Die Chroniken von Narnia - Das Wunder von Narnia (Bd. 1)

von: C. S. Lewis

Verlag Carl Ueberreuter, 2013

ISBN: 9783764190231 , 168 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Chroniken von Narnia - Das Wunder von Narnia (Bd. 1)


 

Die falsche Tür


Diese Geschichte handelt von Dingen, die sich vor langer Zeit zugetragen haben, als dein Großvater noch ein Kind war. Es ist eine sehr wichtige Geschichte, denn sie zeigt, wie all das Hin und Her zwischen unserer Welt und dem Lande Narnia seinen Anfang nahm.

In jener Zeit wohnte Mr Sherlock Holmes noch in der Baker Street, und in der Lewisham Road waren die Bastable-Kinder auf Schatzsuche. Als Junge musste man jeden Tag einen steifen Eton-Kragen tragen, und in der Schule war es meistens noch scheußlicher als heute. Aber das Essen schmeckte besser; und was die Süßigkeiten angeht, will ich dir gar nicht erst erzählen, wie billig und gut sie waren, sonst liefe dir nur ganz umsonst das Wasser im Mund zusammen. Und in jenen Tagen wohnte in London ein Mädchen namens Polly Plummer.

Sie wohnte in einem von einer langen Reihe von Häusern, die alle miteinander verbunden waren. Eines Morgens, als sie gerade hinten im Garten war, kletterte aus dem Garten nebenan ein Junge an der Mauer empor und schaute herüber. Das überraschte Polly sehr, denn bisher hatten in jenem Haus nie Kinder gewohnt, sondern nur Mr Ketterley und Miss Ketterley, zwei Geschwister, die als alter Junggeselle und alte Jungfer dort zusammenlebten. Also schaute sie voller Neugier hinauf. Das Gesicht des fremden Jungen war sehr schmutzig. Es hätte kaum schmutziger sein können, wenn er sich erst einmal die Hände mit Dreck eingerieben, dann ordentlich geweint und schließlich mit den Händen sein Gesicht abgetrocknet hätte. Tatsächlich war es auch ziemlich genauso gewesen.

»Hallo«, sagte Polly.

»Hallo«, sagte der Junge. »Wie heißt du?«

»Polly«, sagte Polly. »Und du?«

»Digory«, sagte der Junge.

»Das ist aber ein komischer Name!«, sagte Polly.

»Nicht halb so komisch wie Polly«, erwiderte Digory.

»Das stimmt überhaupt nicht«, sagte Polly.

»Klar stimmt es«, entgegnete Digory.

»Wenigstens wasche ich mir mein Gesicht«, sagte Polly. »Das hättest du auch mal nötig; besonders wenn –«, und dann verstummte sie. Eigentlich hatte sie sagen wollen: »Wenn du geflennt hast«, aber dann fand sie das zu unhöflich.

»Na gut, habe ich halt geflennt«, sagte Digory mit viel lauterer Stimme, als wäre ihm vor lauter Unglück völlig egal, ob andere merkten, dass er geweint hatte. »Das würdest du auch«, fuhr er fort, »wenn du dein ganzes Leben auf dem Land gelebt hättest, mit einem Pony und einem Bach am Ende des Gartens, und man dich dann in so ein scheußliches Loch wie das hier verfrachten würde.«

»London ist kein Loch«, erwiderte Polly empört. Aber der Junge war zu aufgeregt, um auf sie zu achten, und er fuhr fort –

»Und wenn dein Vater weit weg in Indien wäre – und du bei einer Tante wohnen müsstest und einem Onkel, der verrückt ist (wer könnte das aushalten?) – und zwar deswegen, weil sie sich um deine Mutter kümmern würden – und wenn deine Mutter krank wäre und bald – bald – sterben müsste.« Dann verzog er ganz komisch das Gesicht, wie es oft passiert, wenn man versucht, seine Tränen zu unterdrücken.

»Das wusste ich nicht. Tut mir leid«, sagte Polly beschämt. Und weil sie kaum wusste, was sie sagen sollte, und auch weil sie Digory gerne von seinem Kummer ablenken wollte, fragte sie:

»Ist Mr Ketterley wirklich verrückt?«

»Also, entweder ist er verrückt«, erwiderte Digory, »oder da geht irgendwas Geheimnisvolles vor sich. Er hat ein Arbeitszimmer im obersten Stockwerk, und Tante Letty sagt, dass ich es auf keinen Fall betreten darf. Da ist doch schon mal was faul, finde ich. Und dann noch etwas. Immer wenn er beim Essen etwas zu mir sagen will, schneidet sie ihm das Wort ab. Mit ihr versucht er gar nicht erst zu reden. Sie sagt dann: ›Bedränge den Jungen doch nicht, Andrew‹, oder ›Davon will Digory bestimmt nichts hören‹, oder ›Na, Digory, möchtest du nicht lieber draußen im Garten spielen gehen?‹«

»Was für Sachen will er dir denn sagen?«

»Keine Ahnung. Er kommt ja nie dazu. Aber das ist noch nicht alles. Ich könnte schwören, eines Abends – gestern Abend, genauer gesagt –, als ich auf dem Weg ins Bett am Fuß der Dachbodentreppe vorbeikam (und ich gehe gar nicht gern daran vorbei), da habe ich einen Schrei gehört.«

»Vielleicht hat er da oben eine verrückte Ehefrau eingesperrt.«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht.«

»Oder vielleicht ist er ein Falschmünzer.«

»Oder er könnte früher Pirat gewesen sein, so wie der Mann am Anfang von der Schatzinsel, und jetzt muss er sich immer vor seinen alten Schiffskameraden verstecken.«

»Ist das aufregend!«, sagte Polly. »Ich wusste gar nicht, dass euer Haus so interessant ist.«

»Du findest es vielleicht interessant«, sagte Digory. »Aber wenn du da schlafen müsstest, würde dir das auch nicht gefallen. Oder wie fändest du das, wach im Bett zu liegen und zu lauschen, ob Onkel Andrews Schritte durch den Flur zu deinem Zimmer geschlichen kommen? Und er hat so unheimliche Augen.«

So lernten Polly und Digory einander kennen; und da die Sommerferien gerade erst anfingen und keiner von ihnen in jenem Jahr ans Meer fuhr, trafen sie sich fast jeden Tag.

Ihre Abenteuer begannen hauptsächlich deshalb, weil es einer der feuchtesten und kältesten Sommer seit Jahren war. Also mussten sie sich im Haus beschäftigen; im Haus auf Kundschaft gehen sozusagen. Es ist erstaunlich, was es, mit einem Kerzenstummel ausgerüstet, in einem großen Haus oder gar in einer Häuserreihe alles zu entdecken gibt. Polly hatte schon vor langer Zeit herausgefunden, dass man durch eine bestimmte kleine Tür in der Rumpelkammer unterm Dach ihres Hauses zum Wasserspeicher kam, und dahinter gab es einen dunklen Raum, in den man gelangen konnte, wenn man vorsichtig hinüberkletterte. Der dunkle Raum war eine Art langer Tunnel zwischen einer Ziegelmauer auf der einen und der Dachschräge auf der anderen Seite. Durch kleine Spalten zwischen den Dachschindeln drang etwas Licht herein. Einen Fußboden hatte dieser Tunnel nicht; man musste von Balken zu Balken steigen, dazwischen war nur Putz. Ein falscher Tritt und man wäre durch die Decke in das Zimmer darunter gestürzt. Gleich neben dem Wasserspeicher hatte Polly sich eine Schmugglerhöhle eingerichtet. Sie hatte alte Kistenbretter und Sitzflächen von kaputten Küchenstühlen und dergleichen Dinge heraufgebracht und sie von Balken zu Balken gelegt, als Fußboden sozusagen. Hier bewahrte sie eine Geldkassette auf, die alle möglichen Schätze enthielt, eine Geschichte, an der sie schrieb, und meistens auch ein paar Äpfel. Schon oft hatte sie hier oben in aller Stille eine Flasche Ingwerbier getrunken; durch die alten Flaschen sah es noch mehr wie eine Schmugglerhöhle aus.

Digory gefiel die Höhle (die Geschichte zeigte sie ihm nicht), aber noch mehr reizte es ihn, auf Entdeckungsreise zu gehen.

»Warte mal«, sagte er. »Wie weit geht eigentlich dieser Tunnel? Ich meine, hört er da auf, wo euer Haus zu Ende ist?«

»Nein«, sagte Polly. »Die Wände reichen nicht bis zum Dach. Er geht immer weiter. Wie lange, weiß ich nicht.«

»Dann könnten wir ja die ganze Häuserreihe entlanggehen.«

»Stimmt, könnten wir«, sagte Polly. »Und – oh!«

»Was?«

»Wir könnten in die anderen Häuser hinein

»Klar, und als Einbrecher verhaftet werden! Nein danke.«

»Schlaumeier. Ich dachte an das Haus hinter eurem.«

»Was ist damit?«

»Na, das steht doch leer. Papa sagt, es hat schon immer leer gestanden, seit wir hierher gezogen sind.«

»Dann sollten wir es uns mal ansehen, schätze ich«, sagte Digory. Er ließ sich nicht anmerken, wie aufgeregt er war. Denn natürlich kamen ihm, euch wäre es nicht anders gegangen, alle möglichen Gründe in den Sinn, warum das Haus schon so lange leer stand. Polly ging es ähnlich. Keiner von beiden sprach das Wort »Spuk« aus. Und beide hatten das Gefühl, nachdem der Vorschlag einmal gemacht war, wäre es feige gewesen, ihn nicht in die Tat umzusetzen.

»Sollen wir gleich hingehen und es versuchen?«, fragte Digory.

»Gut«, sagte Polly.

»Du musst nicht, wenn du lieber nicht willst«, sagte Digory.

»Ich bin dabei, wenn du dabei bist«,...