Unter Räubern

von: Andreas Venzke

Baumhaus, 2014

ISBN: 9783838752822 , 317 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Unter Räubern


 

Die Flucht

er Holzmeier war ein Arschloch! Sebastian tat alles weh. So lange hatten sie noch nie exerziert: Vorwärts! Und links! Und geradeaus, zwei drei! Rechts schwenk, drei vier! Und halt! Sie waren eingespannt wie Kutschpferde und mussten sinnlos Runden drehen. Und Oberst Holzmeier machte es jeden Tag noch schlimmer. Immer stärker zog er als Aufseher an der Stuttgarter Carlsschule die Zügel an, der »Hohen Carlsschule«, wie sie seit einigen Jahren hieß.

Sebastian kam es so vor, als könnte er gar nicht mehr den Kopf drehen. Bei jeder Bewegung, ob nur leicht hierhin oder dorthin, tat’s irgendwo weh. Der Holzmeier konnte ihn nicht leiden, so viel war klar. Oder der konnte es einfach nicht leiden, dass Sebastian versuchte, selbst zu denken, wie Lehrer Abel das wollte – oder dass er gern las und Bücher mochte, so was Weibisches! Vielleicht war das wie eine Bedrohung für Holzmeier.

Sebastian war trotzdem nicht müde. Es war zwar schon halb zehn und also eine halbe Stunde nach Schlafenszeit, aber es würde noch eine Stunde hell sein, noch eine lange Stunde. Da konnten die Aufseher in dem langen Schlafsaal mit seinen fünfzig Betten alle Vorhänge zuziehen – es fiel doch noch genügend Licht in die einzelnen Abteile. Wann hatte man schon so viel Zeit für sich, außer im Schlaf? Es gab Freiheit, wenigstens im Kopf, dachte Sebastian, und auf dem Papier – wenn man schreiben konnte –, wenn man was zu schreiben hatte –, wenn man was zu sagen hatte!

Und wenn man aufpasste und geschickt war, konnte man sich auch bei anderen Gelegenheiten seine kleinen Freiheiten verschaffen: Johann war hergeschlichen und saß nun bei ihm auf dem Bett. Sebastian hatte das niedrige Gitter zu seinem Abteil geschlossen. So hatten sie immerhin das Gefühl, für sich zu sein. Auch in anderen Betten wurde noch geflüstert. Wenigstens das ließen die wachhabenden Offiziere zu, auch wenn sie von ihren Schlafplätzen am Ende des langen Saals immer mal wieder riefen: »Silentium! Schlafen! Ruhe jetzt!«

Sebastian lächelte Johann an und griff vorsichtig in seine Matratze, wo das Laub inzwischen zu Staub zerbröselte. Erst im Herbst würden sie die Matratze neu füllen. Er fingerte darin herum wie ein Wiesel, das in ein Mäuseloch kroch. Endlich bekam er das Papier zu fassen. Das würde er nie in der Kommode verstecken, die jeder in seinem Schafabteil hatte. Die wurde immer mal wieder durchsucht, auch heimlich, das wusste jeder. Sebastian zog das Papier hervor und hielt es sich vor die Augen wie eine Schatzkarte. Es war ein Schattenriss seiner Mutter. Viel mehr hatte er nicht von ihr.

»Sebastian, hör mal auf damit!«, sagte Johann. »Sie kann dir auch nicht helfen!«

»Ob sie an mich denkt?«

»Klar! Ich geh jetzt noch was trinken.«

»Wenn sie wüsste, was der Holzmeier, dieses Arschloch, und der Herzog … was das für welche sind!«

»Das weiß sie. Aber sie will nur dein Bestes! Und jetzt muss ich mal …«

»Wenn ich plötzlich bei ihr vor der Tür stände!«, flüsterte Sebastian. »Sie würde Augen machen!«

»Sie würde sich vielleicht eher vor Angst in die Hosen machen – vor Angst um dich! Sie würden dich nämlich als Erstes bei ihr suchen – und dann gehst du direkt in den Karzer!«

»Trotzdem abhauen!«, flüsterte Sebastian mit der Hand vor dem Mund. »Das hätte schon einen Sinn, so wie der Schiller.«

»Ach, hör auf zu träumen!«, sagte Johann ziemlich laut, als plötzlich ein Geräusch vor dem Gitter zu hören war. Sofort steckte Sebastian den Schattenriss in die Matratze.

Beide hielten den Atem an und lauschten. Es war im Saal ziemlich still geworden. Sie konnten nie sicher sein, ob nicht ein Aufseher gerade umherschlich und nach dem Rechten sah. Sie hatten zwar keine Angst vor ihnen und ertrugen alle Backpfeifen wie eingeschirrte Esel, aber Johann war nicht in seinem Abteil. Das war ein besonders schlimmes Vergehen.

Sie sahen sich lange an, ehe Johann ausatmete und sagte: »Ist nichts! Sind wir jetzt wirklich mal leise und gehen schlafen! Ich muss aber vorher unbedingt noch …«

Als Sebastian wieder nach dem Scherenschnitt fingerte, verdrehte Johann die Augen und stand leise auf. Wer nachts noch mal rausmusste, um zu pinkeln oder auch nur um was zu trinken, wollte keinen unnötig stören, vor allem keinen Aufseher. Es konnte sein, dass die einen nicht gehen ließen, gerade wie es ihnen gefiel – oder dass man sich deswegen erst rechtfertigen musste.

Sebastian sah müde zu, wie Johann die paar Schritte zum Gitter machte, es aufzog und mit Schwung den Vorhang zur Seite schlug. Da stand Carl Eugen vor ihm, der Herzog höchstselbst.

»Was machen Sie denn …?«, fragte Johann und schwieg sofort.

Carl Eugen stand im Nachthemd vor ihm. Darüber hatte er seinen Uniformrock gezogen. Johann lachte los. Sebastian grinste und grinste immer mehr: Der Herzog sah aus wie ein vertrottelter Alter, der in der Nacht herumirrte und nicht mehr nach Hause fand.

»Was erlaubt Er sich?«, schrie Carl Eugen, als er die Fassung wiedergefunden hatte.

Sofort erschien einer der Aufseher, ausgerechnet Oberst Holzmeier, und haute Johann links und rechts eine runter. Sogar Sebastian spürte, wie weh das tat. Im Saal wurde es unruhig. Johann ballte die Fäuste und presste sie sich an den Körper.

»Welch ein Benehmen!«, schrie der Herzog, und Johann sagte leise: »Ich muss trinken. Ich verdurste.«

»Verdursten!«, schrie der Herzog weiter. »Welchen Vokabulars bemächtigt Er sich im Angesicht Seines Vaters?«

»Ein Bedürfnis, Sire, ein starkes Flüssigkeitsbedürfnis!«

Carl Eugen stand da mit hochrotem Gesicht und redete plötzlich ganz wirr: »Verdursten! Hier bei uns? Wo alle versorgt sind, für alle gesorgt, keine Sorgen, nichts als Sorgen, immer Sorgen …«

Da stellte sich Oberst Holzmeier neben ihn, griff ihn unter den Arm und führte ihn ganz sachte einige Schritte weiter, und noch einige Schritte. Im Saal war es mucksmäuschenstill.

Johann schlüpfte schnell in sein Schlafabteil. Sebastian hielt sich den Mund vor Lachen. Es dauerte nicht lange, bis im Saal einige Jungen zu flüstern wagten, dann zu reden, dann sogar Rufe auszustoßen: »So ein Spion!«

»Unser Vater!«

»Unterdrücker!«

Alle erkannten, dass der Herzog nicht mehr im Raum war, aber auch die Aufseher nicht. Die Geräusche im Saal schwollen an wie ein sich mächtig aufbauendes Gewitter. Dann donnerte es und es war die Stimme von Holzmeier: »Silentium! Noch ein Laut von einem von euch, und derjenige bekommt die Rute!«

Augenblicklich schwiegen fünfzig Jungen so sehr, dass von draußen das Plätschern des Brunnens zu hören war.

Sebastian lag weiter wach und lauschte. Er horchte, ob nicht ein Eleve auf dem Weg zu ihm war. Davor hatte er Angst. Gegen manche konnte er sich allein nicht wehren. Zwei oder drei gab es, denen machte es mindestens so viel Spaß wie dem Holzmeier, ihn zu demütigen.

Bald hörte er, dass alle fest schliefen, jedenfalls die allermeisten, auch die Aufseher. Bei denen wusste man eigentlich immer am sichersten, dass sie schliefen, weil sie fast alle schnarchten. Aber gerade dann waren einige Jungen in ihren Abteilen hellwach. Manchmal schlichen sich bestimmte Jungen sogar in andere Betten. Alle wussten, was die machten. Sebastian war das aber nicht geheuer. Einmal war auch zu ihm ein Junge gekommen, aber er hatte ihm eine geknallt. Zum Glück! Seitdem wurde er in Ruhe gelassen.

Als die Uhr zwölf schlug, horchte er besonders aufmerksam. Den Schlag der Glockenuhr am querstehenden Mitteltrakt der Schule, dem Corps de Logis, konnte man besonders gut ausnutzen. Und tatsächlich hörte er in ihrem Klang ein anderes Geräusch, ein schleichendes. Er ging zum Vorhang und lugte hindurch: Es war Johann, der hinausging, um Wasser zu trinken. Erst als nichts anderes mehr als das ferne Schnarchen der Aufseher und das Plätschern des Brunnens zu hören war, schlief Sebastian ein.

Nach dem Frühstück stand Unterricht an, wie es der Zufall wollte, bei Holzmeier. Alle saßen kerzengerade auf den Bänken, die ohne Lehne waren, damit die Eleven auch auf diese Weise genug Spannung hatten, um den Ausführungen der Lehrer zu folgen. Eleven mussten sich die Jungen zwischen zwölf und achtzehn nennen lassen. Eleven, das waren die Musterschüler von Carl Eugen, junges Menschenmaterial, das er nach seinem Willen formte. Das war der Sinn der Carlsschule, das hatte Sebastian längst verstanden.

Es wunderte ihn an diesem Morgen gar nicht, dass Holzmeier sofort ihn drannahm, um ihn bloßzustellen. Aber da war er an den Falschen geraten. Zwar plusterte sich Holzmeier vor ihm wie ein Gockel auf und schlug sich mit der Rute in die Hand, aber das schreckte Sebastian nicht. Er hatte die Vokabeln und die Formen intus. Er wusste, dass ihm Holzmeier deswegen nichts konnte.

Sebastian hatte seine Freude daran, Holzmeier auflaufen zu lassen. Hochkonzentriert stand er vor dem Lehrer. Er kannte den Ablauf.

»Wollen!«, sagte Holzmeier, als wäre es ein Befehl zum Strammstehen. »Indikativ Präsens!«

»Von wo?«, fragte Sebastian unschuldig.

»Von wo was? Ich will! Los! Marsch!«

»Sie wollen, Sire? Was bitte?«

Holzmeier starrte Sebastian zuerst ungläubig an, ehe er plötzlich mit den Armen fuchtelte und rief: »Ich will! Ich will die Konjugation von wollen, und zwar Indikativ Präsens Singular!«

»Volo, vis, vult«, antwortete Sebastian und nahm sich Zeit, zwischen den Wörtern eine Pause zu machen, als müsste er überlegen. Aber er kannte die Formen,...