Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben - Erinnerungen

von: Binyavanga Wainaina, Indra Wussow

Verlag Das Wunderhorn, 2013

ISBN: 9783884234549 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 16,99 EUR

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Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben - Erinnerungen


 

KAPITEL 1


Nachmittag. Wir spielen hinter dem Haupthaus Fußball, gleich bei der Wäscheleine. Jimmy, mein Bruder, ist elf und meine Schwester Ciru ist fünfeinhalb. Ich bin der Torwart.

Ich bin sieben und habe immer noch keine rechte Ahnung, warum anscheinend alle um mich herum wissen, was sie tun und warum sie es tun.

»Du bist nicht fett.« Das sagt Mum mir immer wieder. »Du bist pummelig.«

Ciru hat den Ball. Sie ist klein und schmal und goldig. Sie hat spitze Ellbogen und ein Lächeln so klar wie eine Bleistiftzeichnung. Ganz ebenmäßig gräbt es sich in ihre Wangen. Sie rennt auf Jimmy zu. Der ist groß und stark und dunkel.

Sie ist der Star ihrer Klasse. Wir haben 1978, und wir gehen alle drei in die Lena Moi Primary School. Ciru durfte letztes Trimester eine Klasse überspringen. Jetzt ist sie in Standard Two wie ich, im Klassenzimmer nebenan. Im ersten Trimester in Standard Two hat sie alle hinter sich gelassen und war Klassenbeste. Dabei ist sie die Jüngste. Alle anderen sind schon sieben.

Regungslos stehe ich zwischen den Metallstangen, die wir als Tor benutzen, und schaue zu, wie Ciru und Jim spielen. Stoßweise strömt mir der warme Atem aus den Nasenlöchern am Mund vorbei und teilt mir das Kinn. Ich kann das rosa leuchtende Fleisch meiner Lider sehen. Zufällige Geräusche dringen mir in die Ohren: Autos, Vögel, die Klingeln der Black Mambas, Kinderstimmen aus der Ferne, Hunde, Krähen und die Nachmittagsmusik des staatlichen Radiosenders. Kongo-Rumba. Vor unserem Grundstück unterhalten sich Leute in Sprachen, deren Klang ich kenne, von denen ich aber kein Wort verstehen oder gar sprechen kann, Luhya, Gikuyu.

Mein Lachen ist weit weg, tief in mir, wie bei einem Auto, das am Morgen nicht starten will, wenn der Zündschlüssel umgedreht wird. Es ist immer Ciru, die in der Schule die Beste ist, mit blauen und roten und gelben Sternchen auf jeder Seite. Immer ist es Ciru, die im weißen Kleid am Parents’ Day dem Ehrengast – Mr. Ben Methu – die Blumen überreichen darf. Wenn wir baden, spritzen und lachen und raufen wir und bald erfasst uns ein Tränenfieber oder ein Lachanfall.

Sie windet sich, den Ball vor den Füßen, um Jimmy herum und kommt auf mich zu. Ich bin bereit. Ich bin konzentriert und federe in den Knien. Ich warte auf den Ball. Jimmy rennt, um ihr den Ball abzunehmen; sie verkeilen sich und keuchen. Vor wenigen Augenblicken noch war die Sonne ein einziger gleißender Strahl. Jetzt ist sie in die Bäume gefallen. Im ganzen Garten toben tausend winzige Sonnen, blinzeln kugelförmig durch die Lücken im Laub und feuern tausende Strahlen ab. Die Strahlen fallen auf Äste und Blätter und zersplittern in zahllose kleinere vollkommene Sonnen.

Ich lache, als Ciru lacht, und in ihrem Lachen finde ich mich, und wir fallen hin und halten einander fest. Ich kann spüren, wie das Lachen in ihr anschwillt, noch bevor es aus ihr herausbricht, und da steigt es auch in mir hoch.

Ich weiß, wie ich mit ihren Launen umgehen muss, und ich weiß, wie ich mit Jimmys Launen umgehen muss. Meine Launen trampeln sich immer gegenseitig auf den Füßen herum, wenn ich unter Menschen bin. Sicher sind sie nur, wenn ich allein bin. Oder wenn ich in den Tag hineinträume.

Ciru lacht laut, ihr Mund ist weit offen und rot. Der Ton springt mich an, geflügelte Klangflächen, aber ich bin schon verloren. Arme und Beine und Ball sind vergessen. Die tausend Sonnen atmen. Sie atmen ein, legen sich matt und kühl zwischen die Blätter, und ich passe meine Atemzüge ihrem Rhythmus an; dann atmen sie aus und pusten Licht, das meinen Körper wärmt. Ich will mich schon völlig darin aufgehen lassen, als mir ein Gedanke kommt.

Die Sonne splittert gar nicht in Stücke.

Sie zersplittert nicht in körperlose Einzelteile, wenn sie in die Bäume und Dinge fällt. Jedes Sonnenstückchen bleibt immer eine vollständige kleine Sonne.

Ich fahre wieder in meine Arme und Beine und stehe im Tor und will Jimmy und Ciru die tausend Sonnen erklären. Ich bin ganz aufgeregt. Diesmal werden sie mir glauben. Ich werde nicht wie sonst oft als Dummkopf dastehen, wenn ich das sage und sie dastehen, mich ansehen, die Augen verdrehen und mir sagen, ich hätte nicht mehr alle Murmeln im Sack, Dassichdasnochmalsagensoll. Sie kommen näher. Jimmy schreit. Bevor ich wieder voll und ganz bei mir bin, platzt in meinem Ohr ein Loch auf. Der Ball trifft mich mitten ins Gesicht. Ich gehe zu Boden.

Toooor. Tausend Sonnen entladen sich in feuchtem Gelächter; sogar das Radio lacht. Ich schaue hoch und sehe, wie sie sich beide über mich beugen, schweißtropfend, die Hände in den Hüften.

Jimmy verdreht die Augen und sagt: »Du hast sie doch nicht mehr alle.«

»Ich hab Durst«, sagt Ciru.

»Ich auch«, meint Jim, und schon sind sie auf und davon, und ich will aufstehen und mit ihnen mitrennen. Mein Gesicht tut weh. Juma, unser Hund, leckt mir das Gesicht. Ich schmiege mich an seinen Bauch; meine Nase stupst in sein Fell. Die Sonne ruht unter den Bäumen, der Himmel ist klar, und ich bin nicht mehr zerteilt und in der Gegend verstreut. Ich rapple mich hoch und springe auf die Beine. Juma winselt wie ein jaulender Automotor. Ich pumpe meine Füße vorwärts, hole meine Stimme hervor und schwinge sie wie ein Lasso, um ihren Durst-Beschluss einzufangen.

»Hey!«, schreie ich. »Ich auch, ich hab auch Durst!«

Sie hören mich nicht.

Sie laufen nicht in Richtung Küche, und ich renne ihnen hinterher, mit Juma auf den Fersen, im Garten durch hohe Büschel aus ungemähtem Gras und kurve wie sie um Babas Traktoren herum, schlage Bogen, um Hundescheiße auszuweichen, renne im Kikuyu-Gras durch Schatten und abklingende Sonne, vorbei an kleinen Termitenhügeln und Haufen mit vergessenen landwirtschaftlichen Ersatzteilen, die sich hinter der Hecke stapeln, die das Wohnhaus von den Hütten der Hausangestellten trennt. Dann biegen sie ab und rufen Hi zu Zablon, dem Koch, der in weißem Unterhemd und blauen Hosen gerade Geschirr spült und nach Lifebuoy-Seife und Holzkohle riecht. Ich rufe auch Hi und kann jetzt ganz gut mit ihren Bewegungen mitfliegen. Sie halten kurz an und biegen dann auf unsere übliche Rennpiste von den Hütten der Hausangestellten hin zur Küche.

Dort hole ich sie ein. Juma stupst die Nase gegen Jims Beine, und ich sehe zu, wie sie aus Gläsern die kühle Flüssigkeit hinunterstürzen, sehe, wie es ihnen die Wangen und den Hals hinunterläuft. Jim hat gelernt, ein ganzes Glas Wasser in einem einzigen Zug auszutrinken. Es fließt die Speiseröhre hinab, Murmelbläschen, die durch eine weiche, durchscheinende Klangröhre rollen wie bei einem Frosch.

Er knallt das Glas auf den Tresen, rülpst, dreht sich um und sieht mich an.

Was ist Durst? Das Wort splittert in hundert kleine Sonnen. Ich hebe mein Glas und sehe hoch. Ciru schaut mich an. Auch ihr Glas ist schon leer, als sie sich mit dem Unterarm die Lippen abwischt.

Ich bin in meinem Zimmer. Allein. Vor mir steht ein Glas Wasser. Ich will versuchen, es so wie Jimmy hinunterzustürzen. Dieses Wort: Durst, durstig. Es steckt voller Entschlusskraft. Es treibt einen zu schnellem Handeln. Wörter, denke ich, müssen konkrete Dinge sein. Es kann doch nicht sein, dass sie nur deren Andeutungen sind, unscharfe Bilder: vereinzelte, wandelbare Wahrnehmungen?

Manchmal machen wir uns den Spaß und stibitzen Babas alte Golfbälle und werfen sie ins Feuer. Am Anfang rollen sie sich in einer Art Ekstase ein, als streichle man eine Katze. Dann beulen sie sich aus, beginnen zu blubbern und zu hüpfen, dann schießen sie wie Gewehrkugeln aus dem Feuer, gehäutet und frei. Unter der Haut befinden sich fest gewickelte Gummibänder, und die können wir jetzt ausrollen, und uns ansehen, wie die Bälle immer kleiner und kleiner werden, und die Gummibänder werden länger und länger, sodass es unmöglich scheint, dass sie aus diesem kleinen, harten Ball kommen.

Ich möchte so gewiss Durst haben wie Jimmy und Ciru.

In Wasser steckt mehr Form und Präsenz als in Luft, aber es ist eben farblos. Hast du erst einmal die Form des Wassers im Mund, entdeckst du deinen Körper. Weil Wasser rein ist. Es macht, dass du deinen Mund schmeckst, die Röhrenform deiner Kehle spürst und fühlst, wie dein Bauch zum Ball wird, wenn du trinkst.

Ich rülpse. Und reibe mir den Magen, weil es dort grummelt. Ich spiele mit dem Wasserhahn und mir fällt auf, dass das Wasser weiß wird, wenn man den Hahn voll aufdreht. Wasser hat Gestalt und Form und Richtung, wenn es mit Geschwindigkeit aus dem Hahn braust. Ich halte die Hand unter den Hahn und spüre, wie fest es ist.

Der Umriss eines Gedankens nimmt Gestalt an. Luft und Wasser und Glas. Wenn Wind sich schnell bewegt, gibt er der Luft Form; wenn Wasser sich schnell bewegt, nimmt es Form an. Vielleicht … Vielleicht...