Ist Gott ein Mathematiker? - Warum das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist

von: Mario Livio

Verlag C.H.Beck, 2012

ISBN: 9783406616600 , 366 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ist Gott ein Mathematiker? - Warum das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist


 

Kapitel 1


EIN MYSTERIUM


Vor einigen Jahren hatte ich eine Vorlesung an der Cornell University zu halten. Auf einer meiner PowerPoint-Folien prangte die Frage: «Ist Gott ein Mathematiker?» Kaum erschien sie auf der Leinwand, hörte ich einen Studenten in der ersten Reihe nach Luft schnappen: «Gott, ich hoffe nicht!»

Nun sollte meine rhetorische Frage aber weder meinen Zuhörern eine philosophische Definition von Gott aufnötigen, noch hatte ich vor, auf hinterhältige Weise Leute zu düpieren, die sich vor der Mathematik fürchten. Ich wollte lediglich die Sprache auf ein Mysterium bringen, das die Jahrhunderte hindurch einige der hellsten Köpfe beschäftigt hat – die offenkundige Allgegenwart und Allmacht der Mathematik. Beides sind Eigenschaften, die man in aller Regel mit einer Gottheit assoziiert, wie der britische Physiker James Jeans (1877–1946) einst sinnierte: «Das Universum scheint von einem Vollblutmathematiker entworfen.» Nicht nur zur Beschreibung und Erklärung des Kosmos im Großen, sondern auch im Zusammenhang mit den chaotischsten Unterfangen des Menschen scheint die Mathematik in beinahe übernatürlicher Weise tauglich zu sein.

Ob nun Physiker darangehen, Theorien des Universums zu formulieren, Marktanalysten sich den Kopf darüber zerbrechen, wann der nächste Börsenkrach zu erwarten ist, Neurobiologen Modelle für die Funktion von Gehirn und Nervensystem entwerfen oder Statistiker des militärischen Geheimdienstes Betriebsmittelzuweisungen zu optimieren versuchen – sie alle bedienen sich der Mathematik. Damit nicht genug, bedienen sie sich, auch wenn sie Formeln und Gesetze anwenden, die in verschiedenen Zweigen der Mathematik entwickelt wurden, doch alle derselben, auf der ganzen Welt einheitlichen Mathematik. Was ist es, das der Mathematik solch unglaubliche Macht verleiht? Oder, wie Einstein sich einst fragte: «Wie ist es möglich, dass die Mathematik, die doch ein von aller Erfahrung unabhängiges [die Kursivierung ist von mir] Produkt des menschlichen Denkens ist, auf die Gegenstände der Welt so vortrefflich passt?»

Derlei andächtiges Staunen ist nicht neu. Einige der Philosophen des antiken Griechenlands – allen voran Pythagoras und Platon – waren bereits voller Ehrfurcht für die der Mathematik augenscheinlich innewohnende Fähigkeit, das Universum nach ihren Regeln zu formen und zu lenken, obwohl sie offenbar jenseits aller menschlichen Macht, sie zu ändern, zu bestimmen oder zu beeinflussen, existiert. Der politische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) aus England konnte seine Bewunderung ebenfalls nicht verbergen. In seinem Leviathan, Hobbes’ ungemein eindrucksvollem Werk über das, was er als Grundlagen einer Gesellschaft und ihrer Regierung betrachtet, führt er die Geometrie als Lehrbeispiel für rationales Argumentieren an:

Weil nur die Wahrheit in der richtigen Zusammensetzung der Worte, womit wir etwas bejahen wollen, besteht, so muß der Wahrheitsfreund sich der Bedeutung seiner jeweiligen Worte bewusst sein und sie regelmäßig ordnen; sonst wird er sich ebenso verwickeln wie ein Vogel, der sich auf der Leimrute desto fester anklebt, je emsiger er sich davon losmachen will. Deshalb macht man in der Geometrie, die vielleicht die einzige gründliche Wissenschaft ist, den Anfang des Unterrichts damit, daß man die Bedeutung der dabei zu gebrauchenden Wörter genau bestimmt, das heißt mit anderen Worten: man schickt eine Definition voran.

Jahrtausende hochkarätiger mathematischer Forschungen und gelehrter philosophischer Spekulationen haben relativ wenig Licht in die rätselhafte allumfassende Erklärungsmacht von Mathematik zu bringen vermocht. Das Geheimnis ist eher noch ein Stück undurchdringlicher geworden. Der renommierte Mathematiker und Physiker Roger Penrose aus Oxford beispielsweise sieht darin inzwischen nicht mehr nur ein einfaches, sondern vielmehr ein dreifaches Mysterium. Penrose unterscheidet drei verschiedene «Welten»: die Welt unserer bewussten Wahrnehmung, die physikalische Welt und eine platonische Welt der mathematischen Formen. Die erste Welt ist die Heimat all unserer mentalen Bilder – wie wir die Gesichter unserer Kinder wahrnehmen, einen atemberaubenden Sonnenuntergang empfinden oder auf die entsetzlichen Bilder eines Krieges reagieren. Dies ist auch die Welt, in der Liebe, Eifersucht und Vorurteile ihren Sitz haben, ebenso unsere Wahrnehmung von Musik, des Geruchs von Essen und von Angst. Die zweite Welt ist jene, die wir normalerweise als physikalische Realität betrachten. Real vorhandene Blumen, Aspirin-Tabletten, weiße Wolken und Düsenflugzeuge haben ihren Platz in dieser Welt, dazu Galaxien, Planeten, Atome, Pavianherzen und menschliche Gehirne. Die platonische Welt der mathematischen Formen, die nach Penrose eine eigene, der physikalischen und mentalen Welt vergleichbare Realität besitzt, ist das Mutterland der Mathematik. Sie ist der Ort, an dem Sie die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, … antreffen, dazu all die Formen und Lehrsätze der euklidischen Geometrie, Newtons Bewegungsgesetze, die String- und die Katastrophentheorie sowie mathematische Modelle zur Beschreibung des Aktienmarktverhaltens. Und nun, so Penrose, kommen die drei Mysterien: Erstens: Die physikalische Welt scheint Gesetzen zu gehorchen, die eigentlich in der Welt der mathematischen Formen beheimatet sind. Das deckt sich mit dem, was schon Einstein so erstaunt hatte. Der Nobelpreisträger für Physik Eugene Wigner (1902–1995) war darüber nicht minder verblüfft:

Dass die mathematische Sprache in so wunderbarer Weise zur Formulierung von Gesetzen der Physik taugt, ist ein wunderbares Geschenk, das wir weder verstehen noch verdienen. Wir sollten dankbar dafür sein und hoffen, dass es uns auch für künftige Forschungen erhalten bleibt und dass es sich – auf Gedeih und Verderb, zu unserer Freude, ja, vielleicht auch zu unserem Erstaunen – auf viele Zweige des Lernens ausweiten wird.

Zweitens, das wahrnehmende Ich selbst – unser Geist, Sitz unserer bewussten Wahrnehmungen – hat es irgendwie fertiggebracht, der physikalischen Welt zu entfliehen. Wie entstand der Geist wirklich aus Materie? Ob wir je in der Lage sein werden, eine Theorie der Funktionsweise von Bewusstsein zu entwickeln, die so schlüssig und überzeugend ist wie, sagen wir, unsere gegenwärtige Theorie des Elektromagnetismus? Am Ende schließt sich der Kreis auf wundersame Weise, denn das wahrnehmende Bewusstsein ist aus geheimnisvollen Gründen imstande, Zugang zur mathematischen Welt zu erlangen, indem es einen Schatz an abstrakten mathematischen Formen und Konzepten entdeckt oder schafft und formuliert.

Penrose bietet für keines der drei Mysterien eine Erklärung, sondern stellt vielmehr lakonisch fest: «Es besteht kein Zweifel, dass es nicht drei Welten gibt, sondern nur eine, deren wahrhafte Beschaffenheit wir jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal erahnen können.» Ein Zugeständnis übrigens, das von deutlich mehr Bescheidenheit zeugt als die Antwort des Lehrers in Alan Bennetts Theaterstück Forty Years On auf eine ziemlich ähnliche Frage:

Foster: Ich habe immer noch eine etwas vage Vorstellung von der Dreifaltigkeit.

Lehrer: Drei in eins, eins in drei, ganz einfach. Wenn Sie irgendwelche Probleme damit haben, fragen Sie Ihren Mathelehrer.

Das Rätsel ist sogar noch ein bisschen vertrackter, als ich es eben dargestellt habe. Der große Erfolg der Mathematik bei der Erklärung der Welt um uns herum (ein Erfolg, den Wigner als geradezu «unbegreifliche Effizienz oder Erklärungsmacht der Mathematik» bezeichnet hatte) hat genau genommen zwei Seiten, eine erstaunlicher als die andere. Zuerst ist da ein Aspekt, den man als «den aktiven» bezeichnen könnte. Wenn Physiker durch das schummrige Labyrinth der Natur streifen, leuchten sie ihren Weg mit Hilfe der Mathematik aus – die Instrumente, die sie entwickeln und verwenden, die Modelle, die sie konstruieren, und die Erklärungen, die sie ersinnen, sie alle sind ihrem Wesen nach mathematischer Natur. Das ist offenkundig bereits ein Wunder für sich. Newton betrachtete einen fallenden Apfel, den Mond und die Gezeiten am Strand (bei denen ich mir übrigens nicht ganz sicher bin, dass er sie überhaupt zu sehen bekommen hat!) – keine Spur von mathematischen Gleichungen –, und trotzdem war er irgendwie imstande, aus all diesen natürlichen Phänomenen klare, schlüssige und unglaublich genaue mathematische Gesetze für das Wirken der Natur herzuleiten. Ganz ähnlich brauchte der schottische Physiker James Clark Maxwell (1831–1879) nur vier mathematische Gleichungen, als er das System der klassischen Physik auf alle in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts bekannten elektrischen und magnetischen Phänomene ausweitete. Lassen Sie sich das einen Augenblick lang auf der Zunge zergehen. Die Erklärung einer langen Reihe von Versuchsergebnissen zu Licht und Elektromagnetismus, die zu beschreiben zuvor Bände in Anspruch genommen hatte, wurde auf vier prägnante Formeln reduziert. Einsteins allgemeine Relativitätstheorie ist, was das betrifft, sogar noch erstaunlicher – sie ist das perfekte Beispiel für eine außerordentlich präzise, in sich stimmige mathematische...