Sharpes Rivalen - Historischer Roman

von: Bernard Cornwell

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838753782 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Sharpes Rivalen - Historischer Roman


 

KAPITEL 1


Wenn man bei Sonnenaufgang ein helles Pferd auf eine Meile Entfernung erkennen kann, heißt das, die Nacht ist vorbei. Späher dürfen sich nun entspannen, Wachbataillone abtreten, denn der Moment für einen Überraschungsangriff im Morgengrauen ist vorüber.

Nicht jedoch an diesem Morgen. Ein Grauschimmel wäre kaum auf einhundert Schritt zu erkennen gewesen, von einer Meile ganz zu schweigen, und die Dämmerung war von schmutzigem Kanonenrauch durchzogen, der von den Schneewolken farblich nicht zu unterscheiden war. Nur ein einziges Lebewesen regte sich im grauen Niemandsland zwischen den britischen und den französischen Linien, ein kleiner dunkler Vogel, der emsig durch den Schnee hüpfte. Captain Richard Sharpe beobachtete in seinen Mantel gehüllt den Vogel und wünschte sich, er würde davonfliegen. Beweg dich, du Halunke! Flieg! Er hasste den Aberglauben, den er nicht loswerden konnte. Er hatte den winzigen Vogel entdeckt, und plötzlich und unverhofft war ihm der Gedanke gekommen, dass der Tag einen bösen Ausgang nehmen müsse, wenn der Vogel nicht binnen dreißig Sekunden davonflog.

Er zählte. Neunzehn, zwanzig, und immer noch hüpfte der vermaledeite Vogel durch den Schnee. Er konnte nicht erkennen, welcher Gattung der Vogel angehörte. Sergeant Harper hätte natürlich Bescheid gewusst. Der hünenhafte Ire kannte alle Vögel, aber das Wissen, um was für einen Vogel es sich handelte, hätte ohnehin nicht geholfen. Beweg dich! Vierundzwanzig, fünfundzwanzig. Verzweifelt formte er rasch einen Schneeball und ließ ihn den Abhang hinunterrollen, sodass sich der kleine Vogel Sekunden vor Ablauf der Frist erschrocken aufschwang, hinein in den wabernden Rauch. Ein Mann musste eben manchmal seines eigenen Glückes Schmied sein.

Gott! Wie kalt es doch war! Den Franzosen machte das nichts aus. Sie saßen hinter den mächtigen Verteidigungsanlagen von Ciudad Rodrigo im Schutze der Häuser und wärmten sich an lodernden Kaminen, aber die britischen und portugiesischen Soldaten kampierten im Freien. Sie schliefen an großen Lagerfeuern, die in der Nacht verloschen, und tags zuvor hatte man bei Tagesanbruch vier portugiesische Wachtposten erfroren aufgefunden. Sie hatten mit am Boden festgefrorenen Mänteln am Ufer des Agueda gelegen. Man hatte sie in den Fluss geworfen, sodass die dünne Eisdecke brach, denn niemand war bei diesem Wetter bereit, Gräber auszuheben. Die Soldaten hatten genug vom Graben. Zwölf Tage lang hatten sie nichts anderes getan. Batterien, Stellungen, Schützengräben – am liebsten hätten sie nie mehr gegraben. Sie wollten kämpfen. Sie wollten mit ihren langen Bajonetten das Glacis, die flach ansteigende Erdaufschüttung vor dem Festungsgraben von Ciudad Rodrigo, erstürmen, wollten sich in die Bresche werfen, wollten die Franzosen vernichten und die Feuerstellen und Häuser für sich erobern. Sie sehnten sich nach Wärme.

Sharpe, Captain der Leichten Kompanie des Regiments South Essex, lag im Schnee und beobachtete durch sein Fernrohr die größte Bresche. Viel konnte er nicht erkennen. Selbst vom Hang aus, ganze fünfhundert Yards von der Stadt entfernt, verbarg das Glacis bis auf deren oberste Spitze fast die gesamte Stadtmauer von Ciudad Rodrigo. Er stellte fest, dass die britischen Kanonen einigen Schaden angerichtet hatten, und er wusste, dass sich Steine und Schutt in den unsichtbaren Graben ergossen haben mussten. Dadurch war eine provisorische Rampe von etwa dreißig Yards Breite entstanden, die die Angreifer zu erklimmen hatten, um ins Innere der Festungsstadt zu gelangen.

Er wünschte sich, jenseits der Bresche die Gassen am Fuße des zerschossenen Kirchturms dicht an der Mauer einsehen zu können. Sicher waren die Franzosen dort emsig dabei, neue Verteidigungsanlagen zu bauen und die zerstörten Kanonen zu ersetzen, sodass dem Angriff, wenn er über die Geröllhalde an der Bresche erfolgte, mit präzise geplantem Grauen, mit Feuer und Kartätschen und mit nächtlichem Tod begegnet werden konnte.

Sharpe hatte Angst.

Er schämte sich dieser seltsamen, nur ihm bekannten Tatsache. Er war sich nicht sicher, dass der Angriff an diesem Tag erfolgen würde, doch die Soldaten hatten das Gespür von Männern, die wussten, wann die Zeit reif war, und sie waren überzeugt, dass Wellington noch in dieser Nacht den Angriff einleiten würde.

Niemand wusste, welche Bataillone er dazu beordern würde, aber welchen Einheiten es auch bestimmt sein würde, die Attacke zu übernehmen, sie würden nicht die Ersten sein, die diese Bresche angingen. Das war eine Aufgabe, die ausschließlich für Freiwillige geeignet war, ein »Himmelfahrtskommando«, dessen selbstmörderische Pflicht darin bestand, das Feuer der Verteidiger auf sich zu ziehen, sie zu zwingen, dass sie ihre sorgsam vorbereiteten Fallen zuschnappen ließen. Sie mussten den Bataillonen, die ihnen folgten, einen blutigen Pfad ebnen.

Nicht viele der am Himmelfahrtskommando Beteiligten würden überleben. Der befehlshabende Lieutenant würde, wenn er noch lebte, auf der Stelle zum Captain ernannt werden und seine beiden Sergeants zu Ensigns. Die Versprechen auf Beförderung wurden leichten Herzens gegeben, da sie selten eingelöst werden mussten. Dennoch fehlte es nie an Freiwilligen.

Das Himmelfahrtskommando war etwas für die Tapferen. Diese Tapferkeit mochte aus Verzweiflung geboren sein oder aus Torheit, doch Tapferkeit war es in jedem Fall. Männer, die ein solches Unternehmen überlebten, waren fürs Leben gezeichnet. Sie waren berühmt bei ihren Kameraden, wurden von geringeren Männern beneidet. Nur die Schützenregimenter verliehen allen Überlebenden ein Abzeichen, einen Lorbeerkranz, der auf den Ärmel genäht wurde. Aber Sharpe ging es nicht um Auszeichnungen. Ihm ging es darum, eine Mutprobe zu bestehen, eine entscheidende Mutprobe, die beinahe mit Sicherheit den Tod brachte. Er hatte noch nie an einem Himmelfahrtskommando teilgenommen. Der Wunsch, es zu tun, war töricht, dessen war er sich bewusst, doch er war unleugbar vorhanden.

Und es war nicht die Mutprobe allein. Richard Sharpe war auf Beförderung aus. Er war mit sechzehn Jahren als einfacher Soldat in die Army eingetreten und hatte sich durch die Mannschaftsränge hochgedient, bis er Sergeant geworden war. Auf dem Schlachtfeld von Assaye hatte er Sir Arthur Wellesley das Leben gerettet und war mit dem Fernrohr und einem Offizierspatent belohnt worden. Ensign Sharpe, aufgestiegen aus der Gosse, aber nach wie vor ehrgeizig, musste immer noch Tag für Tag beweisen, dass er ein besserer Soldat war als die Söhne privilegierter Familien, die sich ihre Beförderung erkauften und mit ihrem Vermögen im Rücken mühelos aufstiegen.

Aus Ensign Sharpe wurde Lieutenant Sharpe, und in der neuen, dunkelgrünen Uniform der 95th Rifles hatte er sich durch Spanien und Portugal gekämpft – beim Rückzug von La Coruña, Rolica, Vimeiro, bei der Überquerung des Duero und in Talavera. Bei Talavera hatte er den französischen Adler erbeutet. Damals hatten Sergeant Harper und er sich inmitten eines feindlichen Regiments den Weg frei gehackt, hatten den Standartenträger niedergemacht und Wellesley die Trophäe überbracht. Der war zum Viscount Wellington of Talavera ernannt worden, und Sharpe hatte man kurz vor der Schlacht zum Captain befördert. Das hatte er sich am meisten gewünscht: Gelegenheit, seine eigene Kompanie zu befehligen. Doch seine Ernennung lag jetzt zweieinhalb Jahre zurück und war immer noch nicht bestätigt worden.

Er konnte es kaum glauben. Im Juli war er nach England heimgekehrt und hatte die letzten sechs Monate des Jahres 1811 damit verbracht, in London und den südenglischen Grafschaften Männer für das schrumpfende Regiment South Essex zu rekrutieren.

In London hatte man ihn gefeiert, der Patriotische Verein hatte ihm zu Ehren ein Festessen gegeben und ihm als Belohnung für die Eroberung des französischen Adlers einen Degen im Wert von fünfzig Guineen überreicht. Der Morning Chronicle hatte ihn den »narbenbedeckten Helden des Schlachtfeldes von Talavera« getauft, und plötzlich war, wenigstens ein paar Tage lang, jedermann darauf erpicht gewesen, den hoch gewachsenen, dunkelhaarigen Rifleman kennenzulernen und die Narbe zu sehen, die seinem Gesicht einen unnatürlich spöttischen Ausdruck verlieh.

Er hatte sich in der überdekorierten Weichlichkeit der Londoner Salons fehl am Platz gefühlt und hatte sein Unbehagen kaschiert, indem er sich schweigsamer Distanz befleißigte. Seine Zurückhaltung war von seinen Gastgeberinnen als gefährlich attraktiv empfunden worden. Sie hatten ihre Töchter ins obere Stockwerk verbannt und den Captain der Rifles für sich vereinnahmt.

Doch der Held des Schlachtfeldes von Talavera war dem Generalstab der Armee bei den Horse Guards nur zur Last gefallen. Es war ein Fehler gewesen, ein dummer Fehler, aber er hatte in Whitehall vorgesprochen und war dort in einen kahlen Warteraum geführt worden. Durch eine hohe, zerbrochene Fensterscheibe hatte er einige Tropfen herbstlichen Regens abbekommen, während er mit seinem mächtigen Kavalleriesäbel über den Knien da saß und ein pockennarbiger Mann aus der Schreibstube festzustellen versuchte, was aus seiner Ernennungsurkunde geworden war. Sharpe wollte einfach wissen, ob er tatsächlich Captain war, sanktioniert durch die Bestätigung der Horse Guards, oder nur ein Lieutenant mit geborgtem Rang. Der Schreiber hatte ihn drei Stunden warten lassen, war jedoch schließlich auf ihn zurückgekommen. »Sharpe? Mit ›e‹ am Ende?«

Sharpe hatte genickt. Um ihn herum hatte eine Schar auf halben Sold gesetzter Offiziere, die krank, lahm oder halb erblindet waren, neugierig zugehört. Sie waren alle auf der Suche nach einem Posten und hofften, dass Sharpe eine Enttäuschung erleben würde. Der Schreiber hatte Staub von...