Die Kakerlake

von: Ian McEwan

Diogenes, 2019

ISBN: 9783257610345 , 144 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Kakerlake


 

Eins


Als Jim Sams, klug, doch beileibe nicht tiefgründig, an diesem Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in eine ungeheure Kreatur verwandelt. Eine Weile blieb er auf dem Rücken liegen (nicht gerade seine bevorzugte Stellung) und betrachtete verwundert die fernen Füße, die wenigen Gliedmaßen. Bloß vier, natürlich, und zudem recht unbeweglich. Mit seinen eigenen dünnen braunen Beinen, an die er sehnsüchtig zurückdachte, hätte er, wie hilf‌los auch immer, lustig in der Luft gezappelt. Nun aber lag er bloß da, fest entschlossen, nicht in Panik zu geraten. Ein Organ, ein glitschiger Fleischlappen, lag plump und feucht in seinem Mund – ekelhaft, besonders, als es sich eigenständig bewegte, um die riesige Mundhöhle zu erkunden, und – wie er mit stummem Entsetzen registrierte – über eine unermessliche Anzahl von Zähnen glitt. Er starrte an seinem Körper herab. Farblich war er von den Schultern bis zu den Fußknöcheln blassblau, mit dunkelblauen Querstreifen an Hals und Handgelenken und weißen Knöpfen in vertikaler Reihe über seinem nicht segmentierten Brustkorb. Der leichte, stoßweise darüber hinwegstreichende Hauch, der auf nicht unangenehme Weise nach halb verdautem Essen und gebranntem Korn roch, war wohl sein Atem. Sein Sichtfeld war unzweckmäßig eingeschränkt – ach, hätte er nur wieder Facettenaugen –, und alles, was er sah, erdrückend bunt. Allmählich begann er zu begreifen, dass sein verletzliches Fleisch in einer grotesken Umkehrung außen am Skelett lag, weshalb Letzteres für ihn völlig unsichtbar blieb. Dabei wäre der Anblick des vertrauten, perlmuttschimmernden Brauns ein solcher Trost gewesen.

All dies war schon besorgniserregend genug, doch als er nun wacher wurde, fiel ihm wieder ein, dass er eine wichtige, einsame Mission hatte, auch wenn er im Moment nicht mehr wusste, welche das war. Ich komme zu spät, dachte er, als er versuchte, seinen Kopf, der bestimmt an die fünf Kilo wog, vom Kissen zu heben. Das ist so unfair, sagte er sich. Das habe ich nicht verdient. Seine bruchstückhaften Träume waren tief und verrückt gewesen, voller heiserer, widerhallender, sich unablässig streitender Stimmen. Erst jetzt, da sein Kopf wieder zurücksank, begann er, das Gespinst des Schlafs abzustreifen und ein Mosaik an Erinnerungen, Eindrücken und Absichten zusammenzusetzen, das sich jedoch verflüchtigte, sobald er es festzuhalten versuchte.

Ja, er hatte den angenehm modrigen Palace of Westminster ohne jeden Abschied verlassen. So musste es sein. Geheimhaltung war entscheidend. Das brauchte man ihm nicht zu sagen. Doch wann genau war er aufgebrochen? Bestimmt nach Einsetzen der Dunkelheit. Gestern Abend? Vorgestern Abend? Er war vermutlich durch die Tiefgarage gelaufen, vorbei an den blankpolierten Stiefeln des Polizisten am Ausgang. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Eilig war er dem Rinnstein gefolgt, bis er die furchterregende Kreuzung am Parliament Square erreichte. Vor einer Reihe haltender Fahrzeuge, die es kaum erwarten konnten, ihn auf dem Asphalt zu zermalmen, flitzte er hinüber zur Regenrinne auf der anderen Seite. Danach hatte es, wie ihm schien, eine Woche gedauert, bis er eine zweite furchterregende Straße überquerte, um auf die richtige Seite von Whitehall zu gelangen. Und dann? Sicher war er viele Meter gesprintet und schließlich stehen geblieben. Warum? Langsam fiel es ihm wieder ein. Aus jeder Trachee seines Körpers keuchend, hatte er vor einem einladenden Gully Halt gemacht, um von einem fallen gelassenen Stück Pizza zu kosten. Ganz aufessen konnte er es nicht, gab sich aber größte Mühe. Er hatte Glück, es war eine Margherita, seine zweitliebste Sorte. Keine Oliven. Jedenfalls nicht auf diesem Stück.

Den unhandlichen Kopf konnte er, wie er jetzt merkte, mühelos um 180 Grad wenden. Also drehte er ihn zur Seite. Die Mansarde war klein, unangenehm hell von der Morgensonne, denn man hatte die Vorhänge nicht zugezogen. An seinem Bett lag ein Telefon, nein, zwei. Sein eingeschränkter Blick wanderte über den Teppich und blieb an der Fußleiste hängen, an dem schmalen Schlitz am unteren Rand. Da drunter, dachte er bekümmert, hätte ich mich vor dem Morgenlicht verkriechen und glücklich sein können. Am anderen Ende des Zimmers stand ein Sofa und daneben, auf einem niedrigen Tisch, ein Kristalltumbler und eine leere Flasche Scotch. Über dem Sessel lagen ein Anzug und ein frisches, gefaltetes Hemd. Auf dem größeren Tisch beim Fenster entdeckte er zwei Ablageboxen, übereinandergestapelt, beide rot.

Inzwischen konnte er auch die Augen einigermaßen bewegen, nachdem er einmal festgestellt hatte, dass sie ohne sein Zutun geschmeidig im Einklang hin und her schwenkten. Und er fand heraus, dass es bequemer war, die Zunge im trief‌feuchten Mundkerker zu verwahren, statt sie einfach über die Lippen hängen zu lassen, so dass es hin und wieder auf seine Brust tropf‌te. Grässlich. Allmählich bekam er ein Gefühl dafür, wie sich seine neue Gestalt steuern ließ. Er lernte schnell. Sorge machte ihm nur, dass er an die Arbeit musste. Wichtige Entscheidungen warteten auf ihn. Eine plötzliche Bewegung am Boden erregte seine Aufmerksamkeit. Ein kleines Geschöpf in seiner früheren Gestalt, zweifellos der verdrängte Besitzer des Körpers, den er jetzt innehatte. Mit einem gewissen Beschützerinstinkt verfolgte er, wie das winzige Ding sich über die Teppichfasern in Richtung Tür quälte. Dort zögerte es, und die Doppelantenne seiner Fühler wedelte unsicher, mit all der Unbeholfenheit eines Anfängers. Endlich fasste der Winzling Mut und krabbelte unter der Tür durch, um sich an den schwierigen, gefährlichen Abstieg zu machen. Der Weg zurück zum Westminster-Palast war lang, und unterwegs lauerten viele Gefahren. Doch falls er es dorthin schaffte, ohne zertrampelt zu werden, würde er hinter den Palastpaneelen und unter den Bodendielen Sicherheit und Trost finden, in Gesellschaft von Abermillionen seinesgleichen. Jim wünschte ihm Glück. Jetzt aber musste er sich um seine eigenen Probleme kümmern.

Und doch rührte er keinen Muskel. Nichts ergab einen Sinn, jede Bewegung blieb zwecklos, solange er den Weg, die Ereignisse nicht rekonstruieren konnte, die ihn in dieses fremde Schlafzimmer geführt hatten. Nach der unverhofften Mahlzeit war er weitergehuscht, des Trubels über ihm kaum bewusst, ganz konzentriert auf seinen Weg im Schatten des Rinnsteins, doch wie lange, wie weit er gelaufen war, das war seinem Gedächtnis entfallen. Immerhin wusste er noch genau, dass irgendwann ein vor ihm aufragendes Hindernis den Weg versperrt hatte, ein kleiner Dungberg, leicht dampfend und noch warm. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er sich maßlos gefreut, hielt er sich doch für einen Connaisseur und kannte das gute Leben. Diese Hinterlassenschaft konnte er jedenfalls sofort zuordnen, unverkennbar das nussige Aroma mit einem Hauch Diesel, einer Spur Bananenschale und Sattelseife. Die Horse Guards! Welch ein Fehler aber, zwischen den Mahlzeiten gegessen zu haben. Nach der Margherita hatte er keinerlei Appetit mehr auf Exkremente, wie frisch und exquisit auch immer, und so erschöpft, wie er inzwischen war, hatte er auch wenig Lust, über den riesigen Haufen zu kraxeln. Er duckte sich im Schatten des Bergs, auf dessen weichen Ausläufern, und ging alle Möglichkeiten durch. Nach kurzem Nachdenken war ihm klar, was er zu tun hatte. Er würde die vertikale Granitwand des Bordsteins hinaufsteigen, den Haufen umgehen und sich auf der anderen Seite wieder an den Abstieg machen.

Jetzt, in dem Mansardenzimmer liegend, schien ihm, dass dies der Moment gewesen war, da ihn sein freier Wille oder doch die Illusion desselben verlassen hatte und er unter den Einfluss und die Lenkung einer größeren Macht geraten war. Mit dem Aufstieg zum Bürgersteig hatte er sich dem kollektiven Geist überantwortet. Er war nur noch ein winziges Element in einem Plan von einer Größenordnung, die kein einzelnes Individuum zu erfassen vermochte.

Als er sich endlich den Rand des Rinnsteins hinaufwuchtete, bemerkte er, dass die Pferdeäpfel über fast ein Drittel des Bürgersteigs verstreut lagen. Dann kam wie aus dem Nichts ein plötzliches Sturmgebraus auf, begleitet vom Donner zehntausender Füße, dazu Sprechchöre und Glocken, Trillerpfeifen und Trompeten. Schon wieder eine wilde Demo. So spät am Abend. Pöbelnde Leute, die Krawall machten, wo sie längst zu Hause sein sollten. Neuerdings fanden solche Proteste fast jede Woche statt. Störten die Grundversorgung, hinderten gewöhnliche, anständige Leute daran, ihren rechtmäßigen Geschäften nachzugehen. Er erstarrte auf dem Bordstein, rechnete jeden Moment damit, zerquetscht zu werden. Schuhsohlen, fünfzehnmal so groß wie er selbst, krachten nur Zentimeter von ihm entfernt nieder und ließen seine Fühler und den Bürgersteig erzittern. Welch ein Glück für ihn, dass er sich, schon ganz schicksalsergeben, auf einmal entschloss, den Blick zu heben. Er war zum Sterben bereit. Genau da aber erspähte er eine Gelegenheit – eine Lücke im Protestzug. Bis zur nächsten Demonstrantenwelle waren es fast fünfzig Meter. Er sah die flatternden Transparente, die heranrückenden Fahnen, gelbe Sterne auf blauem Grund. Auch Union Jacks. In seinem ganzen Leben war er noch nie so flink gekrabbelt. Durch alle Tracheen seiner Körpersegmente nach Luft japsend, erreichte er gerade noch ein wuchtiges Eisentor auf der anderen Seite, als sie auch schon herandonnerten mit ohrenbetäubendem Getrampel und nun auch Buhrufen und hektischen Trommelschlägen. Von Empörung und Todesangst gepackt, einer nicht gerade hilfreichen Mischung, huschte er über den...