Ostwind - Rückkehr nach Kaltenbach

von: Lea Schmidbauer, Kristina Magdalena Henn

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2014

ISBN: 9783641137632 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Ostwind - Rückkehr nach Kaltenbach


 



1. Kapitel

Schwarze Nacht umgab sie. Totenstille. Kein Windhauch war zu spüren.

Plötzlich packte sie etwas, hielt ihr Bein fest und eiserne Dornen bohrten sich tief in ihre Haut. Verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien, doch mit jeder Bewegung verfing sie sich nur noch mehr. Unerbittlich schlang sich der Draht um ihre Beine.

Schemenhaft nahm sie ihre Umgebung war – eine Lichtung, riesige Bäume, die den Wald bewachten und ihn noch unheimlicher erscheinen ließen. Ein Uhu schrie sein Alarmsignal in die Dunkelheit,

Da hörte sie die Schritte im Unterholz.

Sie bäumte sich auf und schlug wild um sich, in einem verzweifelten Versuch, sich zu befreien. Sie musste hier weg. Schnell. Ihr Herz wollte ihr aus der Brust springen.

Doch die Schritte kamen unerbittlich näher. Jemand fasste ihre Schulter …

»Neiiiiiinnnnn!« Mit einem gellenden Schrei schreckte Mika aus dem Schlaf. Sie riss die Augen auf – und sah eine dunkle Gestalt, die sich über sie beugte.

O nein! War das etwa einer dieser Träume, in denen man träumte aufzuwachen, nur um dann in einen noch schrecklicheren Traum zu geraten?

Doch die Gestalt zuckte erschrocken zurück und schrie mindestens ebenso laut auf. Irgendwie kam sie Mika jetzt seltsam bekannt vor. »F…anny?«, krächzte sie heiser. Und endlich erkannte sie ihre Freundin, die mit einer seltsamen Baskenmütze und einem riesigen Rucksack auf dem Rücken auf das Fußende von Mikas Bett sank.

»Mann! Hast du mich erschreckt!«, schimpfte Fanny und machte einige tiefe Atemzüge, um ihren Puls unter Kontrolle zu bringen.

Mika setzte sich schlaftrunken auf. »’tschuldige. Aber ich hatte schon wieder diesen Traum …« Ihre Augen blickten sorgenvoll.

»Den, wo der Lessing dich ans Lehrerpult fesselt und du den Satz des Pythagoras pantomimisch darstellen sollst?«, fragte Fanny mitfühlend, aber als Mika nur abwesend den Kopf schüttelte, plapperte sie munter weiter: »So was musst du jetzt auch nicht mehr träumen, denn ab heute sind hochoffiziell Sommerferien! Und wir fahren nach …«, Fanny trommelte einen kleinen Wirbel auf die Bettkante, »… MAGNIFIQUE PARIS

Mika schwang die Beine über die Bettkante und verkniff sich einen Seufzer. Paris. Zwei endlose Wochen lang hinter Fanny durch staubige Großstadtstraßen her schlurfen. Aber so war der Deal, den die Freundinnen gemacht hatten: zwei Wochen Paris und dann – Mikas Herz machte einen kleinen Satz bei dem Gedanken – zurück nach Kaltenbach! Zu Ostwind.

Eine gefühlte Ewigkeit war vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Zwar telefonierte sie fast täglich mit Sam, der ihr geduldig berichtete, wie gut es dem schwarzen Hengst ging, aber seit ein paar Nächten hatte sie auch diesen Traum. Immer wieder. Irgendwas war los, doch Mika konnte dieses Gefühl einfach nicht in Worte fassen, und selbst wenn: Wer sollte das verstehen, wenn nicht einmal sie selbst es verstand?

Ein dunkler Ort, zu dem es sie hinzog, während gleichzeitig alles in ihr nach Flucht schrie. Das machte keinen Sinn. Und doch war sie sich sicher, dass es mit Ostwind zu tun haben musste. Irgendwie …

»Arrrrgh!« Ein empörter Aufschrei brachte Mika unsanft zurück in die Gegenwart, wo Fanny durch das unordentliche Zimmer stapfte und gerade den leeren Rucksack entdeckt hatte. »Du hast noch nicht mal gepackt! Ich hab schon das Taxi bestellt, das kommt in ’ner Viertelstunde. Unser Zug geht um halb elf!« Fanny begann wahllos Kleidungsstücke, die auf dem Boden verstreut lagen, in den Rucksack zu stopfen. »Meine Tante holt uns am Bahnhof ab, dann fahren wir von dort direkt ins Quartier Latin, da mach ich das erste Interview …«

Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, es ihr zu sagen, dachte Mika, aber stattdessen kam wieder nur ein lahmes, lang gezogenes »Ookaay …« aus ihrem Mund. Verdammt! Wieso war es so schwer, Fanny das beizubringen?

Mika wollte nicht nach Paris. Sie konnte da nicht hin, auch wenn sie es ihren Eltern und Fanny in einem schwachen Moment versprochen hatte.

Ihre Mutter war von der Idee hellauf begeistert gewesen. »Du musst doch in den Ferien auch mal was anderes sehen als immer nur … Schubkarren und … Mistgabeln. Kultur! Käse! Frankreich!«

Sie war aus dem Schwärmen gar nicht mehr herausgekommen, und sogar Mikas Vater hatte irgendwas von einem »wirklich sehenswerten Teilchenbeschleuniger im Institut für angewandte Kernphysik« gemurmelt. Und – da waren sie sich alle einig – was waren schon zwei Wochen?

Also hatte Mika zugestimmt. Nicht weil sie an Teilchenbeschleunigern oder Käse interessiert gewesen wäre, sondern um Fanny einen Gefallen zu tun. Dieser bescheuerte »Jugend schreibt«-Wettbewerb um die beste Schüler-Reportage war Fannys großer Traum, und wenn Mika etwas verstehen konnte, dann, wie es sich anfühlte, einen Traum zu haben.

Doch nun half alles nichts, sie musste es Fanny sagen, denn sie hatte nicht mehr lange bis – und da klingelte es auch schon an der Tür. Mist!

Fanny zurrte gerade den Rucksack zu und riss triumphierend die Arme in die Luft, als wäre sie Siegerin im Rucksack-Schnell-Packen-Wettbewerb. »Fertig! Perfektes Timing, würde ich sagen. Das ist das Taxi!«, und bevor Mika etwas sagen konnte, war sie schon zur Tür gerannt.

Das freudige Paris-Lächeln fiel Fanny aus dem Gesicht, als sie den Besucher erkannte. Ein braunhaariger Junge mit Karohemd und einem schiefen Grinsen im Gesicht. »Was zur … Sam?« Fanny kannte ihn nur flüchtig, vor allem aus Erzählungen, und er war ihr suspekt. Andererseits war ihr jeder suspekt, der einfach so ohne Vorwarnung in Mikas Leben geschneit kam.

Sam war Stallbursche auf Kaltenbach, dem Gestüt von Mikas Großmutter. Er bestand allerdings darauf, dass es »Pferdewirt in Ausbildung« hieß. Und jetzt stand er da, vor Mikas Tür, und klapperte stolz mit einem Schlüsselbund vor Fannys Augen.

»Hey! Ich habe gehört, jemand hier hätte ein Taxi bestellt?«

»Hä?«, war alles, was Fanny dazu zu sagen hatte. Und dann noch: »Woher weißt du das?«

Sam ließ den Schlüsselbund sinken und sah sie verwirrt an. »Echt jetzt? Das war eigentlich nur so ein Spruch. Weil ich gestern …« Stolz zog er seinen Führerschein aus der Tasche, den er endlich bestanden hatte, nachdem er zu seiner Schmach zweimal durchgefallen war.

Fanny beeindruckte das wenig, denn sie hatte bereits eine üble Vorahnung. Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. »Okay, was willst du hier?«, fragte sie.

Doch noch bevor Sam antworten konnte, tauchte Mika hinter ihr auf. »Sam! Ist was mit Ostwind?«, fragte sie atemlos.

»Nein, keine Sorge.« Er winkte ab. »Ich wollte euch abholen. Mit dem Auto!«, sagte er strahlend und wedelte wieder mit den Autoschlüsseln vor Fannys Gesicht.

Diesmal schnappte sie danach und brachte die klimpernden Schlüssel in ihrer Faust zum Schweigen. »Wie – uns abholen? Ich versteh grad nur Bahnhof – und apropos Bahnhof: Da müssen wir jetzt auch hin!« Sie sah Mika nachdrücklich an.

Mika wich Fannys bohrendem Blick aus und ihre Augen flackerten nervös zu Sam. »Also … äh … äh … ich … wir … also«, druckste sie herum.

»Jaaa?« Fanny verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du weißt, du bist meine beste Freundin«, begann Mika nervös. »Und Freundinnen haben ja an sich immer Verständnis füreinander, zum Beispiel, wenn man Pläne aus wichtigen Gründen ändern muss. Und als ganz konkretes Beispiel: Wenn wir zuerst nach Kaltenbach und dann nach Paris fahren würden?« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, damit Fanny sie nicht unterbrechen konnte, und fuhr fort: »Mein Gefühl sagt mir einfach, dass mit Ostwind was nicht stimmt, und ich weiß, es ist nur ein Gefühl und möglicherweise Quatsch, aber … aber …« Mika ging die Luft aus. »Bitte …!«, konnte sie gerade noch hervorpressen. Dann schluckte sie und schwieg.

Fanny sah Mika an und kniff wieder die Augen zusammen. Sie sah nun wirklich aus wie ein Krokodil, kurz bevor es zuschnappte und seine wehrlose Beute verschlang. Doch das hatte einen Grund: Noch zu gut konnte Fanny sich an letztes Jahr erinnern, als Mika das monatelang geplante Feriencamp sausen lassen musste und nach Kaltenbach geschickt wurde. Und an das, was dann passiert war.

Fanny atmete tief durch. Ruhig bleiben, ganz ruhig. Sich aufregen brachte jetzt nichts, denn sie wusste drei Dinge mit ziemlicher Sicherheit: Gegen das Pferd hatte sie keine Chance. Gegen Mikas »Gefühl« erst recht nicht. Und ein zweites Mal würde sie ihre beste Freundin ganz sicher nicht alleine in Urlaub fahren lassen – Paris hin oder her.

Und überhaupt viertens würde sie vor diesem – sie sah Sam an, der versuchte, möglichst unbeteiligt auszusehen –, diesem Pferdepfleger ganz sicher keine Szene machen. Also blieb nur, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und dem flehenden Ausdruck in Mikas Augen nachzugeben. »Meinetwegen. Aber nur, wenn du mir hoch und heilig versprichst, dass wir danach wirklich zwei Wochen zusammen nach Paris fahren. Ohne Pferd! Und ohne Ausreden!«

Mika fiel ihr so stürmisch um den Hals, dass Fanny das Gleichgewicht verlor und rücklings auf ihrem Rucksack landete wie ein Käfer mit Schlagseite. »Versprochen! Und ich schwöre dir, auf Kaltenbach gibt es jede Menge Material für einen tollen Artikel.«

Fanny rappelte sich möglichst würdevoll hoch. »Ich schätze,...