Ein theatralisches Zeitalter - Bürgerliche Selbstinszenierungen von 1870 bis 1933

Ein theatralisches Zeitalter - Bürgerliche Selbstinszenierungen von 1870 bis 1933

von: Peter W. Marx

Narr Francke Attempto, 2008

ISBN: 9783772052200 , 421 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: DRM

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Preis: 24,00 EUR

Mehr zum Inhalt

Ein theatralisches Zeitalter - Bürgerliche Selbstinszenierungen von 1870 bis 1933


 

Wilhelm Tell – Sohn der Berge, Held aus der Mitte des Volkes (S. 57-58)


Einer Situation, wie der gegenwärtigen, entspricht nichts besser, als der ‚Tell’. Er enthält kaum eine Seite, gewiß keine Szene, die nicht völlig zwanglos auf die Gegenwart, auf unser Recht und unseren Kampf gedeutet werden könnte, und wir müssen uns des guten Taktes des Publikums freuen, das nicht stichwortbegierig mit seinem Beifall im Anschlag lag, sondern ihm nur Ausdruck gab, wo Schweigen ein Fehler der Affektion gewesen wäre. Theodor Fontane


Theodor Fontanes enthusiastische Aufnahme des „Wilhelm Tell“, die er 1870 weniger durch ästhetische Maßstäbe als durch die spezifische Aktualität oder die Fähigkeit zur Aktualität begründet, ist durchaus exemplarisch für die Aufnahme des Textes im späten 19. Jahrhundert. Seit der Uraufführung dieses letzten von Schiller vollendeten dramatischen Textes im Jahr 1804 in Weimar hatte er nicht nur einen festen Platz im Repertoire des deutschsprachigen Theaters gewonnen, er galt immer schon als ein Schnittpunkt zwischen Kunst und Politik. Von den Napoleonischen Kriegen, über die Reichsgründung 1871, die Begründung der Weimarer Republik bis hin zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft lassen sich die Spuren einer Rezeption dieses Textes finden, die ihn als ‚nationales Festspiel’ verstehen. Obgleich der Stoff selbst seit längerem bekannt und auch in verschiedenen Bearbeitungen auf der Bühne gespielt worden war, gewann er diese spezifische Wirkung erst durch die Schiller’sche Fassung.

Die von Schiller ausgehende Wirkungsgeschichte blieb nicht allein auf die Sphäre des Theaters beschränkt; sie griff auch auf andere Medien und Lebensbereich über: So findet sich etwa in der Malerei des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Tell-Ikonographie, die sich in der Auswahl ihrer Motive deutlich an Schiller orientierte. Neben regelmäßigen Freiluftaufführungen, auf die an anderer Stelle ausführlicher eingegangen werden soll, beeinflusste Schiller auch den aufkommenden Fremdenverkehr in der Schweiz. Mettler/ Lippuner zeigen anhand der ersten Baedeker-Ausgabe für die Schweiz von 1844 auf, wie Schiller als Quelle für die Beschreibung des Vierwaldstätter Sees verwandt wird.

Die Schilderungen, die dem Reisenden als Wegweiser seiner eigenen Erfahrungen dienen sollen, erzeugen eine Überblendung der unmittelbaren individuellen Erlebnisse mit den Strukturen und Prägungen des kanonischen Textes. Dadurch kann ein doppelter Effekt erzielt werden: Auf der einen Seite wird der Text in der Lebenswelt des Reisenden implementiert und durch die touristischen Erlebnisse als authentisch bezeugt – die Wahrhaftigkeit des Ortes steht (idealiter) für die Wahrheit des Mythos selbst –, auf der anderen Seite gewinnt die Reise eine weitere Bedeutungsebene, denn der Reisende selbst tritt (natürlich vollkommen ungefährdet und nur in seiner Fantasie) in die Fußstapfen der mythischen Figur. Die sich seinerzeit etablierende kulturelle Praxis des touristischen Reisens kann als paradigmatisches Beispiel für die zahlreichen Versuche angesehen werden, eine möglichst direkt erfahrbare Verbindung von Kanon und Lebenswelt herzustellen.