichen wollen, quälen Sie mich nur.“

Der Justizrat verneigte sich.

„Gnädigste Gräfin, ich werde Ihnen nichts verschweigen. Aber es ist wirklich wenig, was ich in Erfahrung bringen konnte. Dass Graf Georg nicht gerade als reicher Mann nach Südwest ging, wissen Sie. Er hat es jedoch im Lauf der Jahre durch Fleiß und Ausdauer zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Seine Farm ist im Wert gestiegen, und er hinterließ einen nach unseren Begriffen enormen Viehbestand. Der Sohn des Grafen Georg, Graf Harald, muss jetzt etwa fünfunddreißig Jahre alt sein. Mein Gewährsmann teilte mir mit, dass Graf Harald mehrere Jahre Offizier der Schutztruppe war. Er soll ein hervorragender Kenner der Kolonie sein, beherrscht die Sprache der Eingeborenen und hat sich bei der Unterdrückung verschiedener Aufstände ausgezeichnet. Vor vier Jahren verließ er den Dienst, um seinem Vater, der leidend war, in der Bewirtschaftung für die Farm behilflich zu sein. Nach dessen Tod soll er einen Käufer für die Farm gesucht haben – man vermutet, dass dies auf Wunsch seines Vaters geschah. Er soll ihm versprochen haben, die Farm zu verkaufen und nach Deutschland zurückzukehren. Graf Georgs Tod soll die Folge einer schweren Verwundung gewesen sein, die er bei einem Aufstand der Eingeborenen erhielt.“

Mit starren, glanzlosen Augen sah die Gräfin vor sich hin.

„Und von den beiden Töchtern des Grafen Georg hörten Sie nichts?“, rang es sich über ihre Lippen.

Es zuckte leise im Gesicht des Juristen.

„Nein, von den beiden Komtessen konnte ich nichts erfahren.“

Die Gräfin erhob sich jäh und trat ans Fenster. Ihr Gesicht war blass, und ihre Augen hatten einen erloschenen Ausdruck.

Betreten sah der Justizrat nach der stolzen Frauengestalt hinüber. Wie eine Silhouette hob sie sich gegen das helle Fenster ab. Er musste daran denken, welche Leidenschaft diese noch immer schöne Frau in der Brust zweier Männer einst entfacht hatte. Sie waren Vettern und Freunde gewesen und hatten sich dann bitter gehasst – weil sie diese Frau über alles liebten.

Dachte Gräfin Melanie auch an die Vergangenheit, als sie mit leeren Augen über die breite Schlossterrasse hinweg nach dem Park hinüberschaute? Draußen lag die Welt in hellem, warmem Frühlingssonnenschein. Noch war an Busch und Baum kein grünes Blatt zu sehen, aber in den dichten Blattknospen arbeitete der belebende Saft und suchte die Hüllen zu sprengen.

Die Gräfin sah das wohl, aber die Frühlingsbotschaft drang nicht zu ihrem Herzen. Sie dachte an den Mann, der drunten in Südwest sein Grab gefunden hatte. Georg Graf Nordegg war der erste Gatte der Gräfin Melanie gewesen. Seine erste Frau war ihm nach sehr kurzer Ehe bei der Geburt seines Sohnes Harald gestorben. Fast zwölf Jahre hatte er ihr nachgetrauert und hatte nur für sein Kind gelebt. Aber dann hatte er Melanie von Hartenstein kennen- und lieben gelernt. Ihr schenkte er die zweite Neigung seines Lebens. Dass es Melanie gelang, sich die schwärmerische Zuneigung und Verehrung seines Sohnes zu erringen, vervollständigte sein Glück. Er führte Melanie heim und ahnte nicht, dass sie seine Bewerbung nur angenommen hatte, weil sie dem Schicksal, das Gnadenbrot bei ihren Verwandten essen zu müssen, entgehen wollte. Sie war glücklich in den ersten Jahren ihrer Ehe und schenkte ihrem Gatten zwei Töchter.

Graf Georg betete seine Frau an. Ihr Stiefsohn Harald vergötterte sie und warf sich in seinem jungenhaften Ungestüm zu ihrem Ritter auf. Und den Überschuss seiner Gefühle verschenkte er an seine beiden kleinen Halbschwestern.

So schien alles gut und schön. Aber dann zogen drohende Schatten über diesem stillen Familienglück auf.

Als die jüngste Tochter des Grafen Georg kaum ein Jahr alt war, starb der Majoratsherr von Nordegg, ein Onkel des Grafen Georg. Sein Vetter Joachim kam gerade von einer Weltreise heim, die er als Adjutant und Begleiter eines Prinzen aus regierendem Haus unternommen hatte. Er nahm nun seinen Abschied, um das Majorat anzutreten.

Bei der Feier der Beisetzung des Majoratsherrn lernte Graf Joachim die schöne Gräfin Melanie, die Gattin seines Vetters kennen. Von diesem Augenblick an entbrannte in diesen beiden Menschen eine leidenschaftliche Zuneigung. Graf Joachim, der glänzende, bezaubernde Kavalier, entfachte im Herzen der Gräfin Melanie ein so elementares Gefühl, dass sie ihm trotz aller Gegenwehr erlag.

Nach einigen Monaten verließ Gräfin Melanie ihren Gatten und ihre Kinder, um sich scheiden zu lassen und ihrem Herzen zu folgen. Graf Georg war über die Treulosigkeit seiner Frau so verzweifelt, dass man das Schlimmste für ihn fürchtete. Bis ins Innerste getroffen, beschloss er, in die Kolonie zu gehen und seine Kinder mitzunehmen.

Vergebens hatte ihn Gräfin Melanie in verschiedenen Schreiben gebeten, er möge ihr verzeihen und ihr wenigstens eine ihrer Töchter überlassen. Er antwortete gar nicht darauf. Und bei der Scheidung wurde die Gräfin zum schuldigen Teil erklärt.

Gräfin Melanie wurde die Gattin Joachim Graf Nordeggs. Er tat alles, um sie von ihrem Schmerz abzulenken. Und als sie ein Jahr später Graf Joachim einen Majoratserben schenkte, wandte sie diesem Sohn ihre ganze mütterliche Liebe zu und suchte in dieser Liebe Vergessenheit. Sie zwang sich, nicht mehr an ihre Töchter zu denken, und es gelang ihr mit den Jahren auch zum Teil. Aber des Nachts schreckte sie zuweilen aus wirren Träumen auf. Sie meinte weinende Kinderstimmen zu hören, die nach ihr riefen. Dann sprang sie von ihrem Lager auf und flüchtete mit ihrer Not und Qual an das Bettchen ihres Sohnes. Hörte sie dann seine friedlichen Atemzüge, wurde sie wieder ruhig.

Nach zehn Jahren vernahm sie durch einen Zufall, dass Graf Georg mit seinen Kindern nach Südwestafrika gegangen sei, und es beruhigte sie einigermaßen, als sie hörte, dass die...