Heilige Mörderin - Roman

von: Keigo Higashino

Klett-Cotta, 2014

ISBN: 9783608106978 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Heilige Mörderin - Roman


 

Kapitel 2


Als Hiromi Wakayama das Ehepaar Mashiba aus dem ersten Stock herunterkommen sah, fiel ihr gleich das gezwungene Lächeln der beiden auf. Besonders Ayane wirkte angespannt. Natürlich enthielt Hiromi sich jeder Bemerkung.

»Es hat ein bisschen länger gedauert, entschuldigen Sie. Haben Sie etwas von den Ikais gehört?«, fragte Yoshitaka schroff.

»Sie haben gerade eine SMS geschickt. In fünf Minuten sind sie hier.«

»Wollen wir schon mal den Champagner aufmachen?«

»Ich mach das«, sagte Ayane bestimmt. »Hol du die Gläser, Yoshi.«

»Das kann ich doch machen«, sagte Hiromi.

Als Ayane in der Küche verschwunden war, öffnete Hiromi die Tür zum Wandschrank. Eine Antiquität, die angeblich fast drei Millionen Yen gekostet hatte. Natürlich war das Geschirr darin ebenfalls sehr kostbar.

Behutsam nahm sie die Champagnergläser heraus, zwei von Baccarat und drei aus venezianischem Glas. Im Hause Mashiba servierte man Champagner in venezianischen Gläsern.

Yoshitaka verteilte fünf Sets auf dem Tisch, an dem acht Personen Platz hatten. Er gab häufig Essenseinladungen. Auch Hiromi kannte sich mit der Sitzordnung aus und verteilte die Champagnergläser. Aus der Küche hörte man das Wasser rauschen.

»Worüber hast du mit ihr geredet?«, fragte Hiromi leise.

»Über nichts Besonderes«, erwiderte Yoshitaka, ohne sie anzusehen.

»Aber du hast es ihr gesagt?«

Zum ersten Mal sah er Hiromi an. »Was gesagt?«

Na, was schon?, wollte sie gerade erwidern, als es an der Tür klingelte.

»Das werden sie sein«, rief Yoshitaka in Richtung Küche.

»Ich habe gerade keine Hand frei. Könntest du vielleicht aufmachen?«

»Wird gemacht.« Yoshitaka ging zur Tür.

Etwa zehn Minuten später saßen alle am Tisch. Man gab sich gutgelaunt und fröhlich. Dennoch erschien Hiromi die heitere Stimmung aufgesetzt. Sie fragte sich oft, wie Ayane sich diese Art der Rücksichtnahme angeeignet hatte. Angeboren konnte sie ja nicht sein. Hiromi wusste, dass sie nahezu ein Jahr gebraucht hatte, um diese zu übernehmen.

»Du hast wie immer vorzüglich gekocht, Ayane. Normalerweise macht niemand sich solche Mühe mit der Marinade.« Yukiko Ikai führte einen Bissen Weißfisch zum Mund. Ihre Rolle war es, jedes einzelne Gericht zu loben.

»Du lässt dir ja auch immer diese Fertigsaucen schicken«, ergänzte ihr Mann Tatsuhiko.

»Entschuldige mal, hin und wieder mache ich auch eine Sauce selbst.«

Tatsuhiko Ikai war Rechtsanwalt und als Berater für mehrere Firmen tätig. Die Firma von Yoshitaka Mashiba war eine davon. Außerdem war er auch an der Geschäftsleitung beteiligt. Tatsuhiko und Yoshitaka waren alte Studienkollegen.

Tatsuhiko nahm die Flasche aus dem Weinkühler, um Hiromi nachzuschenken.

»Oh, nein danke, ich habe schon genug«, sagte sie und bedeckte ihr Glas mit der flachen Hand.

»Trinken Sie denn nicht gerne Wein, Hiromi?«

»Doch, schon, aber für heute reicht es mir.«

Tatsuhiko nickte und schenkte Yoshitaka Weißwein nach.

»Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte Ayane.

»Doch, ganz im Gegenteil. Ich habe nur in letzter Zeit ein wenig zu viel mit Freunden getrunken …«

»Ach, ihr jungen Leute habt’s gut«, sagte Tatsuhiko und schenkte Ayane nach. Nach einem kurzen Blick auf seine Frau genehmigte er sich ebenfalls noch ein Glas. »Heute Abend habe ich zum Glück mal Gesellschaft. Yukiko trinkt ja momentan nichts.«

»Das ist sicher auch besser«, sagte Yoshitaka mit erhobener Gabel.

»Es sei denn, das Baby soll auch was abbekommen«, sagte Tatsuhiko. »Der Alkohol geht nämlich in die Milch.«

»Und wie lange musst du das durchhalten?«, fragte Yoshitaka.

»Der Arzt meint, etwa ein Jahr«, antwortete Yukiko.

»Eher anderthalb«, korrigierte Tatsuhiko. »Zwei wären noch besser. Und wenn du einmal so lange nichts getrunken hast, kannst du auch gleich ganz damit aufhören.«

»Also weißt du! Ich muss mich jetzt jahrelang um den Kleinen kümmern. Und du gönnst mir nicht mal ab und zu etwas. Oder wollen wir vielleicht tauschen?«

»Ist ja gut, ist ja gut. In einem Jahr darfst du wieder Bier und Wein trinken. In Maßen.«

Yukiko schmollte, lächelte aber gleich wieder. Sie wirkte glücklich. Das Geplänkel mit ihrem Mann machte ihr offenbar Spaß.

Sie hatte vor zwei Monaten ein Baby bekommen, das lang ersehnte erste Kind der Ikais. Tatsuhiko war zweiundvierzig und Yukiko fünfunddreißig. Sie hatten noch in letzter Sekunde die Kurve gekriegt, wie selbst gern sagten. Am heutigen Abend wollten die Freunde gemeinsam die Geburt des kleinen Jungen feiern. Die Party war Yoshitakas Idee gewesen, dennoch hatte Ayane alle Vorbereitungen übernommen.

»Eure Eltern machen wohl heute den Babysitter?« Yoshitaka sah die Ikais an.

Tatsuhiko nickte.

»Sie haben gesagt, wir dürften uns ruhig Zeit lassen. Sie sind ganz versessen darauf, auf das Baby aufzupassen. Günstig, dass sie so in der Nähe wohnen.«

»Aber ehrlich gesagt, übertreibt meine Schwiegermutter es. Meine Freundinnen sagen, man könne ein Kind auch ruhig mal ein bisschen schreien lassen«, sagte Yukiko mit gerunzelter Stirn.

Hiromi sah, dass Yukikos Glas leer war, und stand auf. »Einen Moment, ich hole Ihnen etwas Wasser.«

»Im Kühlschrank ist Mineralwasser, bring doch bitte eine Flasche«, sagte Ayane.

Hiromi ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Es war ein riesiges, zweitüriges Modell, das 500 Liter fasste. In der Tür standen mehrere Mineralwasserflaschen. Sie nahm eine davon heraus. Sie schloss den Kühlschrank, und als sie auf ihren Platz zurückkehrte, begegnete sie Ayanes Blick. Ihre Lippen formten das Wort Danke.

»Ein Kind verändert das ganze Leben«, sagte Yoshitaka.

»Alles dreht sich nur noch um das Kind. Der Alltag, sogar die Arbeit«, erwiderte Tatsuhiko.

»Da kann man nichts machen. Aber beruflich beeinträchtigt es dich doch nicht, oder? Angeblich wächst das Verantwortungsgefühl, wenn man ein Kind hat. Du müsstest jetzt sogar mehr Ausdauer und Kampfgeist haben, oder nicht?«

»Kann schon sein.«

Ayane nahm Hiromi die Mineralwasserflasche ab und schenkte lächelnd allen ein.

»Und wie sieht es bei euch aus? Wird es nicht langsam Zeit?« Tatsuhiko sah Ayane und Yoshitaka an. »Ihr seid jetzt ein Jahr verheiratet. Seid ihr das Leben zu zweit nicht allmählich leid?«

»Hör schon auf.« Yukiko schlug ihrem Mann tadelnd auf den Arm. »Das geht uns nichts an.«

»Schon gut, jeder, wie er mag.« Tatsuhiko lachte verlegen und trank seinen Wein aus. Dann sah er Hiromi an. »Und wie sieht’s bei Ihnen aus, Hiromi? Nein, nein, keine Sorge, ich frage schon nichts Ungehöriges. Ich meine eure Patchwork-Schule. Den Unterricht und so weiter.«

»Ja, allmählich klappt es immer besser. Aber perfekt ist es noch nicht.«

»Inzwischen kannst du das meiste sicher Hiromi überlassen?«, wandte Yukiko sich an Ayane.

Ayane nickte. »Ich kann ihr nichts mehr beibringen.«

»Das ist ja großartig.« Yukiko warf Hiromi einen bewundernden Blick zu.

Diese lächelte und schlug die Augen nieder. Sie vermutete, dass das Ehepaar Ikai sich nicht im Geringsten für sie interessierte. Wahrscheinlich fühlten sie sich nur bemüßigt, die unverheiratete junge Frau ins Gespräch einzubeziehen, damit sie sich zwischen den beiden Paaren nicht allzu überflüssig vorkam.

»Ach, wir haben doch ein Geschenk für euch beide.« Ayane stand auf und holte hinter dem Sofa eine große Plastiktüte hervor.

»Oh, aber das geht doch nicht«, rief Yukiko und schlug vor Überraschung die Hände vor den Mund.

Es war eine Tagesdecke aus Patchwork, nur viel kleiner als eine gewöhnliche.

»Ich fand, sie würde gut auf ein Kinderbett passen«, sagte Ayane. »Wenn ihr das Bett nicht mehr benutzt, könnt ihr sie als Wandbehang verwenden.«

»Wie wunderschön. Vielen Dank, Ayane.« Yukiko hielt die Tagesdecke begeistert am Saum in die Höhe. »Wir werden sie in Ehren halten. Vielen, vielen Dank.«

»So was ist doch eine Menge Arbeit. Das kostet viel Zeit, nicht wahr?« Tatsuhiko sah fragend zu Hiromi hinüber.

»Ungefähr ein halbes Jahr hast du dafür gebraucht, oder?«, fragte Hiromi ihre Freundin.

»Ich weiß nicht mehr genau.« Ayane zuckte die Achseln. »Jedenfalls freut es mich, wenn sie euch gefällt.«

»Sie ist wunderbar. Aber dürfen wir sie denn überhaupt annehmen? Weißt du, Tatsuhiko, wie teuer so etwas ist? Ein Original von Ayane Mita. In einer Galerie in Ginza kostet eine Tagesdecke für ein Einzelbett zwei Millionen Yen.«

Tatsuhiko machte große Augen. Er schien ehrlich erstaunt. Das sind doch bloß Stoffreste, sagte seine Miene.

»Sie hat sich richtig in die Arbeit gekniet«, sagte Yoshitaka. »Sogar wenn ich freihatte, hat sie die ganze Zeit auf dem Sofa gesessen und genäht. Den ganzen Tag. Ich war richtig beeindruckt.« Er deutete mit dem Kinn in Richtung Sofa.

»Zum Glück bin ich rechtzeitig fertig geworden«, sagte Ayane leise und mit gesenkten Lidern.

Nach dem Essen zogen sie auf das Sofa um, und die Männer  genehmigten sich einen Whisky. Da Yukiko noch eine Tasse Kaffee wollte, ging Hiromi in die Küche.

»Ich mache den Kaffee«, sagte Ayane. »Hol du doch die Sachen für den Whisky Soda, Hiromi. Im...