Schiffbruch und Glücksfall - Ein Bretagne-Roman

von: Andrea Schacht

Aufbau Verlag, 2012

ISBN: 9783841204011 , 204 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Schiffbruch und Glücksfall - Ein Bretagne-Roman


 

Im Angesicht des Todes


Mit einem abgrundtiefen Seufzer ließ Kelda den Rucksack von den Schultern gleiten und warf die Reisetasche neben dem Bett auf den Boden.

Ein richtiges Bett, breit, mit einem geschnitzten Kopfteil, einer weichen – na gut, zu weichen – Matratze und einer weißen, mit blauen Fischen bedruckten Decke. Viel besser als die schmale Pritsche in Matts Wohnmobil. Auch das Badezimmer, wenngleich im Stil des frühen zwanzigsten Jahrhunderts eingerichtet, war jetzt ihr Eigen – um Welten besser als die naturbelassenen Sanitäreinrichtungen in der Düne.

Sie trat zum Fenster und blickte zum Meer hinaus.

Bretagne – genauer Finistère. Noch genauer Brignogan. Noch einmal seufzte sie.

Glutrot versank die Sonne im Wasser – ein idyllischer Anblick, doch Kelda verursachte es noch immer ein Schaudern. Knapp, nur ganz knapp war sie vor einigen Stunden dem Tod durch Ertrinken entronnen. Die felsige Küste hier hieß nicht umsonst Côte des Naufrages – Küste der Schiffbrüche. Was Matt nicht als Warnung, sondern als Herausforderung betrachtet hatte. Er hatte sie zu einem Segelausflug überredet, besser gezwungen. Sicher war er ein geschickter Segler, Surfer und Kiteboarder, aber er war auch waghalsig und unbelehrbar.

Kurzum, das geliehene Boot geriet in eine der tückischen Strömungen vor den Felsen, kenterte, und nur durch die Hilfe eines beherzten Fischers wurden sie noch rechtzeitig aus dem Wasser gezogen, bevor sie die Brandung an den Felszacken zermalmte.

Matt lachte darüber.

Kelda nicht.

Er brüstete sich sogar damit vor der Surferclique, die sich unweigerlich um ihr Wohnmobil scharte, wo immer sie auftauchten.

Kelda packte währenddessen ihre Sachen zusammen und rief ihre Freundin Marie-Claude an, um ihr zu sagen, dass sie ihr Angebot annehmen würde und in das kleine Ferienhaus ziehen wollte. Weg von feuchten Handtüchern, nassen Neoprenanzügen, tropfenden Segeln, aufgewärmter Dosennahrung und lauwarmem Bier.

Weg von Matt.

Welche Konsequenz das nun haben würde, darüber wollte sie erst einmal nicht nachdenken.

Marie-Claude hatte sie abgeholt und zu diesem Häuschen am Ortsrand von Brignogan-Plage gebracht. Ein uraltes Gemäuer aus dem landestypischen grauen Stein, mit einem Schieferdach, auf dem sich allerlei gelbgrüne Flechten breitmachten. Die Tür und die Fensterläden waren dunkelblau gestrichen, doch blätterte die Farbe überall schon ab. Dafür aber rankte sich eine wunderschöne gelbe Rose üppig an den Mauern hoch und verströmte süßen Duft. Eine kleine Terrasse mit etwas morschen Planken belegt lud mit einem Grill und den obligatorischen weißen Plastikstühlen zum Verweilen ein, das Grundstück jedoch trotzte jeder gärtnerischen Verschönerung. Der Sandboden gab nichts als hartes Gras her.

Die Miete war erschwinglich, der Blick aus den kleinen Fenstern hinreißend.

Die Sonne war nun versunken und ließ einige Wolkenstreifen am Himmel aufglühen. Kelda wandte sich ab, holte sich einen Pullover aus der Tasche und ging die knarrenden Holzstiegen nach unten, wo sich der Wohnraum und eine altmodische Küche befanden. Marie-Claude war eine gute Freundin – und eine noch bessere Köchin. Sie hatte ihr einen Topf mit Suppe, Brot, Käse und eine Quiche in den Vorratsschrank gestellt. Eine Flasche Cidre stand ebenfalls bereit. Kelda richtete sich ihr Abendessen. Erst erwog sie, die Terrasse zu nutzen, aber vom Meer wehte ein kühler Wind heran, also setzte sie sich mit ihrem Mahl auf das breite Sofa vor dem Kamin, um es zu verzehren. Still war es hier, nur hin und wieder hörte man das Brummen eines Autos oder Motorrads auf der Küstenstraße, sonst blieben noch das Rauschen des Meeres und der Gesang eines unermüdlichen Abendvogels.

Kelda genoss die Ruhe. Sie war so ganz anders als auf dem Platz, wo das Wohnmobil stand. Das Meeresrauschen und der Vogelsang wurden leider dort von der Musik überdröhnt, zu der sich die Helden der Wellen lautstark mit ihren Taten brüsteten. Zumindest in Matts Umgebung war das immer so.

Es war dämmerig geworden, und aus der staubigen Deckenlampe sickerte sparsames Licht. Zum Lesen war es zu dunkel, ein Fernsehgerät gab es in diesem Haus nicht, und Radio mochte sie nicht hören. Also beschloss sie, sich auf dem plüschigen Sofa auszustrecken, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie nahm Teller und Bestecke, brachte sie in die Küche und goss sich noch einen Becher Cidre ein. Ihn stellte sie auf dem niedrigen Couchtisch ab und ließ sich schwungvoll auf das Sofa fallen.

Es gab einen Knacks, ein Knarren, ein empörtes Kreischen von Holz, und mit einem ungeheueren Krachen fuhr sie in die Tiefe.

 

Benommen schüttelte Kelda ihren Kopf. Das konnte nicht wahr sein, oder? Über ihr klaffte ein zackiges Loch, aus dem die Hälfte des roten Teppichs hing, auf dem das Sofa gestanden hatte. Die Deckenlampe schwankte leicht, und um sie herum tanzten Schatten. Vorsichtig fühlte sie in ihrem Körper nach. Tat etwas weh? Die linke Schulter schmerzte, die auf die Lehne geprallt war, das Steißbein ebenfalls, dessen Aufprall die marode Federung des Sofas nicht hatte dämpfen können, an ihrem Hinterkopf schien sich eine Beule zu entwickeln. Nichts aber blutete, und außer dass ihr Herz jagte und sie von dem aufgewirbelten Staub husten und niesen musste, war ihr nichts weiter passiert.

So weit, so gut.

Und jetzt?

Vorsichtig stand sie auf und besah das Trümmerfeld.

Dem Sofa ging es erheblich schlechter als ihr, stellte sie fest. Es hatte sich alle vier Beine gebrochen und lag wie ein gestrandetes Urtier auf dem festen, trockenen Steinboden. Zwei Meter waren sie beide hinabgestürzt. Nicht sehr tief, möchte man meinen, aber ohne Hilfsmittel kam sie nicht nach oben. Abgesehen davon schienen ihr die maroden Holzdielen, die den Boden bildeten, auch nicht vertrauenswürdig genug, daran ihre Klimmzüge versuchen zu wollen. Die Gefahr, dass der schwere Geschirrschrank bei einer solchen Übung ebenfalls über sie hereinbrechen würde, war ziemlich groß.

Aber aus einem Keller führte ja meist auch eine Treppe nach oben, vermutete Kelda. Also sollte sie sich nach einem Ausgang umschauen. Die Lampe oben hatte aufgehört zu pendeln und spendete ihr stetiges, wenn auch nicht eben helles Licht. Ihre Augen hatten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt, so dass sie ihr kleines Verlies genauer betrachten konnte. Ein rechteckiger Raum, die Wände an zwei Seiten aus dem Fels gehauen, die beiden anderen mit Mörtel verputzt – keine Tür, keine Treppe, kein Fenster. Nichts.

Das war seltsam. Ein Kellerraum ohne Zugang? Wozu sollte der gut sein?

Allerdings war an der Stelle, wo das Sofa gelandet war, der Putz von der Wand gebrochen. Sie zerrte an dem Möbel. Vielleicht war dahinter ein versteckter Ausgang. Man gab die Hoffnung ja nicht auf.

Einige Zentimeter hatte sie die Rückenlehne nach vorne bewegt, als weiterer Mörtel rieselte und einen Hohlraum freigab.

Kelda starrte drauf.

Der Bewohner starrte hohläugig zurück, und in dem trüben Lampenlicht entzückten zwei Goldzähne in seinem grausigen Grinsen, das er trotz des offensichtlichen Lochs in seiner Stirn beibehalten hatte.

L’Ankou, wie die Bretonen den Tod nannten, war in ihr Leben getreten.

Immerhin, das Skelett schien nicht neueren Datums zu sein, und vermutlich erklärte es die Tatsache, dass der Keller des Hauses nicht jedermann zugänglich war.

Kelda hatte sich inzwischen wieder soweit gefasst, dass sie konstruktive Überlegungen zu ihrer Situation anstellen konnte. Dieser Urlaub bot interessante Aspekte.

Ihre Uhr zeigte ihr, dass es auf Mitternacht zuging – mit einem leicht hysterischen Kichern verscheuchte sie den Gedanken an die Geisterstunde. Sie hatte ein reichliches Abendessen zu sich genommen, ein einigermaßen bequemes Sofa, um darauf zu liegen, etwas Beleuchtung und schweigsame Gesellschaft. Morgen um neun würde der Besitzer des Hauses vorbeikommen, um den Mietvertrag mit ihr abzuschließen. Das war der passende Zeitpunkt, um ihn – wenn nötig schreiend – um Hilfe zu bitten, beschloss sie. Jetzt wäre es nur Atemverschwendung und würde ihre Stimmbänder ramponieren.

Also setzte sie sich wieder auf das Sofa und tat das, was sie sich sowieso vorgenommen hatte: Sie dachte über ihre Situation – speziell ihr Liebesleben nach.

Angesichts des Todes – der Unbekannte hatte ein seltsam bannendes Grinsen – gestand sie sich ein, dass sie Schiffbruch erlitten hatte.

Kelda war zweiunddreißig, Matt ein Jahr jünger. Vor sechs Jahren hatte sie ihn kennengelernt – sie hatte gerade eine Stelle als Dolmetscherin für Französisch und Italienisch angenommen, Matt studierte noch. Sport, was sonst? Über seine Leidenschaft für das Surfen waren sie sich nähergekommen, und bei dieser Leidenschaft blieb es nicht. Daneben faszinierte sie auch seine Abenteuerlust, alleine hätte sie nie solche Reisen unternommen, nie solche Gestade kennengelernt, nie unter derart unmöglichen Bedingungen Urlaub gemacht wie mit ihm zusammen. Anfangs machte ihr diese Lagerfeuerromantik Spaß. Dann verlor es sich ein wenig, und als sie darum bat, endlich einmal mehr von einem Land zu erkunden als nur den Strand, stieß sie bei Matt auf Unverständnis. Nach langen Diskussionen hatten sie sich für diesen Sommerurlaub darauf geeinigt, einen zivilisierten Küstenabschnitt aufzusuchen, und Kelda hatte die Côte des Naufrages durchgesetzt, um mit der Reise einen Besuch bei ihrer Freundin Marie-Claude zu verbinden.

In ihrem Auslandsjahr, das sie während ihres Studiums in Nantes verbracht hatte, war Kelda ihr begegnet. Marie-Claude war ein paar Jahre älter und Köchin in einem...